Russland und der Krieg gegen den Irak

Von Wladimir Wolkow
5. März 2003
aus dem Englischen (20. Februar 2003)

Der Krieg gegen den Irak, der in erster Linie von der amerikanischen Bush-Regierung vorangetrieben und von der britischen Regierung unter Tony Blair unterstützt wird, beginnt vermutlich in den nächsten Wochen, vielleicht schon in wenigen Tagen. Nachdem er als ein Akt nackter neokolonialer Aggression gegen ein schwaches und beinahe wehrloses Land begonnen hat, wird er unvermeidlich eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die weitreichende Veränderungen in den politischen und sozialen Beziehungen auf der gesamten Welt auslösen werden.

Die Aggression gegen den Irak wird eine Periode des eskalierenden Militarismus eröffnen, der im Wesentlichen eine globale Neuaufteilung der Einfluss- und Kontrollsphären zum Inhalt hat. Dieser Ausbruch imperialistischer Gewalt wird die Welt mit einem Flächenbrand bedrohen, der in seinen Ausmaßen die Katastrophen des 20. Jahrhunderts noch übertreffen kann.

Russland wird aufgrund der Lage seines Landes und seiner enormen natürlichen Ressourcen nicht von diesen Ereignissen isoliert bleiben. Diese werden einen unmittelbaren Einfluss auf die Stimmung und die Haltung der derzeitigen russischen Elite ausüben. Aber noch wichtiger ist, dass sie ein Umdenken in Bezug auf viele wichtige politische und historische Fragen unter großen Schichten der russischen Gesellschaft hervorrufen werden.

Um den Charakter und die Tiefe dieser Veränderung näher herauszuarbeiten, ist es notwendig, noch einmal auf das allgemeine Wesen des kommenden Krieges, seine gesellschaftlichen Wurzeln und seinen Platz in der modernen Weltgeschichte einzugehen.

Ein Krieg zur Neuaufteilung der Welt

Die amerikanischen Massenmedien stellen den Krieg gegen den Irak so dar, als handele es sich um einen Akt der präventiven Selbstverteidigung gegen einen Feind, der die Grundfesten der Weltzivilisation bedroht, und einen Versuch, die Diktatur Saddam Husseins zu stürzen und ein demokratisches Regime im Irak einzuführen. Dennoch versteht eine wachsende Zahl von Menschen auf der ganzen Welt, dass dieser Krieg in erster Linie geführt wird, um die Ölquellen des Mittleren Ostens zu erobern.

Öl ist jedoch nur ein Faktor bei der kommenden Aggression. Die strategischen Kalkulationen der herrschenden Elite Amerikas gehen über das Öl hinaus und betrachten die Unterwerfung des Irak als Schritt auf dem Weg zur Welthegemonie. Anders gesagt: Die Bush-Regierung will die Welt im Interesse des amerikanischen Kapitals politisch und wirtschaftlich reorganisieren.

Nicht nur vergleichsweise unterentwickelte Staaten wie der Irak sondern auch die wichtigsten Konkurrenten der Vereinigten Staaten in Europa und Asien (wie Japan und China) sollen dem Willen der amerikanischen Elite in Politik und Wirtschaft unterworfen werden. Russland, das über das weltweit zweitgrößte Arsenal an Atomwaffen verfügt, enorme natürliche Ressourcen hat und dessen Wirtschaft sich in einer akuten Krise befindet, steht ebenfalls oben auf der Liste möglicher Opfer dieses globalen imperialistischen "Willens zur Macht".

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Ausbruch des amerikanischen Imperialismus nicht dem Größenwahnsinn eines Individuums oder der kranken Fantasie der Machthaber in Washington entspringt. Die Gründe liegen in den grundlegenden Widersprüchen des kapitalistischen Systems auf Weltebene und der Unfähigkeit des Kapitalismus, seine Widersprüche auf friedliche und konfliktfreie Weise zu überwinden. Die derzeitigen Produktivkräfte der Welt können nicht länger in den Rahmen des Nationalstaatensystems und die ökonomischen Beziehungen des Privateigentums gezwängt werden, die nach Marx das Gerüst der kapitalistischen Gesellschaft darstellen.

Diese Widersprüche haben sich nicht erst in jüngster Zeit enorm verschärft, sondern zeigten sich bereits vor mindestens hundert Jahren. Der unlösbare Konflikt zwischen dem grundlegenden gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung unter dem Kapitalismus hat im 20. Jahrhundert bereits zwei Mal, in den Jahren 1914 und 1939, schreckliche Weltkriege ausgelöst.

Beide Gemetzel leiteten eine weltweit Neuordnung aller ökonomischen und politischen Beziehungen ein, und die Vereinigten Staaten spielten beide Male eine führende Rolle dabei. Die Geschichte wies den Vereinigten Staaten eine stabilisierende Rolle innerhalb des Kapitalismus zu, und obwohl sie in erster Linie ihre eigenen räuberischen Interessen verfolgten, waren sie in der Lage, ihren unterlegenden ehemaligen Feinden in Europa und Asien dabei zu helfen, ihre sozioökonomische und politische Position innerhalb des internationalen Mächtegleichgewichts wieder zu erlangen.[1]

Heute planen die Vereinigten Staaten eine weitere solche Neuordnung. Aber ihre Rolle hat sich geändert. Heute ist Amerika weder Garant noch Rettungsanker des Weltkapitalismus, sondern verkörpert das Zentrum der internationalen Krise. Heute sind die Vereinigten Staaten eine Macht, die aktiv das alte Gleichgewicht zerstört. Eine Neuordnung im Geiste einer Pax Americana hat keine "friedliche Koexistenz" einiger imperialistischer Rivalen zur Voraussetzung, sondern deren vollständige Unterwerfung unter den Willen und die Interessen einer einzigen Macht. Dieses Ziel muss erbitterten Widerstand und eine Reihe von zerstörerischen und blutigen Konflikten hervorrufen.

Der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Europa

Der aktive Widerstand der deutschen und französischen Regierung gegen die militärischen Pläne der Vereinigten Staaten kommt daher nicht überraschend. Dieser Widerstand droht bereits einige der wichtigsten Strukturen der Nachkriegsordnung, unter anderem die NATO, zum Zusammenbruch zu bringen.

Die europäischen Regierungen werden von zweierlei Sorgen getrieben. Einerseits fürchten sie, dass ein amerikanischer Erfolg bei der Unterwerfung des Irak schnell ihre eigene geopolitische Stellung schwächen und sie gegenüber den Vereinigten Staaten viel wehrloser machen wird, insbesondere in Bezug auf ihre Energiequellen. Andererseits haben sie Angst vor dem wachsenden sozialen Protest von unten - der breiten, arbeitenden Bevölkerungsschichten in ihren eigenen Ländern. Dieser Protest beginnt als Opposition gegen den Krieg und wird sich im Bewusstsein der Bevölkerung unvermeidlich mit der Zurückweisung der Wirtschaftspolitik in diesen Staaten verbinden, die sich kaum von den Maßnahmen der Regierung in Washington unterscheidet.

Um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer kapitalistischen Konzerne zu erhöhen, bemühen sich die europäischen Regierungen um den Abbau der verbliebenen sozialen Reformen und demokratischen Rechte, die sich die europäische Arbeiterklasse über viele Jahrzehnte hinweg erkämpft hatte.

Die europäischen Eliten, welche die amerikanischen Kriegsvorbereitungen am schärfsten kritisieren, stecken in einem unlösbaren Dilemma. Sie können den Machtwillen der Vereinigten Staaten nicht still hinnehmen, weil sie das in eine Art amerikanisches Protektorat verwandeln würde. Noch können sie eine wirkliche Opposition gegen den Krieg entwickeln, denn dies würde die Grundlagen ihrer eigenen sozioökonomischen und politischen Herrschaft in Frage stellen.

Das ist der Grund, warum die Opposition gegen den Irakkrieg von Seiten der europäischen Parteien und Regierungen solch einen beschränkten, zweideutigen und heuchlerischen Charakter hat. Während sie die Notwendigkeit für einen Krieg zu diesem Zeitpunkt ablehnen, akzeptieren sie die amerikanischen Kriegsziele als legitim und gerechtfertigt. Niemand spricht offen über die Ziele des Krieges. Alle von ihnen stützen den Mythos, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitze, und legitimieren dadurch Washingtons Kriegspläne.

Wie stellt sich die Position der russischen Regierung unter Wladimir Putin in diesem Zusammenhang dar? Sie ist sogar noch halbherziger als die der Europäer. Während sie die Notwendigkeit einer direkten militärischen Einmischung in irakische Angelegenheiten ablehnt, stellt sie noch nicht einmal die widerlichsten Behauptungen und Argumente in Frage, die von der amerikanischen Regierung angeführt und von den Massenmedien wiedergekaut werden, um einen Vorwand für die Aggression zu schaffen.

Während Moskau seine Solidarität mit Deutschland und Frankreich in der Irakfrage erklärt, tut es gleichzeitig alles, um das Vertrauen ihres Hauptpartners auf der anderen Seite des Atlantiks zu erhalten. Putin will die "strategische Wahl" einer langfristigen Allianz mit Amerika nicht in Frage stellen, die nach dem 11. September 2001 verkündet wurde. Er handelt als Pragmatiker, der mit beiden Seiten verhandelt und herauszufinden versucht, wer ihm mehr zahlt. Die russischen Medien porträtieren dieses Schwanzwedeln als eine besondere Form der Weisheit, aber tatsächlich steckt nichts weiter dahinter als die Unterwürfigkeit eines Lakaien.

Die UdSSR und der Weltimperialismus

Putins Politik des prinzipienlosen Manövrierens, bar jeder klaren und unabhängigen strategischen Ziele, entspringt dem Wesen des Regimes, das in Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahre 1991 etabliert wurde. Das neue Regime entstand mit der direkten Hilfestellung der führenden imperialistischen Mächte, die die Sowjetunion als Hindernis für die direkte Kontrolle über die bedeutenden natürlichen, menschlichen und technischen Ressourcen im Inneren Eurasiens betrachteten.

Die Sowjetunion entstand aus der Oktoberrevolution, einem der bedeutendsten Ereignisse in der Weltgeschichte. Ihrem objektiven Charakter nach international, hatte sie auf den Ruinen der zaristischen Autokratie eine Arbeiter- und Bauernregierung errichtet und forderte die Weltherrschaft des Kapitals heraus.

Trotz ihrer nachfolgenden Isolation und Degeneration unter dem Druck der ökonomischen Rückständigkeit, verlor das Sowjetregime nicht die größte Errungenschaft des Oktobers 1917 - die verstaatlichten Eigentumsbeziehungen. Ungeachtet des totalitären Charakters ihrer Macht, schreckte die privilegierte stalinistische Bürokratie, die aus den Widersprüchen der sowjetischen Wirtschaft entstand und zur Verkörperung der nationalistischen Reaktion wurde, über viele Jahrzehnte hinweg davor zurück, die grundlegenden sozialen Errungenschaften des russischen Proletariats anzugreifen.

Trotzki bezeichnete den Stalinismus zu Recht als "Geschwür" am Arbeiterstaat und Agenten des Weltkapitalismus. Dennoch war der Impetus der Revolution so stark, dass die Bürokratie über lange Zeit hinweg gezwungen war, sich den hegemonialen Ansprüchen des Weltimperialismus zu widersetzen und die sozialen Grundlagen der UdSSR zu verteidigen, auch wenn sie dies mit ihren eigenen kriminellen und destruktiven Methoden tat. Erst nachdem sich eine neue und spezifische Wechselbeziehung historischer Bedingungen entwickelt hatte, warf die stalinistische Bürokratie alle bisherigen Ansprüche, sie baue den "Sozialismus" auf, über Bord und entschloss sich dazu, vollständig auf die Seite des Weltimperialismus überzuwechseln und sich ihm als direktes Werkzeug und Juniorpartner anzubieten.[2]

Die elf Jahre seit der Auflösung der UdSSR haben das zutiefst zerstörerische Wesen dieses Prozesses deutlich gemacht, das sich in einer gewaltigen Rückentwicklung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich zeigte - einem Rückschritt, wie er in Friedenszeiten zuvor noch nie erlebt wurde. Die Regierungen von Gorbatschow, Jelzin und Putin erreichten, was die Invasion der Nazis nicht geschafft hatte: Sie beseitigten die gesellschaftlichen Beziehungen, welche die Revolution im Jahre 1917 geschaffen hatte, und unterwarfen die ehemalige Sowjetwirtschaft den Diktaten des kapitalistischen Weltmarktes.

Indem sie "Macht gegen Eigentum" tauschte, hat sich die ehemalige Bürokratie erfolgreich als Herrenkaste neu erschaffen.[3] Aber die historischen Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Transformation lassen ihr wenig Raum für Manöver: Die neue herrschende Elite ist ein machtloser Satellit der globalen Finanzoligarchie und der führenden imperialistischen Staaten. Ihre eigene ökonomische Position ist so schwach und abhängig von den Launen des Weltmarktes, dass sich für Russland das "europäische Dilemma" als noch schwerer zu handhaben darstellt als für die etablierten europäischen Großmächte.

Zum einen hat die neue russische Bourgeoisie die traditionellen, historisch entstandenen geopolitischen Einflusssphären "Großrusslands" geerbt. Sie hat eigene ökonomische Interessen, die jetzt bedroht sind.

Andererseits verfügt sie praktisch über keine Aktivposten, mit denen sie der nackten Aggressivität der führenden imperialistischen Macht, der Vereinigten Staaten, entgegentreten könnte. Die russische Elite kann noch nicht einmal nach deutschem oder französischem Vorbild auf die Karte des Antiamerikanismus setzen.

Unter den Bedingungen der weit verbreiteten Armut in Russland, der frischen Erinnerung an die Sowjetvergangenheit, als die Masse der Bevölkerung ein besseres Auskommen hatte, und der schwachen, aber noch vorhandenen historischen Erinnerung an die Revolution würde ein solcher Antiamerikanismus unvermeidlich den Charakter einer spontanen antikapitalistischen Haltung annehmen, die für das Regime gefährlich ist. Die russische Bourgeoisie kann nur zu Nationalismus und Chauvinismus Zuflucht nehmen. Aber selbst dieses alterprobte reaktionäre Mittel wird vom Kreml nur so weit unterstützt, als der Westen es zur Sicherung seiner eigenen Interessen in Russland nützlich findet.

Welche Pose der Opposition gegen den Krieg die Putin-Regierung auch immer einnimmt, es findet sich keine Spur einer prinzipiellen Haltung darin. Ebenso wie die deutsche und die französische Regierung bestreitet der Kreml nicht das Recht einer Großmacht, den Irak anzugreifen und zu besetzen. Tatsächlich hat Putin ein eigenes Interesse daran, auf dem Recht des Stärkeren zu bestehen - er verteidigt damit in der Tradition der zaristischen Autokratie das Recht Russlands, seine schwächeren Nachbarn anzugreifen und zu erobern.

Putin führt seinen eigenen kriminellen Krieg in Tschetschenien. Der zweite Krieg im Nordkaukasus dauert jetzt bereits mehr als drei Jahre und fügt der Bevölkerung der Region weiterhin schreckliche Wunden zu. Er wurde provoziert, um den Machtwechsel im Kreml zu sichern, und entwickelte sich schnell zu einem Instrument, das der Verteidigung der neokolonialen und geopolitischen Ansprüche der herrschenden Elite Russlands dient.

Ganz wie das Kriegsstreben der Bush-Regierung ist Russlands Krieg in Tschetschenien Ausdruck einer tiefen Krise, aus der das Putin-Regime nur einen Ausweg weiß - die Eskalation externer Gewalt und das Verspritzen von chauvinistischem und militaristischem Gift innerhalb des Landes.

Der Kampf gegen soziale Ungleichheit und Krieg

Elf Jahre kapitalistischer "Reformen" haben den russischen Massen nichts als Elend und Verarmung gebracht. Es ist eine Lüge, wenn man die soziale Katastrophe darauf zurückführen will, dass Russlands Reformen bislang noch nicht in vollem Umfang umgesetzt wurden. Diejenigen, die so argumentieren, verweisen auf ein abstraktes Model des Kapitalismus, das in der Geschichte nie existiert hat. Nach dieser Abstraktion bedeutet ein mehr an Kapitalismus ein mehr an Demokratie und Wohlstand für Alle.[4]

Tatsächlich sind die Reformen im Wesentlichen abgeschlossen - das heißt, sie haben ihr Ziel erreicht. Im Laufe weniger Jahre sind in kolossalem Umfang die bedeutendsten Teile des "besitzerlosen" Staatseigentums in private Hände transferiert worden. Die Tatsache, dass Dutzende und Hunderte Millionen Menschen nicht einmal mehr ihre grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen können, dass sie um ihr Überleben kämpfen müssen, dass Krankheiten sich ausbreiten und die Kriminalität wächst, dass regionale und ethnische Konflikte eskalieren, dass die technische Infrastruktur jäh zurückgegangen ist, dass die natürlichen Ressourcen geplündert und vernichtet werden - dies alles ist kein Zufall. Es handelt sich hierbei nicht um "Fehler", sondern um das einzig mögliche Ergebnis eines gesellschaftlichen Rückschritts, der in der modernen Geschichte einzigartig ist.

Der zeitgenössische Kapitalismus demonstriert täglich auf Weltebene seine Unfähigkeit, zurückgebliebene Regionen zu entwickeln oder ökonomische und soziale Probleme zu lösen. Alles, was die Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit der Menschen verbessern könnte, wird dem privaten Profit geopfert. Auch in Russland strebt die neue Elite danach, sich selbst um jeden Preis zu bereichern, und handelt nach dem Prinzip: "Nach uns die Sintflut".

Eine Zeit lang gab es Versuche, dem "Erbe des Kommunismus" oder irgendwelchen besonderen russischen Bedingungen die Schuld für den kriminellen Charakter des russischen Kapitalismus zuzuschreiben. Die jüngsten Unternehmensskandale in Amerika haben jedoch gezeigt, dass die Methoden der Fälschung, der Plünderung von Vermögenswerten, des Steuerbetrugs, der Aufblähung der Bilanzen usw. für die Wirtschaftselite der führenden kapitalistischen Länder ebenso typisch sind wie für die russische.

Das heutige Russland steht an der Weltspitze, was das Ausmaß und die grotesken Formen der sozialen Ungleichheit betrifft. Wie eine Illustration zu Marx‘ Kapitalismuskritik zeigt Russland uns das Schauspiel zweier Länder in einem: das Russland des "neuen Russen" und das Russland des durchschnittlichen Arbeiters - zwei Wesen, die sich nur selten begegnen. Moskau, das frühere "Aushängeschild des Sozialismus", ist zum Symbol des Kapitalismus à la russe geworden - der "Spielhöllen- Ökonomie", einer Kombination von New York und Las Vegas.

Laut einer Erhebung aus dem Jahre 2002 befinden sich unter den 188 reichsten Einzelpersonen des Planeten neun russische Bürger. Einer von ihnen ist Mikhail Khodorkowsky, ein ehemaliger Komsomol-Funktionär, der derzeit dem führenden Ölunternehmen Jukos vorsteht. Mit einem Vermögen von 8 Milliarden Dollar hat er es unter die 30 reichsten Individuen der Welt gebracht.

Zur Liste der Milliardäre gehören auch der Regierungsvertreter W. Tschernomyrdin (1,35 Milliarden Dollar) und der Pensionär R. Wiakhirew (1,8 Milliarden Dollar). Beide waren im Vorstand von Gasprom, dem führenden russischen Gaskonzern, wo sie allem Anschein nach nicht uneigennützig agierten.

Gleichzeitig liegen die Löhne in vielen Bereichen der russischen Wirtschaft unter dem offiziellen Existenzminimum. Nach Angaben des Arbeitsministeriums deckt der vom Ministerium festgelegte Mindestlohn von 450 Rubel pro Monat nur 22 Prozent dieses "Existenzminimums" und "sichert noch nicht einmal das physische Überleben des Arbeiters".

Haushaltsbeschränkungen verhindern, dass dieses "Existenzminimum" in absehbarer Zeit auf ein Niveau angehoben wird, dass das Überleben sicherstellt. Gleichzeitig zahlt die Regierung Putin jährlich etwa 15 Milliarden Dollar an ausländische Gläubiger. Diese Summe fließt auf die Konten der großen internationalen Banken und der westlichen Regierungen.[5]

"Aber was ist mit Demokratie?", könnte gefragt werden. "Man muss zugeben, dass der Durchschnittsbürger in Russland wirklich leidet. Aber haben wir im August 1991 nicht die Freiheit gewonnen?"

Argumente dieser Art haben nicht mehr Gewicht als die Überzeugung, dass die russischen Reformen noch nicht wirklich begonnen haben. Als das totalitäre stalinistische Regime stürzte, gab es natürlich feierliche Verkündigungen von Rechten und Freiheiten, die man den Geschichtsbüchern über die bürgerlich-demokratischen Revolutionen in Europa und Amerika entlehnt hatte.

Diese waren jedoch keine Errungenschaften, die von der Bevölkerung durchgesetzt worden waren. Vielmehr entsprangen sie dem Sieg eines Teils der Bürokratie über einen anderen, der auf Kosten der Bevölkerung und ihrer Interessen errungen wurde. Tatsächlich blieben "Demokratie", "Freiheit" und "Volkssouveränität" hohle Phrasen, ähnlich wie die inhaltslose Rhetorik der sowjetischen Verfassungen, die unter Stalin (1936) und Breschnew (1977) formuliert wurden.

Das neue postsowjetische Regime hatte nicht die Absicht, den Stalinismus wirklich zu zerstören. Nachdem die höchsten Vertreter der ehemaligen Partei-Hierarchie abgesetzt waren, nahm es den größten Teil der alten Nomenklatur in seine Reihen auf. Der gesamte stalinistische Unterdrückungsapparat, angeführt vom KGB, blieb - abgesehen von Namens- und Personaländerungen - erhalten und wurde bald wieder in seinen alten Rang erhoben.

Der Staatsstreich, der im Herbst 1993 von Jelzin durchgeführt wurde, nahm dem neuen Regime den letzten Anschein von Demokratie: Die neuen Vollmachten des Präsidenten übertrafen die Bestrebungen vieler Diktatoren. Das vom Volk gewählte Parlament, die unabhängige Justiz, die freie Presse - all dieses wurde zur Fassade, hinter der man das selbstgefällige, hässliche Gesicht des ehemaligen stalinistischen Karrieristen sehen konnte, der mittlerweile die traditionellen Gewohnheiten des alten zaristischen Tyrannen angenommen hat und mit aller Macht die Interessen der halbkriminellen Neureichen verteidigt.

Der russische Kapitalismus erwachte zum Leben. Aber seine besondere Form - die einer durch und durch korrupten, kriminellen und abhängigen Wirtschaft - ist so, weil sie nicht anders sein kann. Wir müssen diese Tatsache akzeptieren und aus ihr die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Der Kapitalismus hat in Russland keine Zukunft, weil er weder eine Vergangenheit noch eine Gegenwart hat. Er ist in einem tieferen historischen Sinne illegitim.

Der derzeitige Zustand kann nicht lange anhalten, weil er ein Zustand der tiefen Krise, nicht der Entwicklung ist. Wie auch immer der amerikanische Krieg gegen den Irak vorerst ausgehen mag, er wird den russischen Kapitalismus in noch größere Abhängigkeit vom Weltmarkt treiben. Die Illusion großer Teile der russischen Bevölkerung, dass Putin ein "nationaler Retter" sei, wird sich früher oder später in Luft auflösen. Die Massen werden realisieren, dass Putin in der Tradition von Gorbatschow und Jelzin steht, dass er die Wirtschaftsoligarchie, die Bürokratie und das Weltkapital repräsentiert und nicht die Interessen des "einfachen Mannes".

Bis heute liegt die Stärke des postsowjetischen Regimes in Russland in dem verbreiteten Glauben, dass der zeitgenössische Kapitalismus anders sei als das System, dass Marx und Lenin analysierten, und dass er seit 1945 mit Sozialreform und Demokratie vereinbar sei. Der Ausbruch imperialistischer Antagonismen, Kriege und Gewalt auf dem gesamten Globus, der mit skrupellosen Angriffen auf den Lebensstandard und die Rechte der arbeitenden Bevölkerung selbst in den entwickelten Ländern einher geht, wird solchen Illusionen einen tödlichen Schlag versetzen. Die Arbeiterklasse wird von neuem entdecken, dass der Sozialismus nicht ein Ideal der Vergangenheit ist, sondern eine realistische Antwort auf die Krise der Zivilisation, die von neuen und beispiellosen Formen der Barbarei bedroht ist.

Der Krieg wird nicht nur den Zerstörungsgeist begünstigen. Er wird auch den revolutionären Tendenzen Schwung verleihen. Die Vierte Internationale, die heute den konzentrierten Ausdruck einer revolutionären Alternative verkörpert und die aus dem Kampf des russischen Marxismus gegen das Wachstum des Stalinismus entstanden ist, wird nach Russland zurückkehren.

Durch die mächtige Waffe der World Socialist Web Site wird die Vierte Internationale den russischen Massen helfen zu verstehen, dass der Krieg nicht bekämpft werden kann, ohne ihn mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit und Kapitalismus auf Weltebene zu verbinden. Das Erbe der drei russischen Revolutionen wird unvermeidlich wieder zum Vorschein kommen. Die russische Arbeiterklasse wird ihren Platz in den Reihen des heutigen internationalen Kampfs für Sozialismus finden müssen.

Anmerkungen:

1. Es muss angemerkt werden, dass die amerikanische Entscheidung, ihre imperialistischen Konkurrenten wirtschaftlich zu unterstützen, nicht einer langfristigen Berechnung oder einem Altruismus entsprang, sondern vielmehr einem Überlebensinstinkt. Die Grundfesten des Weltkapitalismus bogen sich unter dem Druck der internationalen revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse. Es gab keine Wahl. Als die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg Österreich und der Weimarer Republik beim Wiederaufbau ihrer Wirtschaft halfen, geschah dies, um die Gefahr einer kommunistischen Revolution in Europa zu mindern. Die gleichen Motive herrschten am Ende des Zweiten Weltkriegs in Bezug auf Europa und Japan vor. Heute sieht die herrschende Elite Amerikas keinen Grund für eine ähnliche Unterstützung ihrer internationalen Konkurrenten.

2. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war weder historisch noch wirtschaftlich vorherbestimmt. Der Hauptgrund, warum die sowjetische Ökonomie in eine Sackgasse geriet, lag in der reaktionären Politik der stalinistischen Bürokratie, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den "Sozialismus in einem Lande" aufzubauen. Im Zusammenhang mit der schnellen Entwicklung der ökonomischen Globalisierung in den späten 1970-er und den 1980-er Jahren wurde diese Perspektive der autarken Wirtschaftsentwicklung immer reaktionärer und ökonomisch unhaltbar. Die Integration der sowjetischen Ökonomie in das Weltsystem der Produktion musste auf die eine oder andere Weise geschehen. Der "Eiserne Vorhang" musste fallen.

Aber dieser Prozess hätte auf zwei verschiedene Weisen vonstatten gehen können - entweder unter sozialistischem oder unter kapitalistischem Vorzeichen. Die Ausweitung der proletarischen Weltrevolution über die Grenzen der UdSSR hinaus eröffnete die Möglichkeit für eine fortschrittliche Lösung dieser Krise. Die Bürokratie fürchtete dies am meisten. Unter dem Deckmantel von "Glasnost" und "Perestroika" schlug sie den entgegengesetzten Kurs ein und privatisierte das Staatseigentum, liquidierte das Außenhandelsmonopol und öffnete die sowjetische Ökonomie für die transnationalen kapitalistischen Konzerne.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale gab damals seine eigene Antwort auf die wirtschaftliche und soziale Krise der Sowjetunion und schrieb: "Die Entwicklung des Sozialismus in der Sowjetunion und die Lösung der wirtschaftlichen Probleme, die aus ihrer Entwicklung entstehen, sind untrennbar mit der Ausdehnung der proletarischen Revolution auf die Weltarena verbunden. Der Mangel an Technologie und die fortdauernden Widersprüche zwischen Industrie und Landwirtschaft können nur durch den Zugang zum Weltmarkt gelöst werden. Es gibt nur zwei Wege für die Integration der Sowjetunion in diesen Markt - den Gorbatschows, der zur kapitalistischen Restauration führt, und den der sozialistischen Weltrevolution." (Vierte Internationale, Jg. 14, Nr. 2, S.47)

3. In Bezug auf den sozialen Charakter der Sowjetunion haben Marxisten immer betont, dass die Bürokratie keine ökonomisch dominante Klasse war, sondern vielmehr die Rolle einer privilegierten Kaste, eines Parasiten an den Grundlagen der nationalisierten Wirtschaft spielte. Ist sie nun zu einer "Klasse" im wahren Sinne des Wortes geworden?

Es reicht nicht aus, einfach von der vergangenen Analyse auf die derzeitige Situation zu schließen. Vom Standpunkt strenger wirtschaftlicher Definitionen sollten wir die neue Schicht von Privateigentümern in Russland wohl eine "Klasse" nennen. Während wir diese allgemeine Herangehensweise nicht ablehnen, sind wir jedoch der Meinung, dass ein solches Etikett alleine, ohne konkretere Erklärungen, einige sehr wichtige gesellschaftliche und historische Besonderheiten außer Acht lässt und möglicherweise zu falschen politischen Schlussfolgerungen führen kann.

Die russischen Unternehmer sind ein Bestandteil der globalen kapitalistischen Elite. Aber diese Elite entwickelt in zunehmenden Maße ein parasitenhaftes Wesen. Ihre Existenz ist immer weniger an eine historische Notwendigkeit und eine fortschrittliche Rolle im Produktionsprozess gebunden. Mit anderen Worten: Die Bourgeoisie verliert weltweit jene Charakteristiken, die sie in der Vergangenheit zu einer gesellschaftlichen Gruppe machten, die in der Lage war, eine ökonomische Dominanz auszuüben - nicht als Resultat von nackter Gewalt, Fälschungen, dem Aufblähen der Bilanzen etc., d.h. durch Methoden, die außerhalb der Wirtschaftssphäre liegen.

Trotz ihrer Anhäufung von gestohlenen Reichtümern wird eine Bande von Straßenräubern dadurch noch nicht zur ökonomisch dominanten Klasse, und genauso wenig stellen das Messer und die Axt, die für die Raubzüge benötigt werden, Produktionsmittel dar.

Wir wollen uns allerdings davor hüten, die derzeitige herrschende Elite in Amerika, Europa oder Japan in einem allgemeinen ökonomischen Sinne als Bande und Räuber zu beschreiben. Aber die historische Tendenz weist in diese Richtung. Diese Tendenz zeigt sich selbst noch stärker in Bezug auf den verspäteten und grotesken russischen Kapitalismus. Je weniger russische "Geschäftsleute" in der Lage sind, die Wirtschaft zu entwickeln, um so mehr halten sie sich an die Reichtümer, die in den Jahren der "Prichwatisatsija" [Unternehmensübernahme durch Insider] erobert wurden. Der isolierte und esoterische Charakter dieser Gruppe wächst beständig. Daher hat sie unserer Meinung nach lediglich die Bezeichnung "Kaste" verdient.

4. Die wirkliche ökonomische Basis für die Illusionen über die unlösbare Verbindung zwischen Kapitalismus und Demokratie liegt in der einfachen Warenproduktion, die auf dem individuellen Eigentum an Produktionsmitteln, dem Fehlen der weitverbreiteten Nutzung von angeheuerter Arbeitskraft und der Gleichheit der individuellen Produzenten untereinander beruht. Wie Marx im Kapital zeigte, ging die einfache Warenproduktion historisch der kapitalistischen Produktionsform voraus und ist keineswegs mit ihr gleichzusetzen. Der Kapitalismus konzentriert die Produktionsmittel in wenigen Händen, enteignet die Masse der unabhängigen Produzenten in Stadt und Land und schafft dadurch eine gewaltige ökonomische Ungleichheit - durch diesen Prozess verwandelt sich die Demokratie früher oder später in eine reine Fiktion.

Im achtzehnten Jahrhundert, in der Epoche, die der industriellen Revolution - der industriellen und technischen Grundlage des Kapitalismus - vorausging, konnten die einfachen Warenproduzenten noch als Verkörperung der wahren "menschlichen Natur" auftreten. Die großen Denker dieser Periode, z.B. Jean Jacques Rousseau, erarbeiteten im Geiste Pläne für die Errichtung einer utopischen Demokratie individueller Warenproduzenten, die ihren Rechten und ihrem Status nach gleich waren. Diese Ideen wurden im Laufe der Französischen Revolution vernichtet.

5. Während der Jahre der "Perestroika" gab es in den Kreisen der "fortgeschrittenen" Intellektuellen, die mit kleinbürgerlichen Vorurteilen durchsetzt waren, einen beliebten Satz, um die hoffnungslose Situation der Sowjetunion im Vergleich zum kapitalistischen Westen zum Ausdruck zu bringen: "Unser Lebensstandard entspricht ihrem Sterbensstandard". Man kann sich an diese Worte heute nur noch mit bitterer Ironie erinnern. Sie reflektierten die arroganten Erwartungen an und den dilettantischen Glauben in das "Wunder" des Kapitalismus. Im Gegensatz dazu hat die Realität der "Marktreformen" die düstersten, wenn auch begründeten Warnungen bei weitem übertroffen.

 

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25.09.2003
 
Thema
Alexander Bahar
 
TektonischePlatten in Bewegung versetzt
 
Der Reichstagsbrand, der 11. September und Der Spiegel. Eine Replik
 
Für den Spiegel steht fest: Die im Internet kursierenden und in Buchform veröffentlichten Thesen, wonach die US-Regierung oder ihre Geheimdienste in die Terroranschläge vom 11. September 2001 verwickelt sein könnten, sind das Werk verblendeter Konspirationsfanatiker. Politische Verschwörungen gibt es nicht – nur Verschwörungstheorien. Basta. Die Ungereimtheiten und Widersprüche des 11. September fallen bei dieser simplen Weltsicht unter den Tisch. Das erinnert an den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933. Auch hier war es das »deutsche Nachrichtenmagazin«, das in der Bundesrepublik die These von der Täterschaft der Nazis am gehässigsten bekämpfte.

Sind es wirklich nur »Fälscher und Spinner«, denen die Frage keine Ruhe läßt, ob uns die US-Regierung über die Terrorangriffe vom 11. September die Wahrheit gesagt hat? Handelt es sich bei den Behauptungen, die US-Regierung sei über die Anschläge vorgewarnt gewesen, tatsächlich nur um »Legenden und Lügen«, die uns Verschwörungstheoretiker in böswilliger Absicht auftischen?

Zwei Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington liegen der Welt nicht mehr gesicherte Erkenntnisse über diese folgenreichen Verbrechen, über die Täter und Hintermänner vor als in den ersten Tagen danach. Bis heute wurde nicht geklärt, wie es passieren konnte, daß Personen, die von FBI und CIA als Terroristen verdächtigt und überwacht wurden, in die USA einreisen, das Kommando über vier Zivilflugzeuge übernehmen und diese ungehindert in ihre Zielobjekte steuern konnten. Trotz Vorwarnungen und konkreter Hinweise ausländischer Regierungen und Geheimdienste auf bevorstehende Terroranschläge – einige hatten sogar erwähnt, daß bei diesen Plänen Linienflugzeuge als bevorzugte Waffe galten – unternahmen die verantwortlichen Stellen in den USA nichts, um die Bevölkerung zu schützen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

Bereits zwei Tage nach den Attentaten präsentierte die US-Regierung die bis heute gültige offizielle Version der Ereignisse. Danach entführten 19 islamistische Fundamentalisten, finanziert und beauftragt von Osama bin Laden und seinem Al-Qaida-Netzwerk, vier amerikanische Flugzeuge, steuerten zwei Maschinen in das World Trade Center und eine in das Pentagon, während die vierte, dem Weißen Haus zugedachte Maschine entweder von heldenhaft kämpfenden Passagieren oder den Hijackern selbst zum Absturz gebracht wurde.


Cui bono? – Wem nützt es?

Sicher ist nur, wem diese gigantischen Verbrechen nutzten: der Kriegspartei in der US-Regierung und den hinter ihr stehenden Kreisen des Big Business, insbesondere Öl- und Rüstungskonzernen, die von diesem Kriegskurs direkt profitieren. Aus den Anschlägen vom 11. September saugt die Außen- und Sicherheitspolitik der USA bis heute ihren Honig. Sie dienten der Bush-Administration als pseudomoralische Legitimation für ein militaristisches Programm, das alles bis dahin Dagewesene in den Schatten stellte. Unter dem Deckmantel des »Krieges gegen den Terrorismus« wurden nicht nur zwei illegale und völkerrechtswidrige Kriege gegen hoffnungslos unterlegene Gegner geführt, die Anschläge vom 11.September dienten auch als Vorwand für die bisher weitreichendsten Angriffe auf die zentralen Grundrechte der US-Bevölkerung und wurden von Regierungen in aller Welt eifrig imitiert.

Schon wenige Stunden nach den Anschlägen gab Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld laut einem Bericht des Senders CBS News eine Order an seine Mitarbeiter, Pläne für einen Angriff auf den Irak auszuarbeiten, obwohl es keinerlei Beweise für eine Verbindung von Saddam Hussein mit den Anschlägen gab. Diese Pläne gingen mit einer intensiven Propagandakampagne einher, um den Irak für die Anschläge verantwortlich zu machen. So erinnerte sich der pensionierte General und frühere NATO-Kommandeur, Wesley Clark in der TV-Sendung »Meet the Press« vom Juni dieses Jahres daran, daß er am 11. September, kurz vor einem Auftritt bei CNN, einen Anruf aus dem Weißen Haus erhalten hatte, in dem er gedrängt worden war, eine Verbindung mit Saddam Hussein herzustellen. Der Mangel an Beweisen hinderte Bush, Cheney, Rumsfeld, Rice und andere in der Regierung nicht daran, immer wieder eine Verbindung zwischen dem säkularen Baath-Regime in Bagdad und den Fundamentalisten von Al Qaida zu behaupten. Gezielt wurde ein Klima der Angst und Hysterie geschürt, das durch das plötzliche Auftauchen von Anthrax-Briefen – die Empfänger waren bevorzugt führende Politiker der Demokraten – noch angeheizt wurde und sich in einer ausgefeilten Medienkampagne zu einem allgemeinen Bedrohungsszenario verdichtete. Auch mit diesem neuesten Schurkenstück wurde der Irak in Verbindung gebracht. Wie man inzwischen weiß – und worüber die Medien in den USA längst wieder den Mantel des Schweigens gebreitet haben –, stammten die verwendeten Bakterienstämme in Wahrheit aus amerikanischen Militärlabors. Wie die Lügen von den angeblich innerhalb von 45 Minuten (Tony Blair) einsatzbereiten irakischen Massenvernichtungswaffen erfüllten auch diese Lügen ihren Zweck: Rund 70 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sollen heute noch glauben, das Regime von Saddam Hussein steckte mit Al Qaida unter einer Decke und hinter den Anschlägen vom 11. September.

Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice hat die Bedeutung der Angriffe vom 11. September für die Regierung offen ausgesprochen. In einem Interview mit der Zeitschrift New Yorker vom April 2002 kommentierte Rice, daß die Angriffe »die tektonischen Platten der internationalen Politik in Bewegung versetzt haben«. Sie erklärte weiter: »Und es ist wichtig, diese Chance jetzt zu nutzen und die amerikanischen Interessen, Institutionen usw. neu auszurichten, bevor sie sich wieder verhärten.«

In einem am 6. September 2003 im Guardian veröffentlichten Artikel »Der Krieg gegen den Terrorismus ist vorgeschoben: Die Anschäge vom 11. September lieferten den USA einen idealen Vorwand, um ihre globale Vorherrschaft mit Gewalt zu sichern« beschuldigt der prominente Labour-Politiker und frühere Umweltminister im Kabinett Blair, Michael Meacher, die Bush-Regierung, sie habe schon vor dem 11. September Kenntnis von Terroranschlägen gehabt und diese zugelassen, um langgehegte Pläne für eine Invasion des Irak zu verwirklichen. Eingangs zitiert der Autor ein Dokument, das 2000 von dem einflußreichen rechten Washingtoner Think Tank »Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert« (PNAC) herausgegeben wurde, und das Meacher als »Bauplan für die Schaffung einer globalen Pax Americana« beschreibt. Das Dokument beinhalte die Warnung, »ohne ein katastrophales und katalysierendes Ereignis – wie ein neues Pearl Harbor« – könne es schwierig werden, öffentliche Unterstützung für militärische Maßnahmen zu gewinnen, die die USA zur »beherrschenden Macht von morgen« verwandeln. Mit dem 11. September sei der Bush-Regierung ein solches Ereignis in den Schoß gefallen: »Die Anschläge vom 11.9. erlaubten es den USA, den Startschuß für eine Strategie nach den PNAC-Plänen zu geben, wozu sie sonst niemals in der Lage gewesen wären.« Meacher verweist außerdem auf einen BBC-Bericht vom 18. September 2001, daß US-Regierungsbeamte Pakistan im Juli 2001, zwei Monate vor den Terroranschlägen, gewarnt hatten, daß amerikanische »Militäroperationen gegen Afghanistan Mitte Oktober beginnen werden«. Meachers Schlußfolgerung: »Es gibt klare Beweise, daß die Pläne der Militäraktionen gegen Afghanistan und den Irak lange vor dem 11.9. vorlagen.«


»Es muß jetzt gehandelt werden«

Parallelen drängen sich nicht nur zu Pearl Harbor auf, sondern mehr noch zu Ereignissen aus der deutschen Geschichte. Das Zitat aus dem PNAC-Dokument erinnert an eine parteiinterne Analyse der NSDAP im Anschluß an die für sie sehr verlustreichen Novemberwahlen 1932. Die Studie kam zu dem alarmierenden Schluß, die Partei habe ihr Wählerpotential ausgeschöpft, es dürfe »jedenfalls nicht mehr zu einer Wahl kommen«. Die Folgen »wären nicht auszudenken«. Weiter: »Mit Worten, Plakaten und Flugblättern ist nichts mehr zu machen. Es muß jetzt gehandelt werden.«

Wenige Monate später, am 27.2.1933, brannte das Berliner Reichstagsgebäude. Am Tag danach veröffentlichte die Hitler-Regierung die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat« zur »Abwehr staatsgefährdender bolschewistischer Terrorakte«, wie es hieß, und die noch am Nachmittag des 27. Februar (!) vom Reichskabinett beschlossene »Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am Deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe«, mit denen die wichtigsten bürgerlichen Grundrechte »bis auf weiteres« eliminiert wurden. Die Regierung blies zum Sturm auf ihre politischen Gegner, von denen noch in der Brandnacht Tausende nach vorbereiteten Listen verhaftet wurden. Nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 wurden die kommunistischen Mandate kassiert, in der Folge alle Nebenorganisationen der KPD verboten und ihr Vermögen beschlagnahmt. Die ersten Konzentrationslager entstanden.


Unübersehbare Analogien

Ein Großteil der Deutschen mag ja der Propaganda der Nazis nicht geglaubt haben, die behauptete, der Reichstagsbrand sei das Fanal zum »bolschewistischen Aufstand« gewesen und die Hitler-Regierung sei ihm in letzter Minute zuvorgekommen. Der SA-Terror tat dennoch seine Wirkung und erreichte den erwünschten Zweck. Während Göring, damals kommissarischer preußischer Innenminister, eine ihm genehme Sonderkommission zur »Aufklärung« des Brandes einsetzte und diese in die von ihm gewünschte Richtung lenkte, verhinderte die Bush-Regierung mit allen in ihrer Macht stehenden Mitteln jede auch nur den Schein der Unabhängigkeit wahrende Ermittlung, bis sie schließlich eine weitgehend interne Untersuchung durch die Geheimdienstausschüsse von Repräsentantenhaus und Senat, also durch Vertrauensleute des nationalen Sicherheitsapparats, akzeptierte. Als die Kommission ihren Bericht schließlich veröffentlichte, waren seitenlange Ausführungen geschwärzt.

Hier wie dort verschwanden Beweismittel, bevor eine unabhängige Untersuchung überhaupt begonnen hatte. Im Fall des Reichstagsbrandes waren es Brandfackeln, die Zeugen vor dem Eintreffen der Feuerwehr beobachtet hatten. Diese Indizien paßten nicht zur offiziellen Version, also mußten sie verschwinden. Verschwunden ist auch der Stahl aus dem World Trade Center. Nur eine Untersuchung der Stahlträgerreste hätte Aufschluß darüber geben können, ob tatsächlich die Hitze, die sich durch die Verbrennung von Kerosin aus den Tanks der beiden Maschinen entwickelt hatte, die Stahlträger des Gebäudes zum Schmelzen brachte – und nicht etwa Explosionen, die verschiedene Zeugen abweichend von der offiziellen Version wahrgenommen haben wollen.

Die minutiöse Auswertung der Originalakten hat ergeben, daß bei der Bekämpfung des Brandes im Berliner Reichstag Alarm und Einsatzablauf der Feuerwehr nicht nach den Regeln verlief. Ein rechtzeitiges massives Eingreifen der Feuerwehr hätte die Ausbreitung des Brandes und die nahezu völlige Zerstörung des Plenarsaales womöglich verhindert. Auch hier liegt die Parallele zum 11. September auf der Hand. So stellt sich die Frage, warum noch nicht einmal der Versuch unternommen wurde, die Flugzeuge abzufangen, obwohl darauf spezialisierte Air-Bases sich in der Nähe der zerstörten bzw. beschädigten Gebäude befanden? Die Richtlinien der Luftüberwachungssysteme FAA und NORAD enthalten die klare Anweisung, bei Gefahr sofort Kampfflugzeuge einzusetzen. Diese Richtlinien wurden während der Angriffe außer Kraft gesetzt oder nicht befolgt. Im Nachhinein erweckte die US-Regierung den Eindruck, als gäbe es diese Richtlinien gar nicht, als habe es nur die theoretische Möglichkeit gegeben, die Flugzeuge abzuschießen, wozu jedoch ein – nicht erfolgter – Befehl von US-Präsident Bush erforderlich gewesen sei.

Auf die Analogie zum Reichstagsbrand haben zuerst US-Bürgerrechtsaktivisten und Angehörige der Terroropfer vom 11. September hingewiesen. Auch der an der Stanford University lehrende Philosoph Richard Rorty schrieb, daß der 11. September »vergleichbar mit dem Reichstagsbrand« sei. »Der 11. September gab der Regierung die Macht, fast alles zu tun, was sie will – mit der Entschuldigung, daß sie das Land vom Terrorismus retten will.« (Frankfurter Rundschau, 1.7.2003) Und der bekannte britische Journalist Robert Fisk nannte Mitte Juli diesen Jahres die Analogie zwischen den Terroranschlägen vom 11.September und dem Reichstagsbrand »A monstrous parallel, of course; revolting, historically out of all proportion, bizarre. Well, let us hope so.«


Reflexhafte Abwehr

Sicher gibt es Unterschiede. So stand die Hitler-Regierung einer zahlenmäßig bedeutenden, wenn auch gespaltenen und durch den Opportunismus ihrer jeweiligen Führung desorientierten Arbeiterbewegung gegenüber. Die Bush-Regierung befand sich vor Anbruch ihres neunten Regierungsmonats in einer tiefen Krise, den letzten Rest an Stabilität raubten ihr der einsetzende Zusammenbruch des Spekulationsbooms an der Wall Street und die katastrophalen Verluste an den Börsen. In die Kritik geriet die Regierung auch dadurch, daß sich der Haushaltsüberschuß in Luft auflöste und Bush sein Versprechen, die Rücklagen für soziale Sicherungssysteme nicht anzutasten, rückgängig machte. Solche grundsätzlichen Probleme sind durch die Kriege gegen Afghanistan und den Irak nicht gelöst worden. Zu dem gigantischen amerikanischen Haushaltsdefizit und den militärischen Kosten der Kriege kommen die Kosten für die Besatzung, die sich derzeit im Falle des Irak auf eine Milliarde Dollar pro Woche, im Falle Afghanistans auf eine Milliarde Dollar pro Monat belaufen.

Es verwundert kaum, daß die offiziellen deutschen Medien die Erkenntnisse von Publizisten wie Andreas von Bülow, Matthias Bröckers/Andreas Hauß, Gerhard Wisnewski, Thierry Theyssan und anderen als paranoide, verschwörungstheoretische Konstruktionen diffamieren. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die Vorstellung, die US-Regierung habe das Leben von nahezu 3 000 US-Bürgern geopfert, um die amerikanische Öffentlichkeit auf Kriegskurs zu bringen, erscheint jedoch nur dem unvorstellbar, der all die anderen ungeheuerlichen Lügen und Verbrechen des US-Imperialismus nicht zur Kenntnis nehmen will. Wie im Falle der Leugnung der Naziurheberschaft am Reichstagsbrand steht auch hinter der reflexhaften Abwehr des Gedankens, die US-Regierung könne in die Anschläge vom 11. September 2001 verwickelt sein, ein allgemeines politisches Interesse: So hält es der Spiegel für äußerst bedenklich, daß einer Forsa-Umfrage zufolge ein Fünftel der Deutschen es für möglich halten, daß die USA die Anschläge inszeniert haben könnten. »Sie trauen US-Präsident George W. Bush alles zu, den etablierten Medien dagegen nichts. Die sind laut Bülow sowieso vom Geheimdienst unterwandert oder ›gleichgeschaltet‹«. Das Nachdenken über die Hintergründe des 11. September könnte ja zum Katalysator für die Politisierung von Menschen werden, die sich von den Lügen und vom Kriegskurs der Bush-Regierung zunehmend abgestoßen fühlen.

Quellen:

Matthias Bröckers: Verschwörungen, Verschwörungstheorien und Geheimnisse des 11.9. Frankfurt/M. 2002

Matthias Bröckers/Andreas Hauß: Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9. Frankfurt/M. 2003

Interview mit Michel Chossudovsky. junge Welt, 15.2.2003

Der Irak-Krieg und die Debatte über gefälschte Geheimdienstberichte. World Socialist Website, 24. Juli 2003

Patrick Martin: War die US-Regierung vor dem 11. September vorgewarnt? World Socialist Website, 5., 23., 24., 26.1.2002

Andreas von Bülow: Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste. München/Zürich 2003

Gerhard Wisnewski: Operation 9/11. Angriff auf den Globus. München 2003.

Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird. Berlin 2001

Matthias Bröckers. Fragen zum 11. September: Alles nur Verschwörungsparanoia? junge Welt, 10.9.2003

Gerhard Wisnewski: Recherchen zum 11. September: Zeugenaussagen verfälscht? junge Welt, 12.9.2003

»Dunkle Mächte.« Der Spiegel, Nr. 32/2003

»Panoptikum des Absurden.« Der Spiegel, Nr. 37/2003

Britischer Politiker wirft USA gezielte Achtlosigkeit am 11.September vor. World Socialist Website, 13.9.2003
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Flugblatt

Eine politische Strategie gegen den Krieg im Irak

Stellungnahme der Redaktion der World Socialist Web Site
26. Oktober 2002

Die folgende Erklärung der World Socialist Web Site und der Partei für Soziale Gleichheit ist für die Demonstrationen bestimmt, die am Samstag, den 26. Oktober, in zahlreichen Städten Deutschlands und Europas stattfinden. Sie kann auch im pdf-Format als Flugblatt ausgedruckt werden. Wir bitten unsere Leser und Unterstützer, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen und sich an der Verbreitung dieses Texts - an Schulen, Hochschulen, Betrieben, bei Veranstaltungen usw. - zu beteiligen.

Am 26. Oktober finden in zahlreichen amerikanischen und europäischen Städten Demonstrationen gegen die Kriegspläne der Bush-Regierung statt. Die Demonstrationsteilnehmer sprechen für Millionen von Menschen, die den geplanten Angriffskrieg gegen den Irak vehement ablehnen, von den Politikern und den Medien aber kaum zur Kenntnis genommen werden.

Sie wissen, dass die US-Regierung lügt, wenn sie den Krieg mit angeblichen "Massenvernichtungswaffen" und der Tragödie vom 11. September 2001 rechtfertigt. Der Überfall auf den Irak, der jetzt vorbereitet wird, bedeutet eine Wiederauflage des Kolonialismus in seiner brutalsten Form. Tausende von Irakern werden einem Krieg zum Opfer fallen, der dazu dient, die Ölfelder zu erobern und ein amerikanisches Imperium zu errichten, das durch weltweiten Terror aufrechterhalten wird.

Die Menschen, die am Wochenende auf die Straße gehen, wollen die Regierung der USA davon abhalten, ein schreckliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Es droht ein Krieg, in dem die mächtigste Industrienation der Welt ihr ganzes militärisches Potenzial gegen ein hilfloses Land entfesselt, das bereits 1991 militärisch besiegt wurde, das seither ständigen Bombardierungen ausgesetzt ist und Sanktionen erduldet, die nahezu zwei Millionen Menschenleben gekostet haben.

Die Bush-Regierung hat bereits durchblicken lassen, dass Washington den Irak in ein vom amerikanischen Militär kontrolliertes Protektorat verwandeln möchte. Aus jüngeren Presseberichten geht darüber hinaus hervor, dass dieses Ziel durch Massenmord erreicht werden soll. Die New York Times zitierte am 22. Oktober ein Dokument über Kriegsführung in den Städten, das vor kurzem von den Oberbefehlshabern der Streitkräfte erstellt wurde. Demnach soll die überlegene Feuerkraft der USA eingesetzt werden, um die Städte des Irak unter Kontrolle zu bringen.

Der Bericht bezieht sich auf die Lehren aus früheren militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung verschiedener Länder: den Luftangriff der Nato auf Belgrad, die Räumung Grosnys durch die Russen und die Zerstörung Dschenins durch Israel. Die Amerikaner, heißt es, sollten bei ihrem Einmarsch in den irakischen Städten ihre "überwältigende militärische Stärke" nutzen und ihre Ziele mit derartiger "Geschwindigkeit, Feuerkraft und Schockwirkung" erobern oder zerstören, dass jeder Widerstand zusammenbricht.

Trotz der Kriegstreiberei der Bush-Regierung und der chauvinistischen Propaganda der Medien gibt es in der amerikanischen Bevölkerung eine tiefgreifende und nachhaltige Opposition gegen die Kriegspläne. Die große Aufgabe, die sich den Teilnehmern an den Demonstrationen vom 26. Oktober stellt, besteht darin, diese verbreitete, aber diffuse Opposition in eine starke politische Bewegung zu verwandeln, die sich ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusst ist. Proteste sind wichtig und notwendig, um der Welt zu zeigen, dass die Bevölkerung die räuberische Politik der US-Regierung nicht unterstützt. Sie reichen aber nicht aus.

Um gegen den Krieg zu kämpfen, braucht man mehr als moralische Entrüstung und persönlichen Mut. Man muss als Kriegsgegner vor allem seine Ursachen verstehen und daraus ein Programm ableiten, das als Grundlage für eine Massenbewegung dienen kann.

Der geplante Einmarsch im Irak ist ein imperialistischer Krieg. Dieselben wirtschaftlichen Interessen der großen Konzerne, die die Innenpolitik der USA bestimmen, stehen letztlich auch hinter ihren militärischen Aktionen in Übersee.

Im amerikanischen Imperialismus schlagen sich auf globaler Ebene die Klasseninteressen nieder, die von den mächtigsten Teilen der Kapitalistenklasse auch innerhalb der USA verfolgt werden. Die Vorrechte dieser Klasse gehen mittlerweile so weit, dass die gesamte Gesellschaft von einer Plutokratie regiert wird. Aus den neuesten Statistiken geht beispielsweise hervor, dass die reichsten 13.000 Familien in Amerika über nahezu dasselbe Einkommen verfügen wie die 20 Millionen ärmsten Haushalte. Das Einkommen dieser 13.000 Familien ist 300 Mal so hoch wie der Durchschnitt. Während der vergangenen dreißig Jahre ist das mittlere Jahresentgelt der 100 am besten bezahlten Firmenchefs von 1,3 Millionen Dollar - 39 Mal höher als der Durchschnittslohn - auf 37,5 Millionen Dollar gestiegen, also auf mehr als das 1000-fache eines normalen Gehalts.

Diese Konzentration des Reichtums an einem Pol der Gesellschaft war mit einem weitreichenden Verfall der traditionellen Formen und Institutionen der amerikanischen Demokratie verbunden. In einer Gesellschaft, die wirtschaftlich derart gespalten ist, kann die Demokratie auf Dauer keinen Bestand haben. Die große Masse der Bevölkerung - die Arbeiterklasse - ist sukzessive von jeder tatsächlichen Beteiligung am politischen Leben ausgegrenzt worden, während die beiden politischen Parteien immer offener als Interessensvertreter der Reichen und Superreichen auftreten.

Das erklärt, weshalb es zwischen den beiden Parteien der wirtschaftlichen Elite - den Demokraten und den Republikanern - keinen ernsthaften politischen Meinungsstreit gibt. In Bezug auf alle Fragen des "nationalen Interesses", d. h. des globalen Interesses der kapitalistischen Klasse, haben die beiden Parteien denselben Standpunkt.

Die Demokratische Partei hat George W. Bush - der durch ein Betrugsmanöver Präsident geworden ist - beispiellose Kriegsvollmachten erteilt. An den Händen der demokratischen Kongressführer Daschle, Gephardt und ihrer Gefolgschaft klebt genauso viel Blut wie an jenen von Bush, Cheney und Rumsfeld.

Die europäischen Regierungen verteidigen dieselben gesellschaftlichen Interessen wie die amerikanische. Auch sie greifen pausenlos Arbeitnehmerrechte, Löhne und Sozialleistungen an. Wie die Bush-Regierung haben sie den 11. September als Vorwand für eine beispiellose Aufrüstung des Staatsapparats nach innen und nach außen benutzt. Den amerikanischen Kriegsplänen treten sie nur so weit entgegen, wie diese ihren eigenen imperialistischen Ambitionen im Weg stehen.

Nur aus diesem Grund lehnt die Regierung Schröder-Fischer eine deutsche Beteiligung am Krieg gegen Bagdad ab. Sie fürchtet, dass die Ölquellen am Golf vollständig unter die Kontrolle der USA geraten und die lukrativen Geschäfte der deutschen Wirtschaft Schaden leiden. Das hat sie allerdings nicht daran gehindert, die Sanktionen gegen den Irak zu unterstützen, denen Hunderttausende von Kindern zum Opfer gefallen sind.

Die rot-grüne Regierung hat in vier Jahren mehr dazu beigetragen, Deutschland zur militärisch gerüsteten Großmacht aufzubauen, als ihre konservativen Vorgänger in den sechzehn Jahren davor. Sie hat sich an zwei Kriegen beteiligt - 1999 in Jugoslawien und 2001 in Afghanistan - und deutsche Soldaten zu Einsätzen in 16 verschiedene Staaten und Regionen geschickt - vom Balkan über Afghanistan bis ans Horn von Afrika. Sie hat die Ausgaben für internationale Bundeswehreinsätze verzehnfacht und ein gewaltiges Aufrüstungsprogramm in Gang gesetzt.

Es wäre daher ein großer Fehler, in der Ablehnung der Kriegspläne auf die SPD, die Grünen - oder die PDS - zu vertrauen. Letztere spricht sich nur so lange gegen Aufrüstung und Krieg aus, wie sie nicht selbst in die Regierung eingebunden ist. Überall dort, wo sie Regierungsverantwortung trägt, hat sie sich als verlässliche Stütze der SPD erwiesen.

Die Gegner des imperialistischen Krieges und des Militarismus müssen sich der großen gesellschaftlichen Kraft zuwenden, die von keiner großen politischen Partei mehr vertreten wird - der internationalen Arbeiterklasse. Sie stellt eine potenziell stärkere Kraft dar als die kapitalistische herrschende Elite. Direkt unter der Oberfläche des Alltagslebens stauen sich bei der Masse der Bevölkerung immer mehr Wut und Verbitterung an, die in den politischen Institutionen keinen Ausdruck mehr finden können.

Die Millionen Männer und Frauen, die in den Betrieben, Büros, Schulen und Krankenhäusern arbeiten, die nur leben können, wenn sie ihre Löhne und Gehälter beziehen - diese kolossale Kraft hat sich bisher nicht bemerkbar gemacht, weil sie von der offiziellen Gesellschaft und dem Parteien-System ausgeschlossen ist. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse - unabhängig von den Bundestagsparteien und im Gegensatz zum gesamten System des Klassenprivilegs - muss zur Grundlage werden für die Entwicklung einer internationalen Bewegung gegen Militarismus und imperialistischen Krieg.

Der Kampf gegen den Krieg muss mit einem Programm verbunden werden, das die brennenden sozialen Fragen aufgreift: Arbeitsplätze, Einkommen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungen und der Kampf für die Verteidigung und Ausweitung demokratischer Rechte. Sein Dreh- und Angelpunkt muss der Kampf für soziale Gleichheit sein.

Die Socialist Equality Party in den USA, die Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland und unsere Mitstreiter im Internationalen Komitee der Vierten Internationale haben die World Socialist Web Site aufgebaut, um ein politisches und theoretisches Instrument für den Aufbau einer solchen Bewegung zu haben. Wir vertreten folgende Prinzipien für den Aufbau einer Massenbewegung gegen den imperialistischen Krieg:

1. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse als wichtigste und führende Kraft. Dieser Kraft müssen sich die Menschen zuwenden, die zu den Demonstrationen nach Washington und in andere Städte kommen, um eine starke und dauerhafte Antikriegsbewegung aufzubauen - nicht den US-Demokraten, den europäischen Imperialisten oder den stets zu einem Verrat bereiten nationalen bürgerlichen Führern in Ländern der Dritten Welt.

2. Der Internationalismus als politisches und organisatorisches Leitprinzip. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg muss konzipiert werden als Kampf für die Vereinigung der Arbeiterklasse aller Länder, Hautfarben und Religionen gegen den gemeinsamen Feind. Er muss gegen alle Versuche gerichtet sein, die Arbeiterklasse zu spalten.

3. Die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse. Die Unterordnung der arbeitenden Bevölkerung unter die bürgerlichen Parteien - die Demokraten in den USA; SPD, Grüne, Union, FDP und PDS in Deutschland - muss beendet werden. Eine neue politische Bewegung muss aufgebaut werden - die Partei für Sozial Gleichheit in Deutschland und die Vierte Internationale weltweit - um die internationale Arbeiterklasse im Kampf gegen imperialistischen Krieg, Militarismus und soziale Ungleichheit zusammenzuschließen.

Das wichtigste Instrument für den Aufbau dieser Bewegung ist die World Socialist Web Site. Wir rufen alle, die gegen den imperialistischen Krieg kämpfen wollen, dazu auf, mit der WSWS in Verbindung zu treten. Schreibt Artikel, verbreitet unsere Erklärungen weiter, macht die WSWS bekannt. Tretet unserer Partei bei und tragt dazu bei, sie zur neuen Führung der Arbeiterklasse zu entwickeln.

Siehe auch:
Hintergrundanalysen zum Thema
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2002 enthalten.)

 

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Bericht des US-Waffeninspekteurs bestätigt, dass Irak-Krieg auf Lügen beruhte

Von Bill Vann
15. Oktober 2003
aus dem dem Englischenen (4. Oktober 2003)

Der Anfang Oktober vorgelegte Zwischenbericht des von Washington bestimmten Chefwaffeninspektors hat erneut bestätigt, dass der Krieg der Bush-Regierung gegen den Irak ein unprovozierter und auf Lügen gegründeter Aggressionsakt war.

Der Bericht war weitgehend unspektakulär; er bestätigte nur, was ohnehin schon mehr als offensichtlich ist: Dass es keine Beweise dafür gibt, dass das irakische Regime von Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besessen oder eine Bedrohung für die USA oder den Rest der Welt dargestellt hätte.

"Wir haben bis zum heutigen Zeitpunkt keine Waffen gefunden", sagte David Kay in seinem Bericht an den Kongress. "Das heißt nicht, dass wir zum Schluss gekommen sind, dass es keine Waffen gibt."

Diese Schlussfolgerung krönt die dreimonatige Arbeit von Kays 1.200 militärischen und zivilen Experten der Irak-Überwachungsgruppe (ISG), die 300 Millionen Dollar gekostet hat. Ihre Untersuchung ergänzte jene der 75. Exploitation Task Force der Armee, die eigene Suchteams aufgestellt und nach der Invasion das ganze Land durchkämmt hatte, ganz zu schweigen vom rigiden Inspektionsregime unter Leitung der Vereinten Nationen vor dem Krieg.

Hans Blix, der UN-Chefwaffeninspektor, hielt nicht viel von Kays Bericht. "Ich denke nicht, dass er Überraschungen enthält", sagte er. "Das Wichtigste daran ist, dass er bestätigt, dass sie keinerlei Bestände an Massenvernichtungswaffen gefunden haben. Sie fanden unbedeutende verbotene Gegenstände und Schrott." Vergangenen Monat verglich Blix die US-Behauptungen über irakische Massenvernichtungswaffen mit mittelalterlichen Hexenverfolgungen.

Kays Bericht stellt eine vernichtende Widerlegung jedes einzelnen Punkts dar, mit dem die Bush-Regierung die Invasion des Irak gerechtfertigt hat.

Zum sensationellsten Vorwurf, die weitere Existenz des Hussein-Regimes setze die USA der Gefahr eines nuklearen Terrorangriffs aus, sagt Kay: "Bis dato haben wir keine Beweise für erwähnenswerte Schritte des Irak nach 1998 gefunden, Nuklearwaffen zu bauen oder spaltbares Material zu produzieren."

Am 7. Oktober 2002 hatte Bush in einer Rede in Cincinnatti erklärt, dass "es Beweise gibt, dass der Irak sein Atomwaffenprogramm wieder aufgenommen hat.... Angesichts einer eindeutig lebensbedrohenden Gefahr können wir nicht auf den endgültigen Beweis warten, auf den rauchenden Colt, der in Gestalt eines Atompilzes kommen könnte."

Ähnlich hatte Vizepräsident Richard Cheney am 16. März in der NBC-Sendung "Meet the Press" über Saddam Hussein gesagt: "Wir wissen, dass er absolut scharf darauf war, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Und wir glauben, das er tatsächlich wieder Atomwaffen gebaut hat."

Der ISG-Bericht bestätigt lediglich die Einschätzung Mohamed El Baradeis, des Leiters des UNO-Nuklearinspektionsteams, der behauptet hatte, die USA hätten gefälschte und irreführende Beweise benutzt, um ihre Nuklearwaffentheorie zu stützen.

Keine chemischen Waffen mehr seit 1991

Der ISG-Bericht gelangt weiter zu dem Schluss, dass eventuelle Chemiewaffenprogramme des Irak offenbar lange vor der US-Invasion aufgegeben worden sind.

Ein im Oktober letzten Jahres erstelltes Nationales Geheimdienstmemorandum warnte, das irakische Regime habe die Produktion von Senfgas, Sarin und VX-Gas wieder aufgenommen und "wahrscheinlich" 100 bis 500 Tonnen chemischer Kampfstoffe gelagert, "ein großer Teil davon erst seit dem vergangenen Jahr".

Demgegenüber sagte Kay dem Geheimdienstausschuss des Kongresses: "Zahlreiche unterschiedliche Quellen verschiedener Verlässlichkeit haben der ISG mitgeteilt, dass der Irak nach 1991 kein umfangreiches, andauerndes, zentral kontrolliertes Chemiewaffenprogramm verfolgt hat."

Er fügte hinzu: "Der heutige Informationsstand lässt vermuten, dass Iraks Fähigkeit, in großem Umfang chemische Munition zu entwickeln, zu produzieren und abzufüllen, in den Operationen Desert Storm, Desert Fox und durch dreizehnjährige UN-Sanktionen und UN-Inspektionen reduziert oder sogar vollkommen zerstört wurde."

Diese Einschätzung stellt nicht nur die Behauptungen der Bush-Regierung zur Begründung des Kriegs im März bloß, sondern auch die aufgebauschten Vorwürfe über Massenvernichtungswaffen, die die Clinton-Regierung 1998 erhob, als sie Bagdad mit Cruise Missiles angriff.

Die einzige greifbare Spur von Massenvernichtungswaffenmaterial, die das 1200 Mann starke Heer von US-Inspektoren vorweisen konnte, war ein einzelnes Fläschchen Botulinum, das im Haus eines irakischen Wissenschaftlers gefunden wurde. Vor dem Krieg hatten US-Regierungsvertreter unheilvoll behauptet, der Irak habe 38.000 Liter dieses Gifts auf Lager. In dem Bericht heißt es, die ISG habe Laborausrüstungen und die Asche verbrannter Dokumente gefunden - das Material, das Blix als "unbedeutende verbotene Gegenstände und Schrott" bezeichnet hatte.

Von den Tonnen von Anthrax, Rizin, Senfgas, VX und anderen tödlichen Stoffen, die es laut Washington im Irak gab, hat die ISG nicht eine Spur gefunden.

Dem ISG-Bericht ist weiter zu entnehmen, dass das einzige mit Massenvernichtungswaffen in Zusammenhang stehende Ausrüstungsstück, das die Bush-Regierung nach dem Krieg gefunden haben will, ebenfalls falsch dargestellt wurde.

"Wir waren bisher noch nicht in der Lage, die Existenz einer mobilen Produktionsanlage für biologische Waffen zu bestätigen," sagte Kay bei einer Kongressanhörung am Dienstag vergangener Woche. Die Regierung hatte behauptet, zwei im Mai entdeckte, mit Kühlaggregaten und Fermenten ausgerüstete Tieflader seien mobile Waffenlaboratorien.

Irakische Wissenschaftler hielten dagegen, die LKW's seien zur Herstellung von Wasserstoff für Wetterballons bestimmt gewesen. Von Associated Press zitierte Vertreter des US-Militärs deuteten an, dass auch das Pentagon diese Erklärung akzeptiert habe. Auf keinem der Fahrzeuge wurde auch nur eine Spur biologischen Materials entdeckt.

Nach der Veröffentlichung des Berichts erklärte Bush, er beweise, "dass Saddam Hussein eine Gefahr für die Welt war". Der britische Außenminister Jack Straw plapperte das nach, als er sagte, die Ergebnisse der ISG zeigten, "wie gefährlich und hinterhältig das Regime war, und dass die Militäraktion sowohl gerechtfertigt wie auch entscheidend gewesen sei, um die Gefahren zu beseitigen".

In Wirklichkeit hat der Bericht nur die Angaben des Irak und der meisten unabhängigen Beobachter bestätigt: Der Irak hatte seine Vorräte an Massenvernichtungswaffen schon lange vor dem Krieg zerstört und war praktisch abgerüstet.

Bericht der militärischen Aufklärung diskreditiert Hinweise von Überläufern

Kays Bericht für den Kongress folgte nur kurz auf Erkenntnisse der US-Militärspionage, wonach buchstäblich alle Angaben von Exilirakern über angebliche geheime Waffenprogramme frei erfunden waren.

Beamte der Defense Intelligence Agency (DIA) des Pentagon ließen die Ergebnisse eines geheimen Berichts durchsickern, laut dem sich die Hinweise von irakischen Überläufern als nutzlos herausgestellt haben. Die Agentur schloss daraus, dass der Irakische Nationalkongress (INC), der die meisten Überläufer an die Geheimdienste vermittelte, die Geschichten selbst in die Welt gesetzt hatte, um eine US-Invasion zu provozieren, während die Überläufer auf eine Aufenthaltserlaubnis für die USA hofften.

Die US-Regierung bezahlte mehr als eine Million Dollar für diese nutzlosen Informationen. Die New York Times berichtete am 29. September, dass die Beamten, die die DIA-Informationen preisgaben, "nicht darüber spekulieren wollten, ob die Überläufer absichtlich falsche Informationen gegeben hätten, und wenn ja, was ihre Motive dabei gewesen seien". Der Bericht der Times fügte hinzu: "Ein Beamter des Verteidigungsministeriums sagte, dass einige der Leute nicht das waren, was sie zu sein vorgaben, und dass das Geld für das Programm besser hätte ausgegeben werden können."

Die "Informationen" der vom INC unterstützten Überläufer wurden von den rechten Ideologen in der Führung des Pentagon überschwänglich begrüßt und von der Times selbst durch die Berichte ihrer Chefkorrespondentin Judith Miller verbreitet. Sie bestätigte in einem internen Memo der Zeitung, dass fast alle ihrer "Exklusivgeschichten" über Massenvernichtungswaffen auf Informationen beruhten, die sie vom Chef des INC, Achmed Tschalabi, erhalten hatte.

Das Durchsickern des DIA-Berichts ist ein weiterer Hinweis auf die scharfen Spannungen, die sich im nationalen Sicherheitsestablishment als Reaktion auf das schlimme Debakel der amerikanischen Irak-Besetzung entwickeln.

Die Substanz des Kay-Berichts ist selbst ein Beleg für diese Spaltungen. Wenn überhaupt jemand dafür in Frage kam, die "Beweise" zu fabrizieren, die die Bush-Regierung sich wünschte, dann war es David Kay.

Als rechter Republikaner war Kay in den achtziger Jahren unter Reagan im Pentagon tätig. 1991 gelang es der ersten Bush-Regierung, ihn vor Beginn des Golfkriegs an die Spitze des Nuklearwaffeninspektionsteams der Internationalen Atomenergieagentur in Wien zu hieven. Er verlor diesen Posten bei der UN-Agentur 1992 nach einer Reihe von Provokationen und wegen seiner kaum verschleierten engen Beziehungen zur CIA. Von ihm "entdeckte" Dokumente, die angeblich die Existenz eines aktuellen irakischen Atomprogramms belegen sollten, stellten sich später als Fälschungen heraus.

In der Zeit vor der Invasion im Irak war Kay in den Nachrichtensendungen der Kabelkanäle allgegenwärtig, wo er für das Ziel der Bush-Regierung, einen "Regimewechsel" trommelte.

Bevor Kay wieder bei der CIA anheuerte, war er erster Vizepräsident der Science Applications International Corporation (SAIC) in San Diego, einem wichtigen Rüstungslieferanten, der sowohl im Rahmen des Heimatschutzprogramms als auch beim Wiederaufbau des Irak lukrative Aufträge an Land ziehen konnte. Kay soll weiterhin Großaktionär dieser Firma sein.

Wenn selbst eine solche Person nicht in der Lage war, einen Bericht vorzulegen, der die Behauptungen der Bush-Regierung über Massenvernichtungswaffen stützt, dann kann das nur heißen, dass es im amerikanischen Militär- und Spionageestablishment Elemente gibt, die sich nicht daran beteiligen wollen, die amerikanische Öffentlichkeit zu belügen.

Die Bush-Regierung hat ein geheimes Budget von weiteren 620 Millionen Dollar beantragt, um die fruchtlose Jagd der ISG nach Massenvernichtungswaffen weiter zu finanzieren. Die Frage liegt auf der Hand, ob dieses Geld für einen Versuch benutzt werden soll, Beweise zu konstruieren, wo es keine gibt.

Kays Bericht hat den Vorwürfen neue Nahrung gegeben, dass die Regierung bewusst gefälschte Erkenntnisse benutzt hat, um ihr seit langem feststehendes Ziel - die Eroberung des Irak - zu erreichen.

Senator John D. Rockefeller IV. aus West Virginia, der führende Demokrat im Geheimdienstausschuss des Senats, sagte, der Bericht widerspreche vor dem Krieg erhobenen Behauptungen, wonach der Irak eine unmittelbare Gefahr darstelle. "Haben wir falsch gelesen oder haben sie uns irregeführt, oder haben wir es einfach falsch verstanden?" fragte er. "Jede Antwort ist schlecht."

Es gibt nur eine politisch glaubwürdige Schlussfolgerung, aber die Demokraten sind zu feige, sie öffentlich zu ziehen. Die Bush-Regierung hat bewusst nachrichtendienstliche Erkenntnisse gefälscht, um eine Bedrohung durch den Irak glaubhaft erscheinen zu lassen und die Massenopposition gegen einen Aggressionskrieg zu überwinden.

Das irakische Volk hat dieses Verbrechen mit Zehntausenden Toten und Verstümmelten bezahlt, während amerikanische Soldaten Tag für Tag als Ergebnis des wachsenden Widerstands gegen die illegale koloniale Besatzung getötet werden. Die Hunderte Milliarden Dollar, mit denen die Besetzung des Irak und die Profite von Firmen mit guten politischen Beziehungen, wie Halliburton und Bechtel, finanziert werden, müssen die arbeitenden Menschen in Amerika durch Angriffe auf ihren Lebensstandard, auf Sozialprogramme und Arbeitsplätze aufbringen.

Der Bericht der ISG, der unwiderlegbar beweist, dass die Bush-Regierung das amerikanische Volk über die Gründe für den Krieg belogen hat, zeigt die dringende Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung, die zur Absetzung und Anklage aller Verantwortlichen für diesen Krieg führen muss. Die Forderung nach einer solchen Untersuchung muss mit der Forderung nach dem sofortigen und bedingungslosen Rückzug aller US-Truppen aus dem Irak verbunden werden.

Siehe auch:
Bush lügt über irakische Waffen um seinen Krieg durchzusetzen
(5. Februar 2003)
Washingtons Vorwand für eine Invasion im Irak
( 4. Juli 2002)
Parlamentsausschuss kann Blair nicht vom Vorwand der Lüge entlasten
( 15. Juli 2003)

 

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Der Ausbruch des Militarismus und die Krise des amerikanischen Kapitalismus

Von Barry Grey
21. August 2003
aus dem Englischen (21. Juli 2003)

Die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party (Australien) hielten am 5. und 6. Juli im australischen Sydney eine internationale Konferenz ab, die unter der Überschrift stand "Die politischen Lehren aus dem Krieg im Irak: Eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse".

Am 1. und 2. August veröffentlichten wir Teil 1 und 2 des Beitrages des Nationalen Sekretärs der australischen Socialist Equality Party, Nick Beams, "Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus" und am 16. August den Beitrag des Delegierten der deutschen Partei für Soziale Gleichheit, Stefan Steinberg, "Europa in der Sackgasse".

Im folgenden veröffentlichen den Beitrag des Delegierten der Socialist Equality Party (USA) und Mitgliedes der internationalen Redaktion der WSWS , Barry Grey.

Ich freue mich sehr, dieser Konferenz die herzlichen brüderlichen Grüße der Socialist Equality Party (USA) überbringen zu dürfen. Diese Konferenz ist Teil einer Reihe öffentlicher Veranstaltungen der World Socialist Web Site, der Socialist Equality Party und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale auf drei Kontinenten, die sich zur Aufgabe stellt, die Lehren aus der amerikanisch-britischen Invasion im Irak zu ziehen - einem Ereignis, das einen Wendepunkt in der Weltpolitik markiert.

Wie viele von Euch wissen, haben wir bisher Veranstaltungen in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien abgehalten. Diese Treffen sollen die Arbeit der WSWS voranbringen, den internationalen Kader und die weltweit wachsende Leserschaft zu informieren und politisch zu entwickeln und Antworten auf die brennenden Fragen der Gegenwart zu geben: Wachsender Militarismus, Angriffe auf demokratische Rechte, zunehmend aggressive Attacken auf den Lebensstandard und die Bedingungen der arbeitenden Massen. Die Veranstaltungen und täglichen Veröffentlichungen der WSWS sind Teil einer konzentrierten Praxis, deren Ziel es ist, die Bedingungen für den Aufbau einer internationalen Arbeiterbewegung zu schaffen, die sich auf das große Erbe des Marxismus und ein revolutionäres sozialistisches Programm stützt. Diese Reihe internationaler Konferenzen markiert einen wichtigen Fortschritt in diesem Kampf.

Die Ereignisse, die sich seit der US-geführten Invasion im Irak entwickeln, scheinen einen Aphorismus unserer Vorfahren zu bewahrheiten: Wen die Götter vernichten wollen, machen sie erst wahnsinnig.

Mit ihrem Vorgehen im Irak haben sich die USA selbst in die größte Krise seit dem Vietnamkrieg manövriert. Die Erklärungen aus Washington schwanken zwischen Aufschneiderei, Wirrnis und Widersprüchlichkeit. Bushs Machoausruf: "Schlagt nur zu" hat die Familienangehörigen von US- Soldaten empört, die ihre Söhne und Töchter jetzt in eine immer blutiger werdende Polizeimaßnahme verstrickt sehen, deren Ende nicht abzusehen ist.

Einen offensichtlichen Beleg für den wachsenden Ärger und die Desillusionierung im Militär selbst lieferte die Titelseite der New York Times vom 4. Juli mit der Schlagzeile "Der Ärger der Soldatenfamilien wächst": "Die Frustration wurde in Fort Stewart kürzlich so groß, dass ein Oberst, der zu 800 aufgebrachten Ehepartnern - die meisten von ihnen Ehefrauen - sprach, aus der Sitzung eskortiert werden musste. ‚Sie weinten, flehten, riefen und schrieen nach der Rückkehr ihrer Ehemänner’, so Lucia Braxton, die Direktorin des Community Service in Fort Stewart. Anzeichen für den Unmut in den Militärstützpunkten mehren sich: Einer Meinungsumfrage vom letzten Dienstag zufolge ist die Anzahl derer, die den Verlauf des Krieges negativ bewerten, rapide von 13 Prozent im Mai auf nun 42 Prozent angestiegen. Im Verhältnis dazu sank die Anzahl derer, die den Verlauf des Krieges positiv bewerten, von 86 Prozent im Mai und 70 Prozent vor einem Monat auf jetzt 54 Prozent... ‚Es hieß, die Soldaten würden von Beifall klatschenden Mengen begrüßt werden. Doch wo sind diese Leute?’, fragte Kim Franklin, deren Mann einer Artillerieeinheit angehört."

Die USA sind von der raschen Zuspitzung der militärischen Situation im Irak völlig überrascht worden. Die Kluft, die die militaristische Clique in Washington von den Empfindungen der breiten Bevölkerung trennt, wurde in jüngsten Bemerkungen von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld deutlich, der in seiner unnachahmlich zynischen Manier den engstirnigen und politisch desorientierten Standpunkt der Machthabenden verkörpert.

Rumsfeld ließ verlauten, dass die Verluste auf US-Seite bisher "vernachlässigbar" seien und dass die Soldaten im Irak sicherer seien als Bürger, die in einigen Städten der USA nachts durch die Straßen gehen. Diese Bemerkung gehört in die Kategorie: "Dann sollen sie halt Kuchen essen." Sie ist nicht nur bezeichnend für die Blindheit und Arroganz des Führungspersonals der US-Regierung, sondern auch für den Zustand der amerikanischen Städte.

Der US-Prokonsul Paul Bremer und andere zivile wie militärische Sprecher vertreten zur selben Zeit zwei grundverschiedene Theorien: der bewaffnete Widerstand gegen die amerikanische -britische Besatzung sei unorganisiert und das Werk versprengter Gruppen; und die alte baathistische Elite ziehe weiterhin die Fäden, vielleicht sogar nach direkten Anweisungen von Saddam Hussein.

Obwohl der rückständige und ignorante Charakter Bushs und seiner Gefolgsleute bekannt war, erstaunt es, wie wenig Sorgfalt und Vorbereitung sie auf die Kolonisation eines der wichtigsten Länder im Nahen Osten verwandten. Diese Unüberlegtheit und Blindheit sind symptomatisch für etwas, das tief in der kapitalistischen Gesellschaft der USA wurzelt. Zwei Dinge lassen sich mit Sicherheit voraussagen: Erstens werden die USA immer brutaler und barbarischer vorgehen, Mordanschläge, Massaker und nazi-ähnliche Vergeltungsmaßnahmen eingeschlossen, zweitens wird das ganze Unterfangen am Ende in einem Desaster für den US-Imperialismus enden.

Der Konsens über die globale Hegemonie der USA

Warum gab es so wenig Opposition im politischen und Medienestablishment gegen die illegale und unprovozierte Einnahme und Besetzung des Irak? Warum sind sich alle Fraktionen der politischen Elite, taktische Differenzen und künstlich aufgebauschte Dispute ausgenommen, "im Krieg gegen den Terrorismus" einig? Wieso haben sie sich fraglos hinter eine offen imperialistische und kolonialistische Außenpolitik gestellt?

Der Leitartikel in der aktuellen Ausgabe von Foreign Affairs bringt Licht in diese Fragen. Das Thema dieser Ausgabe des Magazins, des wahrscheinlich meistgelesenen Journals zur US-amerikanischen Außenpolitik, das vom Council on Foreign Relations herausgegeben wird, lautet "Nach Saddam". Der Leitartikel steht unter der Überschrift "Die Sicherung des Golfes" und wurde von Kenneth Pollack verfasst, Direktor der Forschungsabteilung des Saban-Zentrums für Politik im Mittleren Osten, das der Brookings Institution angehört. Die Brookings Institution gilt, gemessen an den gegenwärtigen politischen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten, als liberaler Think Tank. Pollack, ein Demokrat, arbeitete in der Clinton-Regierung als Direktor für Angelegenheiten des Persischen Golfs im Dienste des Nationalen Sicherheitsausschusses.

Unter der Überschrift "Es geht ums Öl, Dummkopf" schreibt er: "Amerikas Hauptinteresse am Persischen Golf ist die Sicherung der freien und stabilen Förderung der Ölvorkommen aus der Region im großen Maßstab."

Nachdem er zugegeben hat, dass sich der Irakkrieg vor allem ums Öl drehte, versucht er das eben Zugegebene wieder abzustreiten: "Dies hat nichts mit den Verschwörungstheorien gegen die Bush-Regierung im Vorfeld des aktuellen Kriegs gemein. Die US-Interessen erschöpfen sich nicht darin, ob der Preis für Benzin zwei oder drei Dollar beträgt oder ob Exxon anstelle von Lukoil oder Total den Vertragszuschlag bekommt. Die Vereinigten Staaten sind nicht von der Menge von Öl abhängig, die vom Golf oder von sonst wo importiert wird."

Pollack betrachtet hier eine US-Ölverschwörung nur aus einem recht beschränkten Blickwinkel, um sie besser leugnen zu können. Aber ist es, selbst von seinem Standpunkt aus betrachtet, für die US-Interessen wirklich so unerheblich, ob der Benzinpreis zwei oder drei Dollar beträgt oder ob es Exxon statt Lukoil oder Total gelingt, die Verträge für das irakische Öl abzuschließen? Wohl kaum. Das politische Fortbestehen der Bush-Regierung könnte sehr wohl vom Benzinpreis abhängen, selbst ohne Eintreten der drohenden Rezession mit all ihren sozialen und politischen Implikationen.

Pollack fährt fort: "Der Grund für das gerechtfertigte und legitime Interesse der Vereinigten Staaten an der umfangreichen und preiswerten Förderung des Öls am Persischen Golf ist schlicht und ergreifend, dass die Weltwirtschaft in den letzten 50 Jahren auf der Grundlage reicher und billiger Ölvorkommen errichtet wurde. Wenn diese Basis verloren ginge, würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen."

Mit anderen Worten: Die USA besetzen den Irak als uneigennützige, altruistische Schutzpolizei der Weltwirtschaft. (In den Schriften solcher Experten fallen die universellen Interessen der Menschheit stets mit denen Amerikas zusammen - so wie sie von der politischen und wirtschaftlichen Elite gesehen werden.)

Pollack schreibt dann: "Heute kommen etwa 25 Prozent der globalen Ölproduktion aus dem Persischen Golf, Saudi Arabien allein hält daran einen Anteil von 15 Prozent - eine Zahl, die in den kommenden Jahren eher steigen als sinken wird. In der Golfregion liegen mehr als zwei Drittel der nachgewiesenen weltweiten Ölreserven, die sich zu einem absurd niedrigen Preis fördern lassen. Ein Barrel Öl aus Saudi Arabien kostet nur ein Fünftel und ein Zehntel so viel wie einer aus Russland." (Man kann sich vorstellen, wie Pollack die Hände reibt und ihm das Wasser im Munde zusammenläuft.)

"Wegen des Stellenwerts des saudischen Öls und der saudischen Kapazitäten", fährt Pollack fort, "würde ein plötzlicher Ausfall des saudischen Ölnetzwerks den Weltmarkt lähmen und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch heraufbeschwören, der mindestens so verheerend wie die Große Depression der 30er Jahre, wenn nicht noch schlimmer, wäre. Deswegen ist die Tatsache, dass die USA nicht den größten Teil ihres Öls aus dem Persischen Golf importieren irrelevant: Sollten die saudischen Ölvorkommen versiegen, würde der Ölpreis steigen, die amerikanische Wirtschaft zerstören und damit auch jede andere Wirtschaft."

Im Anschluss fasst Pollack die Beweggründe für die politische und militärische Hegemonialstellung der USA im Mittleren Osten und am Persischen Golf zusammen: "Aber den Vereinigten Staaten genügt es nicht, den Ölfluss aus dem Persischen Golf aufrechtzuerhalten, sie wollen ebenfalls alle potentiell feindlichen Staaten daran hindern, Kontrolle und Macht über die Region und ihre Ressourcen zu gewinnen, um der Welt Schutzgeldzahlungen abzupressen."

Man beachte die Formulierung "alle potentiell feindliche Staaten". Wen hat er da im Sinn? (Weiter unten im Artikel bezeichnet er China als "Außenseitermacht", die versucht sein könnte, "in den trüben Gewässern des Golfs zu fischen". Bemerkenswerterweise betrachtet er die Vereinigten Staaten nicht als "Außenseitermacht".). Die Formulierung "potentiell feindliche Staaten" deckt alles und jeden ab! Mit anderen Worten, die Vereinigten Staaten müssen die unilaterale Dominanz über die gesamte Region anstreben. Selbstverständlich können die USA selbst nicht beschuldigt werden, "Macht zu gewinnen" oder "der Welt Schutzgeldzahlungen abzupressen".

Doch Pollack geht noch weiter: "Die USA sind aufgrund der geostrategisch zentralen Lage nahe dem Mittleren Osten, Zentralasien, Ostafrika und Südasien daran interessiert, militärischen Zugang zur Golfregion zu besitzen. Wenn den Vereinigten Staaten der Zugang zur Golfregion verwehrt wird, könnte ihr Einfluss in anderen Schlüsselgebieten der Welt stark beschnitten werden. (Große Teile des Kriegs gegen Afghanistan wurden von Militärbasen im Persischen Golf geführt.)"

Nachträglich fügt er noch hinzu: "Die Tragödie des 11. Septembers hat den Vereinigten Staaten vor Augen geführt, dass sie ein Interesse daran haben, die terroristischen Gruppen, die in dieser Region aus dem Boden wachsen, auszumerzen."

Hier zeigt sich ein Konzept der globalen Hegemonie der USA. Es enthält ein bedeutendes Element von politischer Desorientierung und Verrücktheit. Wie sollen die USA ein solches Imperium errichten und aufrechterhalten? Im Irak hat sich bereits deutlich gezeigt, dass die herrschende Klasse Amerikas keine Antwort auf diese Frage hat und auch nicht haben kann, denn ein solches Vorhaben ist unrealisierbar.

Trotzdem veranschaulicht Pollacks manische Vision den Konsens der amerikanischen herrschenden Klasse. Angefangen bei der New York Times über die Washington Post bis hin zum Wall Street Journal stimmt man trotz aller Differenzen darin überein, dass Amerikas Griff nach der globalen Hegemonie legitim ist. Auch die Demokratische Partei ist damit einverstanden. Ihre Unterstützung für den Krieg und ihre Kriecherei vor der Bush-Regierung ist nicht nur ein Merkmal ihrer Feigheit. Sie unterstützt die grundlegende Ausrichtung der Außenpolitik. Wenn der Demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore im Jahre 2000 das Weiße Haus bezogen hätte, gäbe es wenig Grund zu der Annahme, dass der Krieg im Irak nicht stattgefunden hätte. Er hätte allenfalls etwas andere Formen angenommen.

Die Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus

Was verbirgt sich hinter dieser kolossalen Hybris?

Der wichtigste Grund ist die Krise des Weltkapitalismus, dessen Widersprüche ihren konzentrierten Ausdruck in der Krise des amerikanischen Kapitalismus finden. Seit fast vier Jahrzehnten ist die Bourgeoisie mit chronischer Stagnation und dem Niedergang der Profitrate konfrontiert, und dies besonders in den Schlüsselindustrien. Beginnend während der Zeit der Carter-Regierung in den 70er, dann nachdrücklicher unter Reagan und seinen Nachfolgern hatte die herrschende Klasse der USA versucht, diesem Problem dadurch zu begegnen, dass sie den Klassenkompromiss der 50er und 60er Jahre mehr und mehr abbaute und die Ausbeutung der amerikanischen und internationalen Arbeiterklasse enorm verstärkte.

Innenpolitisch führte dies zu Massenarbeitslosigkeit, Angriffen auf die Gewerkschaften und Lohnkürzungen verbunden mit der Deregulierung der Industrie, Steuersenkungen für das Großkapital und die Reichen und Angriffen auf das Sozialsystem. In der Außenpolitik bedeutete das eine immense Aufrüstung und die Wende zu einer wesentlich aggressiveren Konfrontationspolitik gegenüber der Sowjetunion sowie militärische Interventionen auf der ganzen Welt. Gleichzeitig drückten die USA die Marktpreise für Rohstoffimporte, womit der Bankrott der Dritten Welt beschleunigt wurde.

Doch auch durch den intensivierten Militarismus nach außen und die soziale Reaktion im Inneren gelang es letztendlich nicht, die zugrunde liegende Krise zu überwinden. Der Boom in den 80er und 90er Jahren gründete sich zunehmend auf offensichtliche Hochstapelei und Kriminalität. Betrügerei, Korruption und Bilanzfälschungen nahmen unbekannte Ausmaße an, während die Wirtschaftselite den Großteil ihrer Profite durch das Frisieren ihrer Bücher erzielte. Dies zog nicht nur das unausweichliche Platzen der Spekulationsblase im Jahre 2000 nach sich, sondern schwemmte die rückständigsten, räuberischsten und reaktionärsten Kräfte aus Wirtschaft und Politik an die Oberfläche der Gesellschaft.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion räumte ein bedeutendes Hindernis für die Befriedigung der imperialistischen Ambitionen der herrschenden Klasse Amerikas aus dem Weg. Es versetzte die Vereinigten Staaten in die Lage uneingeschränkter militärischer Überlegenheit und ermutigte diejenigen Kräfte des politischen Establishments, die glaubten, dass der amerikanische Kapitalismus seine gesamten Probleme mit militärischer Gewalt lösen könne. Nach dem ersten Golfkrieg fasste das Wall Street Journal in einem Leitartikel die zentralen Schlüsse dieser Intervention wie folgt zusammen: "Mit Gewalt geht es!"

Die politische und soziale Krise in den USA hat sich durch den Einfluss dieser Faktoren auf die gesellschaftliche Struktur enorm verschärft. Die Rücksichtslosigkeit und absolute Kompromisslosigkeit der Bush-Regierung kann nicht losgelöst von den kaum verhüllten krassen Widersprüchen der amerikanischen Gesellschaft verstanden werden.

Die wichtigsten Aspekte der sozialen und politischen Krise in den Vereinigten Staaten sind die starke Konzentration von Reichtum und die rasante Zunahme von sozialer Ungleichheit. In der vergangenen Woche veröffentlichte die Steuerbehörde einen Bericht, der zeigte, dass die 400 größten Steuerzahler mehr als 1 Prozent des gesamten Volkseinkommens des Jahres 2000 auf sich konzentrierten. Alles in allem konnten diese 400 Einzelpersonen in diesem einen Jahr 70 Milliarden Dollar einstreichen. Damit hat sich der Anteil der 400 größten Steuerzahler am Volkseinkommen in den vorangegangenen 8 Jahren mehr als verdoppelt.

Das Durchschnittseinkommen dieser Personen belief sich auf 174 Millionen Dollar, das Vierfache des Werts von 1992 (46,8 Millionen Dollar). 174 Millionen Dollar sind das 3.500fache des durchschnittlichen Jahreseinkommens der unteren 90 Prozent der Bevölkerung.

Ich zitiere nun aus anderen aktuellen Statistiken: Das durchschnittliche Netto-Einkommen eines Haushalts des ärmsten Fünftels der Bevölkerung fiel von 9.300 Dollar im Jahre 1979 auf 8.700 Dollar im Jahre 1997. Das mittlere Fünftel verbesserte sich während dieser 18 Jahre geringfügig von 31.700 auf 33.200 Dollar. Im selben Zeitraum erhöhte sich das Einkommen des obersten Prozents von 256.400 auf 644.300 Dollar um 150 Prozent.

Diese Zahlen vermögen nur ein farbloses und schematisches Bild der fortschreitenden sozialen Polarisierung in den USA zu zeichnen. Die Bereicherung der Finanzoligarchie ist das Ergebnis dieses Prozesses des letzten Vierteljahrhunderts. Alle offiziellen Institutionen, die drei Zweige der Regierung, die beiden großen Parteien, die Medien und die Universitäten wurden ganz offen zu Knechten dieser Oligarchie. Sie wirken mit, den Reichtum dieser schmalen Elite zu sichern und zu vergrößern.

Die beiden bürgerlichen Parteien und die Regierung sind weder fähig noch willens sich einer sozialen Krise zu stellen, die riesige Ausmaße annimmt. Beinahe alle Bundesstaaten sind zahlungsunfähig. Die Städte stehen vor massiven Haushaltsdefiziten, und weit über 40 Millionen Amerikaner besitzen keine Gesundheitsversicherung. Die öffentlichen Schulen stehen kurz vor dem Zusammenbruch, Hunger und Obdachlosigkeit nehmen zu ... Man könnte diese Aufzählung beliebig fortsetzen.

Unter diesen Bedingungen können demokratische Institutionen und Methoden nicht überleben, und so erlebte das letzte Vierteljahrhundert einen gewaltigen Verfall der Demokratie in den USA. Allein die Ereignisse des letzten Jahrzehnts, das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton und seine Regierung, der Diebstahl der Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 oder die Aneignung umfassender verfassungswidriger Vollmachten durch die Exekutive nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Washington und New York belegen, dass es buchstäblich keinen Bereich des politischen Establishments gibt, der ernsthaft um die Aufrechterhaltung demokratischer Rechte besorgt wäre. Die Bush-Regierung setzt sich aus den rechtesten Kräften zusammen, für die parlamentarische Prozeduren und verfassungsgemäße Grenzen lediglich Hindernisse bedeuten, die nur so lange toleriert werden können, wie sie als Feigenblatt für die Durchsetzung einer Politik dienen, die gegen die breite Masse der Bevölkerung gerichtet ist.

Der Niedergang der Mittelklasse und die Proletarisierung weiter Bevölkerungsschichten einerseits und der Aufstieg einer Finanzoligarchie andererseits bilden den Hintergrund für die fortschreitende Entkräftung der bürgerlichen Institutionen und führen letztendlich zu einem Zusammenbruch des politischen Systems als Ganzem. Weder die Republikanische noch die Demokratische Partei besitzen eine Massenbasis in der breiten Bevölkerung. Immer weniger Amerikaner gehen zur Wahl - ein Symptom für die krasse Entfremdung der breiten Massen vom gesamten politischen Establishment und die de-facto-Entmündigung der Arbeiterklasse.

Die politische Elite (einschließlich der Medien), die nur über eine winzige Basis in der Bevölkerung verfügt und von den Sorgen und Erfahrungen der breiten Masse völlig abgeschnitten ist, ist zunehmend einem Treibhausklima ausgesetzt, in dem sich erbitterte politische und fraktionelle Kämpfe entwickeln. Doch zu den wirklichen gesellschaftlichen Entwicklungen haben sie nur eine äußerst geringe Beziehung.

Dies erklärt weitgehend den konfusen und fehlgeleiteten Zustand des politischen Geschehens und der Debatten und Kommentare in den USA. Es herrscht die solipsistische Ansicht vor - und die Bush-Regierung bringt dies am klarsten zum Ausdruck -, dass die objektive Realität nicht von Bedeutung sei. Oder präziser ausgedrückt ist die Realität das, was man aus Lügen, Propaganda, Medienmanipulation und durch die Unterdrückung aller abweichenden Ansichten konstruieren kann. Wenn man beispielsweise die Nation auf der Grundlage von Lügen in den Krieg führen kann, dann ist die Existenz einer Massenopposition dagegen unbedeutend. Genau so unbedeutend ist der antikoloniale Kampf der irakischen Massen. Was zählt, ist, womit man in einem gegebenen Moment ungestraft davonkommen kann.

Dies ist die Mentalität von Kriminellen und Scharlatanen, aus denen die gegenwärtige Regierung der Vereinigten Staaten besteht. Ist es vielleicht ein Zufall, dass Bushs größter Geldgeber in der Wirtschaftswelt der diskreditierte Vorstandsvorsitzende von Enron, Kenneth Lay, war? Dieselbe Grundeinstellung, die das Fälschen von Bilanzen, den Betrug an Anlegern und die Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Fakten sanktionierte und zum Zusammenbruch von Enron führte, ist in die Politik übertragen der Modus operandi der Bush-Regierung.

Die Erhöhung der Lüge zum höchsten Gut der US-Politik ist ein sicheres Indiz dafür, dass das bestehende System vor seinem Ende steht. Das gesamte politische System ist derart verrottet und marode, dass keine ernsthafte Frage offen diskutiert werden kann. Einige Themen sind aus dem politischen Diskurs und aus den Medien vollständig verschwunden: Das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton, die gestohlene Wahl des Jahres 2000, die Ereignisse des 11. September 2001 und was ihnen vorausging, die Anschläge mit den Milzbranderregern im Herbst 2001, die Wirtschaftskriminalität und ihre Verknüpfung mit den führenden Kräften der Bush-Regierung, die Litanei der Lügen, die den Irakkrieg rechtfertigen sollten, die sozialen Auswirkungen der Steuervergünstigungen Bushs für die Reichen und der Krieg gegen demokratische Rechte.

Der surreale Eindruck, den die US-Politik hinterlässt, ist Ausdruck der sozialen Krise des verfallenden amerikanischen Kapitalismus. Es gibt große Unterschiede zwischen der heutigen Situation in den USA und der Stellung der zaristischen Autokratie im Russland der Jahrhundertwende. Und trotzdem gibt eine Passage von Leo Trotzkis brillanter Analyse der ersten Russischen Revolution den morbiden Charakter der gesellschaftlichen und sozialen Krise des amerikanischen Systems hervorragend wieder. Am Ende des ersten Kapitels des Buches Ergebnisse und Perspektiven erklärt Trotzki die Unausweichlichkeit einer revolutionären Krise wie folgt:

"Die finanzielle und militärische Macht des Absolutismus bedrückte und blendete nicht nur die europäische Bourgeoisie, sondern auch den russischen Liberalismus und nahm ihm jeglichen Glauben an die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung mit dem Absolutismus. Die militärische und finanzielle Macht des Absolutismus schloss, so schien es, jede Möglichkeit einer russischen Revolution aus.

In Wirklichkeit traf das genaue Gegenteil ein ... So schloss die administrative, militärische und finanzielle Macht des Absolutismus, die ihm die Möglichkeit gegeben hatte, sich im Widerspruch zur gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten, nicht nur die Möglichkeit einer Revolution nicht aus, wie der Liberalismus dachte, sondern sie machte die Revolution im Gegenteil zum einzigen Ausweg - dabei war der Revolution ein um so radikalerer Charakter sicher, je mehr die Macht des Absolutismus den Abgrund zwischen sich und der Nation vertiefte.

Der russische Marxismus kann mit Recht stolz darauf sein, dass er allein die Richtung dieser Entwicklung aufgezeigt und ihre allgemeinen Formen zu einer Zeit vorhergesagt hat, da der Liberalismus sich von dem utopischen ‚Praktizismus’ nährte und die revolutionäre Bewegung der Volkstümler von Phantasmagorien und Wunderglauben lebte." (Trotzki, Leo: "Ergebnisse und Perspektiven" in "Die Permanente Revolution", Essen 1993, S. 205 ff)

Ähnlich ist es heute. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie in den USA und die Diskreditierung all ihrer Institutionen, die offensichtliche Unfähigkeit des politischen Systems, auch nur eine der drängenden Fragen der arbeitenden Bevölkerung anzugehen, die Korruption und der Verfall der politischen Parteien weisen auf das Entstehen einer gesellschaftlichen und politischen Krise von revolutionärem Ausmaß. Wir müssen dies erkennen und uns auf die größte Krise der amerikanischen Geschichte vorbereiten, die viele Millionen in den Kampf einbeziehen wird. Die Aufgabe der World Socialist Web Site und der Socialist Equality Party ist es, die politischen, intellektuellen und moralischen Vorraussetzungen dafür zu schaffen, dieser Massenbewegung die politische Klarheit zu verschaffen, die sie benötigt, um einen bewussten Kampf um die Macht zu führen.

Wir können stolz darauf sein, dass wir das Heranwachsen der Krise des amerikanischen und des Weltkapitalismus verfolgt und analysiert haben. Und im Gegensatz zum heruntergekommenen und betrügerischen Liberalismus und der demoralisierten "Linken", die aus Emigranten aus der alten Protestbewegung besteht, verstehen wir die revolutionäre Rolle, die die Arbeiterklasse in den bevorstehenden historischen Auseinandersetzungen übernehmen kann und wird.

Siehe auch:
Internationale Konferenz der WSWS/SEP: Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus (1)
(1. August 2003)
Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus (2)
( 2. August 2003)
Der Irakkrieg und die Blair-Regierung
( 6. August 2003)
Europa in der Sackgasse
( 16. August 2003)

 

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Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus

Teil 1

Von Nick Beams
1. August 2003
aus dem Englischen (10.Juli 2003)

Wir veröffentlichen hier den ersten Teil des Einleitungsreferats zu der Konferenz"Politische Lehren des Irakkriegs: Eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse", die von World Socialist Web Site und Socialist Equality Party am 5. Und 6. Juli im australischen Sydney durchgeführt wurde. Vorgetragen wurde dieses Referat von Nick Beams, Mitglied der internationalen Redaktion des WSWS und Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party Australiens. Der zweite Teil folgt morgen.

Drei Monate, nachdem die amerikanische Armee Bagdad eingenommen hat, wächst die Einsicht, dass die Welt in eine neue Ära eingetreten ist. Es wird immer deutlicher, dass die Invasion im Irak nur ein Abschnitt bzw. ein Gesichtspunkt einer viel weitreichenderen Strategie war: Des Versuchs der amerikanischen herrschenden Elite, mittels der Bush-Administration eine völlige Neuordnung der Weltpolitik vorzunehmen.

Die Eroberung des Irak ist Teil einer Strategie, die auf Weltherrschaft abzielt. Wir erleben heute, was Trotzki einst eine "wahrhaft vulkanische Eruption des amerikanischen Imperialismus" nannte. Ziel dieser Konferenz ist es, die Triebkräfte aufzudecken, die diesem Phänomen zugrunde liegen - das tatsächlich eine neue Ära der Weltgeschichte einläutet - und auf der Grundlage dieser Analyse eine Strategie und eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse zu entwickeln.

Ich werde später in diesem Bericht auf die grundlegenden ökonomischen Triebkräfte eingehen, die hier am Werk sind. Doch zunächst können wir uns ein ungefähres Bild ihrer Stärke machen, indem wir Umfang, Tiefe und Tragweite der Lügen untersuchen, auf denen der Überfall auf den Irak basierte.

Es ist unmöglich, hier alle Lügen der Bush-Administration aufzulisten, die von ihren Verbündeten in der ganzen Welt wiederholt und ausgeschmückt wurden - hauptsächlich der Blair-Regierung in England und der Howard-Regierung hier in Australien. Aber schon ein kurzer Rückblick wird deutlich machen, daß seit dem Regime Adolf Hitlers nichts derartiges mehr zu sehen war.

In der einen oder anderen Weise engagierten sich die USA während des größten Teils der letzten dreizehn Jahre in militärischen Aktionen gegen den Irak. Die jüngste Phase hiervon begann unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September, als Schlüsselfiguren der Regierung, insbesondere Verteidigungsminister Rumsfeld und sein Vertreter Wolfowitz klarmachten, die Zeit sei nun reif für das, was schon seit einiger Zeit zur Debatte gestanden hatte - die komplette militärische Besetzung des Irak.

Es kam zwar zu einer gewissen Verzögerung, und Afghanistan wurde als erstes Ziel auserwählt. Doch im Sommer 2002 war die Entscheidung gefallen, einen Angriff auf den Irak vom Zaun zu brechen, und man begann mit den Vorbereitungen zu seiner Durchführung. Man entschied, daß es nicht möglich sei, die Invasion nach dem selben Muster wie in Afghanistan zu organisieren, also durch amerikanische Luftangriffe und Spezialkräfte sowie die Ausnutzung bewaffneter Oppositionsgruppen am Boden. Nötig sei diesmal eine Invasion amerikanischer Truppen, die einige Monate an Vorbereitungen erfordern würde.

Während der Truppenaufmarsch voranschritt, bestand die politische Vorbereitung in einer Kampagne über die Massenvernichtungswaffen des Irak. Diese bestand aus drei Komponenten: dass der Irak über chemische und biologische Waffen verfüge, die entweder in der Region oder gar gegen Amerika selbst eingesetzt werden könnten; dass der Irak Atomwaffen besäße, oder zumindest ein sehr weit fortgeschrittenes Programm zu ihrer Entwicklung und Weitergabe; und drittens dass der Irak mit internationalen Terrororganisationen, besonders Al Kaida zusammenarbeite und bereit sei, diesen Massenvernichtungswaffen auszuhändigen.

Am 26. August 2002 sprach Vizepräsident Dick Cheney die Warnung aus, Saddam Hussein sei "bewaffnet mit einem Arsenal dieser Terrorwaffen", die benutzt werden könnten, um "Amerikas Freunde in der Region unmittelbar zu bedrohen und um die Vereinigten Staaten oder irgendeine andere Nation nuklearer Erpressung zu unterwerfen". Am 26. September 2002 behauptete Rumsfeld, er habe "hieb- und stichfeste" Beweise für die Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Kaida. Als Bush am 7. Oktober den Kongress um die Mittel zur Kriegführung ersuchte, hielt er eine lange Rede, in der er die Gründe des Krieges darlegte. Er behauptete, der Irak habe versucht, sich hochstabile Aluminiumröhren zu beschaffen, die zur Urananreicherung benötigt werden, und daß dies einen Beweis sei für die "Wiederaufnahme seines Atomwaffenprogramms."

Doch damit nicht genug. "Wir haben durch unsere Geheimdienste auch aufgedeckt, dass der Irak eine wachsende Flotte von bemannten und unbemannten Flugzeugen besitzt, die dazu benutz werden könnten, chemische oder biologische Waffen über einem weiten Gebiet einzusetzen. Wir befürchten, dass der Irak nach einem Weg sucht, diese unbemannten Flugzeuge für Missionen mit dem Zielgebiet der Vereinigten Staaten einzusetzen."

Alle Untersuchungen dieser "Aluminiumröhren" zeigten, dass sie nicht von der Art waren, die in Gaszentrifugen eingesetzt werden könnten. Zu diesem Schluss gelangten sowohl die Spezialisten des Außenministeriums und des Energieministeriums, als auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA).

Was die chemischen und biologischen Waffen anbelangt, berichtete die Defense Intelligence Agency (Geheimdienst der Verteidigung) im September 2002: "Ein wesentlicher Teil des chemischem Waffenmaterials, der Vorläufersubstanzen, der Munition und der Produktionsausrüstung des Irak wurde zwischen 1991 und 1998 zerstört... Es gibt keine nachprüfbaren Informationen darüber, ob der Irak chemische Waffen produziert und anhäuft, oder darüber, wo der Irak seine Produktionsstätten für Chemiewaffen aufbaut bzw. aufbauen wird."

Doch die bezeichnendste unter all diesen Lügen war die über die versuchten Uraneinkäufe in der afrikanischen Republik Niger. Ende 2002 hatte die Geschichte mit den "Aluminiumröhren" begonnen, sich abzunutzen. Etwas mit mehr Substanz musste her.

Folglich erklärte Bush in seiner Rede zur Lage der Nation am 28. Januar dieses Jahres: "Die britische Regierung hat erfahren, dass Saddam Hussein kürzlich versuchte, bedeutende Mengen Urans aus Afrika zu bekommen... Saddam Hussein hat diese Aktivitäten nicht glaubwürdig erklärt. Er hat ganz klar viel zu verbergen."

Tatsächlich gab es nichts zu erklären, und die Bush-Administration wusste dies. Ein Jahr zuvor, im Januar 2002 hatte das Büro von Vizepräsident Cheney Dokumente erhalten, die vorgaben, versuchte Uraneinkäufe in Niger zu belegen. Cheney ordnete Nachforschungen an. Diese wurden durchgeführt von einem Diplomaten, der in drei afrikanischen Ländern als Botschafter gedient hatte. Im Februar 2002 berichtete der Diplomat dem Außenministerium und der CIA, dass die Dokumente Fälschungen seien. Sein Bericht wurde an den Vizepräsidenten weitergereicht.

In einem Artikel des New Republic vom 30. Juni stellt der ehemalige Botschafter fest: "Sie wussten, dass die Niger-Geschichte eine schlechte Lüge war. Sie waren nicht überzeugend mit den Aluminiumröhren und fügten diese Geschichte hinzu, um ihre Sache überzeugender zu gestalten."

Als die IAEA nach Powells Rede vor dem UN-Sicherheitsrat vom 5. Februar endlich die Dokumente erhielt, stellte sich sehr schnell heraus, dass sie gefälscht waren. Egal - am 16. März griff Cheney die IAEA an und erklärte in "Meet the Press": "Tatsächlich glauben wir, dass [Saddam] wieder Atomwaffen hergestellt hat."

Keine Frage: Das Bush-Regime und seine Verbündeten haben eine Goebbels-artige Lügenkampagne aufgezogen.

Doch wenn wir die Bedeutung dieser Kampagne analysieren, sollten wir uns vor Augen führen, dass wir es bei der Konfrontation mit den staatlich gefertigten Lügen nicht mit einer ethischen oder moralischen Angelegenheit, sondern mit einem politischen Phänomen zu tun haben.

Der Gebrauch der Lüge geht aus der Natur des Staates selbst hervor. Der kapitalistische Staat gibt sich für die Verkörperung der Interessen der gesamten Gesellschaft aus. Doch in einer Gesellschaft, die in Klassen mit unvereinbaren Interessen gespalten ist, ist dies eine Fiktion - wenn auch eine, die mit einem gewissen Grad an Plausibilität aufrechterhalten werden kann, solange die herrschende Klasse in der Lage ist, eine Politik von Kompromiss und sozialen Reformen zu verfolgen.

Die Tatsache, dass das Lügen nun zu einem integralen Bestandteil des Modus Operandi des Staates geworden ist, zeigt, dass die Interessen der herrschenden Klasse - und die zu ihrer Durchsetzung nötige Politik - in direkten Konflikt mit den Interessen und Bedürfnissen der breiten Bevölkerungsmassen geraten ist.

Wenn das Bush-Regime die Wahrheit über seine Handlungen sagen wollte - wie würde sich das anhören? Dass sie ein Programm hat, das auf weltweite wirtschaftliche und militärische Dominanz der Vereinigten Staaten abzielt; dass alle Mittel, inklusive militärische, gegen diejenigen angewandt werden, die versuchen, sich der Erreichung ihrer Ziele entgegenzustellen; und dass die Absicht des "Kriegs gegen den Terror" nicht die ist, bedrückende Gefahren vom amerikanischen Volk abzuwenden, sondern vielmehr im eigenen Land und international die Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Programm durchgeführt werden kann.

Die "Nationale Sicherheitsstrategie" der Bush-Administration

Derartige Ziele können nicht offen im Angesicht der gesamten Bevölkerung diskutiert werden - hier herrscht die Lüge. Doch in den herrschenden Eliten müssen sie diskutiert und ausgearbeitet werden, und so finden wir in den offiziellen Dokumenten und Veröffentlichungen verschiedener Think Tanks eine bemerkenswert offene Darlegung der US-Strategie.

Die "Nationale Sicherheitsstrategie", das Herzstück der außenpolitischen Perspektiven, welche die Bush-Administration im September vergangenen Jahres veröffentlichte, macht klar, dass die Ressourcen der ganzen Welt den ökonomischen Interessen der USA untergeordnet werden sollen, und dass militärische Gewalt benutzt werden wird, um einzurichten und aufrechtzuerhalten, was einem globalen Imperium gleichkommt.

Die großen Kämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts, so beginnt das Dokument, endeten im Sieg der Freiheit und etablierten damit ein einziges tragbares Erfolgsmodell: "Freiheit, Demokratie und freies Unternehmertum". Folglich verpflichtet sich die Bush-Administration, die Hoffnung auf "Demokratie, Entwicklung, freien Markt und freien Handel in jeden Winkel der Welt zu bringen"

Schon auf der ersten Seit wird das Ziel der weltweiten Dominanz ausgesprochen: "Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA wird auf einem ausgesprochen amerikanischem Internationalismus basieren, der die Einheit unserer Werte und unserer nationalen Interessen widerspiegelt."

Dieses Vorhaben wird jedoch nicht einfach zum materiellen Nutzen der amerikanischen Interessen unternommen. Es gereicht auch zum Wohle der Welt, denn es trifft sich, dass die US-Agenda des "freien Marktes" das einzige "tragbare Modell" für globale Entwicklung darstellt - welch ein glückliches Zusammentreffen!

Solche glücklichen Zusammentreffen gab es schon früher. Das "Freihandelsimperium", unter dem Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert die Welt ordnete, war verbunden mit der großen "zivilisatorischen Mission", die es unternahm. Heute sollen wir ein Imperium der "Freiheit" bekommen, in dem der "freie Markt" zur Grundlage der Moral selbst erklärt wird.

In den Worten der "Nationalen Sicherheitsstrategie": "Das Konzept des "Freihandels" erstand als ein moralisches Prinzip, noch bevor es zu einer Säule der Ökonomie wurde. Wenn du etwas herstellen kannst, das andere schätzen, sollst du in der Lage sein, es ihnen zu verkaufen. Wenn andere etwas herstellen, was du schätzt, sollst du in der Lage sein, es zu kaufen. Dies ist wahre Freiheit, die Freiheit einer Person - oder einer Nation - sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen." (S.18)

Es ist zweifelhaft, ob "Freiheit" jemals so explizit als die "Freiheit, Geld zu verdienen" definiert wurde und dies dann die Grundlage der Moral ausmachen sollte. Wenn das Dokument von Personen spricht, die kaufen und verkaufen, muss man natürlich anmerken, dass diese "Individuen" nicht diejenigen sind, an die John Locke am Ende des siebzehnten Jahrhunderts dachte. Sie bestehen vielmehr in gigantischen "juristischen Personen" - transnationalen Konzernen, die Wohlstand und Ressourcen weit außerhalb der Reichweite nicht nur von Individuen, sondern von ganzen Nationen kontrollieren.

Doch "freier Markt" und "freier Handel", auf die das Dokument als "Schlüsselprioritäten unserer nationalen Sicherheit" besteht, garantieren von sich aus nicht die Vormachtstellung der USA. Wie soll mit potentiellen Rivalen verfahren werden?

Hierin ist das Dokument sehr deutlich. Amerikas Dominanz wird durch überwältigende militärische Macht aufrechterhalten werden.

"Es ist an der Zeit, die grundlegende Rolle der militärischen Stärke Amerikas zu bekräftigen. Wir müssen unsere Verteidigung auf einen Stand jenseits aller Herausforderungen bringen und dort halten." (S.29) In anderen Worten, die anderen kapitalistischen Mächte sollen nicht einmal in Erwägung ziehen, die Machtbalance irgendwann in der Zukunft verändern zu wollen. "Unsere Kräfte werden stark genug sein, um potentielle Gegner davon abzubringen, eine militärische Aufrüstung zu verfolgen in der Hoffnung, die Macht der Vereinigten Staaten zu übertreffen oder zu erreichen." (S.30)

Für eine derartige Doktrin hatte ein Jahrzehnt zuvor das Dokument "Richtlinie zur Verteidigungsplanung" (DPG) Partei ergriffen, das während der letzten Bush-Administration im Pentagon von Paul Wolfowitz und Verteidigungsminister Dick Cheney ausgearbeitet worden war. Doch als Details daraus durchsickerten, verursachte dies einen derartigen Aufruhr, dass das Dokument zurückgezogen und neu geschrieben werden musste. Zwei Hauptvorwürfe wurden vorgebracht: die DPG machte es allzu deutlich, dass sich die USA darauf vorbereiteten, aus ihren Nachkriegsbündnissen auszusteigen - und dass sie eine Agenda globaler Dominanz betrieben.

Das Dokument wurde zurückgezogen, die Perspektive dahinter nicht. Für fast ein Jahrzehnt führte sie eine quasi unterirdische Existenz. Es war die Strategie des Nicht-Offen-Aussprechens. Zumindest nicht bis zu dem Terroranschlag auf das World Trade Center.

"Die Ereignisse des 11. September," stellt das Dokument der "Nationalen Sicherheitsstrategie" fest, haben den Kontext für Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Hauptzentren weltweiter Macht grundlegend verändert und gewaltige neue Möglichkeiten aufgetan." (S.28)

Dies ist in jeder Hinsicht eine erstaunliche Feststellung. Zum ersten, wie haben die Anschläge des 11. September den "Kontext für Beziehungen" zwischen den USA und andere Großmächten verändert? Schließlich haben diese Mächte ihre volle Solidarität mit den USA erklärt, einschließlich bis dahin unbenutzter Klauseln des NATO-Vertrages. Was das Dokument meinte war, dass es nun möglich sei, den Unilateralismus heraufzubeschwören, der im Zentrum der DPG-Strategie von 1992 gestanden hatte.

Und zweitens, welche "gewaltigen neuen Möglichkeiten" taten sich auf? Wie sollten sich diese Anschläge positiv auswirken? Auf eine entscheidende Weise: Sie boten den herrschenden Eliten der USA die Gelegenheit, mit ihrer globalen Agenda unter dem Banner der "Krieges gegen den Terror" vorzupreschen und Mittel zu entwickeln, die Opposition gegen diese Agenda im eigenen Land zu unterdrücken.

Für den Fall, jemand könnte vermuten, dass dies eine etwas voreingenommene Präsentation sei und dass ich den Fall vielleicht übertrieben darstelle - lasst mich kurz meine Aufmerksamkeit auf eine sehr informative Analyse richten, die sich mit der Bush-Doktrin und den außenpolitischen Aufgaben der Vereinigten Staaten beschäftigt und die von einem ihrer rechtesten Unterstützer stammt, dem American Enterprise Institute.

In einem Artikel vom 31.Januar 2003 schreibt Thomas Donnelly, einer der führenden Leuchten dieser Einrichtung: "...die Bush-Doktrin stellt eine Rückkehr zu den ersten Prinzipien der amerikanischen Sicherheitsstrategie dar. Sie repräsentiert auch die Realitäten internationaler Politik in der Welt nach dem kalten Krieg mit nur noch einer Supermacht. Weiter machen diese zwei Faktoren - die universellen politischen Grundsätze Amerikas und seine beispiellose weltweite Macht - die Bush-Doktrin im Ganzen bedeutender als die Summe ihrer Teile; sie wird sehr wahrscheinlich die Grundlage für die Sicherheitsstrategie der USA während der kommenden Jahrzehnte sein." (Thomas Donnelly, Die Untermauerung der Bush-Strategie)

Donnelly fährt fort und spricht seine Implikationen aus. Die Expansion des "amerikanischen Einflussbereiches" wird "wahrscheinlich weitergehen, sogar noch schneller". Nun, da man begonnen habe, den Nahen Osten zu "reformieren", sei es "schwierig und gefährlich, auf halbem Wege stehenzubleiben" (ebd.).

Diese Doktrin, so betont er, sei keine Verirrung. Es sei vielmehr so: "Amerikaner haben seit jeher eine expansive Sichtweise ihrer Sicherheitsinteressen gehabt und waren immer mehr als willig, militärische Macht auszuüben, wenn das Kräfteverhältnis günstig war." Machtausübung sei für sie "nicht einfach eine Kraft zum Zweck nationaler Größe, sondern für die menschliche Freiheit."

"Alles in allem", fährt er fort, "drängen Amerikas Grundsätze, Interessen und seine systematische Verantwortung sehr stark auf eine aktive und expansive Haltung, die auf strategische Vormachtstellung und eine fortdauernde Bereitschaft zur Nutzung militärischer Macht aus ist. In diesem Kontext, und wenn man bedenkt, wie Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen die normalen Berechnungen des internationalen Machtgefüges stören können, gibt es einen zwingenden Bedarf, dass wir uns die Option des Präventivschlages offen halten, ja die hierzu fähigen Streitkräfte noch vergrößern."

Und was sollten die Gründe sein, einen solchen Präventivschlag zu unternehmen? Im Grunde alles, wovon man glaubt, dass es sich auf die Interessen der Vereinigten Staaten auswirken oder sie beeinträchtigen könnte.

"Die Vereinigten Staaten," betont Donnelly, "müssen sich einen weiter gefassten Begriff von der traditionellen "drohenden Gefahr" zu eigen machen, der auch Gefahren berücksichtigt, die nicht nur ihre direkten Interessen bedrohen, sondern auch ihre Verbündeten, die freiheitliche Weltordnung und die Chancen auf größere Freiheit in der Welt." (ebd.)

In einem Artikel vom 25, März, direkt nach Beginn der Invasion, begrüßt Donnelly den vorangegangenen Konflikt im UN-Sicherheitsrat.

"Das diplomatische Manövrieren, das dem Krieg im Irak vorausging, markiert das unzweideutige Ende der Welt nach dem kalten Krieg. Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, wie die Welt nach dem Irakkrieg geordnet sein wird, doch der grundlegende Widerspruch der Periode von 1989 bis 2003 - das Auseinanderklaffen der globalen Vorherrschaft Amerikas einerseits und der ehemals multipolaren Struktur internationaler Institutionen, besonders der Vereinten Nationen und der NATO andererseits - wurde als die Heuchelei bloßgestellt, die er war. Ironischerweise haben uns die Franzosen einen Gefallen getan, indem sie die Welt in Konfrontation mit den Tatsachen zwangen." (Thomas Donnelly, Eine dauerhafte Pax americana).

Und in einem weiteren Artikel vom 21. Mai feiert er die Bush-Doktrin, "die uns von dem festgefahrenen Gleichgewicht-der-Mächte-Denken der Ära des kalten Krieges und der danach befreit hat" und die durch "ihre Zurückweisung von Eindämmung und Abschreckung... auch die historischen Charakteristika amerikanischer Sicherheitspolitik wieder in den Vordergrund gerückt hat: Eine vorgreifende Verteidigung und die aggressive Verbreitung der Freiheit" (Thomas Donnelly, Die Bedeutung der Operation Iraqi Freedom).

Außenpolitik unter Clinton

Diese Sprache zeigt die beängstigenden Kräfte an, die hier am Werk sind. Aber es wäre falsch zu schlussfolgern, der Ausbruch imperialistischer Gewalt könne einfach auf die Bush-Administration zurückgeführt werden, oder auf die sogenannten Neokonservativen, die eine so herausragende Rolle bei der Formulierung ihrer Agenda spielen.

Vielmehr stellt die Politik des Bush-Regimes die Kulmination von Tendenzen dar, die während der letzten anderthalb Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stetig an Stärke gewonnen haben. Man sieht diese Tendenzen sehr deutlich an der Außenpolitik Clintons.

Obwohl sie nicht Parte ergriff für die Bush-Senior-Doktrin über die "neue Weltordnung", machte die Clinton-Regierung klar, dass sie sich auf aggressive Verfolgung amerikanischer Interessen festgelegt hatte, wenn nötig auf Kosten ihrer angeblichen Verbündeten.

Wie Clinton in einer seiner ersten reden als Präsident betonte, war es nötig, "Amerikas Sicherheit zum vorherrschenden Element zu machen". Amerika müsse "darauf aus sein, die Märkte anderer Nationen zu öffnen und klare und deutliche Regeln zur Ausweitung des Handels aufzustellen" (Anmerkungen von Präsident Clinton auf der American University Centenary Celebration, 26. Februar 1993).

Der öffentliche Aufschrei wegen der "Richtlinien zur Verteidigungsplanung" (DPG), die Wolfowitz in den letzten Jahren der Bush-Administration entworfen hatte, resultierte in einer gewissen Vorsicht bei der Formulierung der außenpolitischen Agenda. Doch die grundlegenden Punkte, die das Dokument aufgebracht hatte - die Notwendigkeit für die USA, sich in Anbetracht des Zusammenbruchs der Sowjetunion eine expansive Außenpolitik zu eigen zu machen - stellte den Kern der Agenda der Clinton-Administration dar.

In einer Rede im September 1993 erklärte Clintons Sicherheitsberater Anthony Lake, die USA stünden an einer historischen Kreuzung: "Wir sind weder am Ende der Zivilisation noch beim Aufprall der Kulturen angekommen, sondern einen Moment ungeheurer demokratischer und unternehmerischer Möglichkeiten. Wir dürfen sie nicht verschwenden."

Amerika war die dominante Macht dieser Ära, mit der bedeutendsten Wirtschaft und dem stärksten Militär. "Auf eine Doktrin der Eindämmung muss eine Strategie der Ausbreitung folgen - der Ausbreitung der freien Gemeinschaft marktwirtschaftlicher Demokratien auf der Welt."

Was das Verhältnis der USA zu anderen Mächten anging, macht Lake deutlich, dass amerikanische Interessen die Agenda bestimmten. "Nur ein vorrangiger Faktor kann darüber entscheiden, ob die USA multilateral oder unilateral handeln sollten, und das sind Amerikas Interessen. Wir sollten multilateral handeln, wo es unseren Interessen dient - und wir sollten unilateral handeln, wenn es unsere Absichten vorwärts bringt. Die einfache Frage auf allen Ebenen lautet: Was funktioniert am besten?" (Anthony Lake, "Von der Eindämmung zur Ausbreitung", John Hopkins University, 21. September 1993).

Wachsende militärische Streitkräfte funktionierten am besten. Wie kürzlich eine Studie bemerkte: "Nicht ruhende Streitkräfte, sondern wachsende Streitkräfte wurden zum Kennzeichen der US-Politik in den 90ern", wobei Clintons zwei Amtszeiten einen "nie dagewesenen Stand militärischer Aktivität" brachten. Eine landesweite Sicherheitsstudie von 1999 deckte auf, dass "seit dem Ende des kalten Krieges sich die USA an fast vier Dutzend militärischen Operationen beteiligt haben... im Gegensatz zu nur 16 während der Periode des kalten Krieges" (Andrew Bacevich, American Empire, 2002, S. 142-143).

Es ist aufschlussreich, die zwei bedeutendsten Felder militärischer Aktivität in dieser Periode zu untersuchen: Den Krieg gegen Jugoslawien um das Kosovo und die andauernden und zunehmenden Angriffe auf den Irak.

Im Kosovokrieg 1999 sahen wir all die Methoden, die vier Jahre später bei der Invasion im Irak entwickelt wurden. Hier bestand die Große Lüge nicht in den "Massenvernichtungswaffen", sondern in den "ethnischen Säuberungen" des serbischen Präsidenten Milosevic, die ihn zum neuen Hitler Europas machten. Inzwischen ist nachgewiesen worden, dass die Bombardements der NATO den Flüchtlingsstrom verursachte, und nicht die sogenannte ethnische Säuberungskampagne.

Dennoch kursierten zu jener Zeit Behauptungen über Zehntausende von Toten. US-Verteidigungsminister William Cohen behauptete sogar, um die 100 000 Männer im wehrfähigen Alter würden vermisst. Nach dem Krieg stellte dann ein britisches Regierungsmemorandum fest, dass 1999 im Kosovo 10 000 Menschen getötet worden waren, nur 2000 von diesen Toten starben vor den Bombardierungen, und von diesen fielen die meisten in Zusammenstößen zwischen der jugoslawischen Armee und den kosovarischen Befreiungstruppen der UCK.

Das sogenannte Abkommen von Rambouillet, das freie Beweglichkeit der NATO-Truppen in ganz Jugoslawien vorsah, wurde mit dem klaren Ziel entworfen, von Serbien abgelehnt zu werden. Dies gab später der damalige kanadische Botschafter in Jugoslawien zu, der feststellte, dass "die Forderung, den NATO-Truppen Zugang zu ganz Jugoslawien zu verschaffen... die jugoslawische Ablehnung garantierte." Wie ein älterer US-Offizieller zu jener Zeit erklärte: "Wir haben die Hürde zu hoch gehängt, als dass Serbien sie hätte nehmen können" (Mark Curtis, Netz von Täuschungen, 2003, S.147).

Wie der Überfall auf den Irak, so wurde auch der Jugoslawienkrieg ohne Billigung der UNO begonnen. Dass dies nicht zur Verurteilung der USA wegen ihres Bruchs internationalen Rechts führte, war der Tatsache zu verdanken, dass sogenannte "linke" und sozialdemokratische Regierungen den Krieg mit der Begründung unterstützten, die Intervention sei notwendig, um die ethnischen Säuberungen zu verhindern. Ein paar Monate später wurden die gleichen Argumente wiederholt, als die gesamte radikale Bewegung der Mittelklasse in Australien zu Protestdemonstrationen auf die Straße ging, um die Intervention Australischer Truppen in Ost-Timor zu fordern.

Bei einer Rede, die er in Chicago hielt, formulierte der britische Premierminister Blair die neue Doktrin des "ethischen Imperialismus". Das dringendste Problem, behauptete Blair, sei, die Umstände zu identifizieren, unter denen die großen Mächte militärische Eingriffe vornehmen sollten. "Die Nichteinmischung wurde lange Zeit als wichtiges Prinzip der internationalen Ordnung gesehen. Und es ist kein Prinzip, das wir allzu bereitwillig über Bord werfen wollen. Ein Staat sollte nicht das Gefühl haben, er hätte das Recht, das politische System eines anderen Staates zu verändern, oder Subversion zu sähen, oder ein bestimmtes Territorium an sich zu reißen, auf dass er seiner Ansicht nach Einfluss haben sollte. Doch das Prinzip der Nichteinmischung muss in mancher wichtiger Hinsicht eingeschränkt werden. Völkermord kann niemals eine rein innere Angelegenheit sein" (Tony Blair, Rede vor dem Chicago Economic Club, 22. April 1999).

Blairs Lügen über die Massenvernichtungswaffen sind eine Fortsetzung seiner Lügen über den Kosovo.

In den Vereinigten Staaten bestanden die sogenannten "linken" und "liberalen" Kräfte, die den Krieg unterstützten, darauf, dass keine ökonomischen Interessen im Spiel seien. Dieser Krieg geschehe aus moralischen Gründen - der Notwendigkeit, die ethnischen Säuberungen zum stoppen.

Doch während die Bombardierungskampagne vom Stapel gelassen wurde, hielt Clinton eine Rede, die auf andere, ökonomische und strategische Gründe hinwies. Wenn es irgendeine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg gäbe, sagte er, dann sei es, dass "wenn unser Land wohlhabend und sicher sein soll, wir ein stabiles, sicheres, freies und vereinigtes Europa brauchen, das ein guter Handelspartner für uns ist. Und wenn wir starke ökonomische Verhältnisse haben wollen, die unsere Fähigkeit beinhalten, auf der ganzen Welt Güter zu verkaufen, muss Europa hierbei eine Schlüsselrolle einnehmen. Und wenn wir wollen, dass andere die Lasten der Führerschaft mit uns teilen, die sich unvermeidlich ergeben werden, dann muss Europa unser Partner sein. Das ist es, worum es bei der Kosovo-Sache geht" (Rede auf der AFSCME Biennial Convention, 23.März 1999).

Wie die World Socialist Web Site damals erklärte, lag die Bedeutung Jugoslawiens darin, dass es am westlichen Ende eines gewaltigen Territoriums lag, das durch den Zusammenbruch der Sowjetunion für imperialistisches Eindringen geöffnet worden war. Wie wichtig diese Region geworden ist, zeigten die folgenden Ereignisse: Der Krieg gegen Afghanistan und die Einrichtung von US-Militärbasen überall in Zentralasien - und nun die Besetzung des Irak und der Versuch, den gesamten Mittleren Osten umzuorganisieren.

Der Konflikt zwischen den USA und den europäischen Mächten hat nicht erst mit der gegenwärtigen Bush-Administration begonnen, sondern spielte eine Schlüsselrolle in der amerikanischen Irakpolitik unter Clinton. Das Sanktionsregime, das nach dem ersten Golfkrieg eingerichtet worden war, wurde aus zwei Gründen beibehalten:

Erstens, wenn sichergestellt worden wäre, dass der Irak entwaffnet sei, wäre die Begründung für die ständige Präsenz von US-Truppen in der Region verloren gegangen. Daher die Behauptungen, der Irak habe die UN-Resolutionen nicht erfüllt und die ständig unternommenen Provokationen.

Zweitens, wenn das Sanktionsregime gelockert worden wäre, hätte dies bedeutet, dass das irakische Öl auf den Markt geworfen worden wäre, riesige Einkünfte wären gewonnen worden, neue Ausbeutungsquellen hätten sich eröffnet.

Nichts davon lag im Interesse der USA. Die Rechte, neue Ölreserven aufzustöbern und auszubeuten, wäre an französische, russische und chinesische Gesellschaften gegeben worden. Mehr noch, Wiederaufbauprogramme, finanziert durch die gewachsenen Öleinkünfte, wären nicht an amerikanische Konzerne, sondern an europäische Firmen gegangen. In anderen Worten, die Aufrechterhaltung der Sanktionen und die Verbreitung der Behauptungen über Massenvernichtungswaffen hatten nichts mit der tatsächlichen Situation im Irak zu tun, sondern erwuchsen aus der wachsenden Rivalität zwischen den USA und ihren Rivalen um die Ausbeutung der Region.

Dieses symbiotische Verhältnis zwischen den militärischen und ökonomischen Interessen der Vereinigten Staaten wurde von Clintons Verteidigungsminister William Cohen sehr deutlich artikuliert. Wirtschaft und Soldaten, behauptete er, teilten dasselbe Interesse an Stabilität. Der fortgesetzte Aufmarsch von US-Streitkräften in Asien, dem mittleren Osten und Europa befähige die USA, "die Umstände in einer Weise zu formen, die für uns vorteilhaft ist und sich stabilisierend auf Regionen auswirkt, wo unser Aufmarsch fortgeschritten ist. So helfen wir, Investitionen und Wohlstand vorwärts zu bringen, und so stärken wir die Kräfte für Frieden und Demokratie." Oder, wie er sich einfacher ausdrückte, "das Geschäft folgt der Flagge". (Siehe Andrew Bacevich, American Empire, S. 128).

Die historische Entwicklung des US-Imperialismus

Die unmittelbare Gelegenheit, ihre Militärmacht auszuweiten, eröffnete sich den USA durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Wenn man dieses Ereignis vor dem Hintergrund der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als ganzes betrachtet, so liegt seine Bedeutung jedoch weniger in einer Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, als im Wegfall der Beschränkungen, die ihr während der zurückliegenden sieben Jahrzehnte auferlegt waren. Eine Untersuchung der Ursprünge und der historischen Entwicklung des amerikanischen Imperialismus macht dies deutlich.

Die Grundlagen für den Aufstieg des amerikanischen Kapitalismus zu weltweiter Vorherrschaft wurden in den Jahrzehnten gelegt, die unmittelbar auf den Bürgerkrieg und den Sieg der aufsteigenden industriellen Bourgeoisie des Nordens folgten. Die nächsten dreißig Jahre brachten das Aufkommen der gigantischen Konzerne - die von den Einzelunternehmen und Familienbetrieben die Führungsrolle in der ökonomischen Entwicklung übernahmen -, die Öffnung des gesamten Kontinents für die Entwicklung von kapitalistischer Industrie und Landwirtschaft, die Entwicklung neuer Formen der Industrieproduktion - den Anfang der Fließbandproduktion, die das Gesicht der Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts prägen sollte - und, ebenso wichtig, die Entwicklung neuer Formen des korporativen Managements.

Am Ende des Jahrhunderts war der amerikanische Kapitalismus bereit, neben anderen kapitalistischen Großmächten seinen "Platz an der Sonne" einzunehmen. Dass er dort angekommen war, verkündete er durch den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 und die darauf folgende Kolonialisierung der Philippinen, die 200.000 Filipinos das Leben kostete.

Ungeachtet der Eroberung der Philippinen verlangte Amerika weniger ein formelles Imperium, als vielmehr die "offene Tür" - die Freiheit der amerikanischen Wirtschaft, in jeden Winkel der Welt einzudringen. Diese Politik reflektierte die Position der Vereinigten Staaten: Zu der Zeit, als sie bereit waren, die Weltbühne zu betreten, war der Globus bereits unter den anderen kapitalistischen Großmächten aufgeteilt worden, Frankreich, Deutschland und vor allem das Britische Imperium. Die Grundsätze von Freiheit und Demokratie, die die aufsteigende amerikanische Macht proklamierte, spiegelte daher ihr unmittelbares Interesse an offenen Märkten und freiem Handel wieder.

Wenn militärische Interventionen durchgeführt wurden, dann zielten sie nicht auf Durchsetzung eines bestimmten amerikanischen Belanges, sondern auf Unterstützung der universellen Prinzipien der Zivilisation.

Wie Präsident Theodore Roosevelt es im Dezember 1904 während einer Auseinandersetzung um die sichere Kontrolle über den Panamakanal ausdrückte: "Es stimmt nicht, dass die Vereinigten Staaten irgendwelchen Landhunger verspüren, oder irgendwelche Projekte gegenüber anderen Nationen der westlichen Hemisphäre unterhalten, die nicht ihrem Wohlergehen dienlich sind. Alles, was dieses Land will, ist seine Nachbarn in Stabilität, Ordnung und Wohlstand zu sehen."

Ein Land, das sich anständig verhalte, seine Ordnung aufrechterhalte und seine Schulden bezahle, habe von den USA nichts zu befürchten. Doch "chronisches Fehlverhalten" oder Unvermögen, das in einem Verlust der "Bande der Zivilisation" resultiere, werde letztlich "das eingreifen einer zivilisierten Nation" erfordern. Zudem gebe es kein über allem stehendes Recht auf Unabhängigkeit. "Es ist eine Binsenweisheit, dass jede Nation... die ihre Freiheit und Unabhängigkeit behalten will, unbedingt realisieren muss, dass das Recht auf diese Unabhängigkeit nicht von der Verantwortung getrennt werden kann, guten Gebrauch davon zu machen" (Siehe Oscar Barck Hrsg., Amerika in the World, Meridian Books 1961, S.80).

Diese Empfindungen wurden von der herrschenden Elite weithin geteilt. Wie der zukünftige Präsident Woodrow Wilson in einer Vorlesung 1907 erklärte: "Seit der Handel nationale Grenzen ignoriert und der Hersteller darauf besteht, die Welt zum Markt zu haben, muß ihm die Flagge dieser Nation folgen, und die Türen der Nationen, die verschlossen sind, müssen eingetreten werden."

Mehr noch. Laut dem zukünftigen Anwalt des Selbstbestimmungsrechts der Nationen mussten "Konzessionen, die Finanzleute erhalten haben, von Staatsministern behütet werden, auch wenn dabei die Souveränität unwilliger Nationen mit Füßen getreten wird" (zitiert nach: William Appleman Williams, Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie, S. 72).

Amerikas Eintreten in die Weltarena wurde getrieben von seiner dynamischen wirtschaftlichen Ausbreitung. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges hing die amerikanische Wirtschaft von der Weltwirtschaft als ganzer ab. Ihre Industrien waren, wie Wilson während seiner Wahlkampagne von 1912 erklärte, bis zu einem solchen Punkt expandiert, dass "sie aus ihren Nähten platzen werden, wenn sie keine Absatzmöglichkeiten auf den Märkten der Welt finden werden." Binnenmärkte, so betonte er, rechten nicht mehr aus. Amerika brauchte ausländische Märkte. Die Nachfrage des Krieges half, diese Märkte zu schaffen und machte die USA vom Schuldner zum Gläubiger.

Als Amerika in den Krieg eintrat, schlug es sich auf die Seite der universellen Prinzipien von Freiheit, dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen und, vor allem, der Demokratie. Doch in Wirklichkeit konnten die amerikanischen Industrien und Banken keine Niederlage der Alliierten verkraften, so sehr waren sie finanziell involviert.

Amerikas Ziele wurden im Herbst 1917 mit bemerkenswerter Offenheit vom ehemaligen Präsidenten Roosevelt zusammengefasst. Die Vereinigten Staaten, so betonte er, zögen nicht in den Krieg, "um die Demokratie zu sichern". Amerika beabsichtige vielmehr, die Welt "sicher für uns selbst" zu machen. "das ist unser Krieg, Amerikas Krieg. Wenn wir ihn nicht gewinnen, müssen wir damit rechnen, dass Deutschland eines Tages freie Hand hat. Deshalb, lasst uns Deutschland schlagen, in unserem eigenen Interesse" (zitiert nach Arno Mayer, Die politischen Ursprünge der modernen Diplomatie, S. 344-345).

Der US-Imperialismus und die Sowjetunion

Der Krieg brachte einen gewaltsamen Wechsel des Machtgefüges. Amerika hatte, nicht länger im Schatten des Britischen Imperiums stehend, die Hegemonie im kapitalistischen Weltsystem erlangt. Doch gerade als es die Führungsrolle übernahm, geriet der Kapitalismus in eine tiefe Krise.

Die historische Bedeutung des Krieges lag darin, dass er in Form von Massensterben und Zerstörung, Hunger und Kälte das bestätigte, was die marxistische Theorie bereits vorhergesagt hatte. Das System des Privateigentums und des kapitalistischen Nationalstaates, das im neunzehnten Jahrhundert der Entwicklung der Menschheit einen solchen Schwung verliehen hatte, war nun historisch überholt. Unter dem Kapitalismus nahm der Aufruhr der globalen Produktivkräfte gegen den Nationalstaat die Form eines schonungslosen Kampfes der Großmächte um die Weltherrschaft an. Es konnte keine friedliche Lösung dieses Konflikts geben, wie Lenin erklärte. Jeder Frieden, egal wie lange er dauern würde, würde lediglich ein Zwischenspiel sein, bis die ökonomische Entwicklung selbst die Verhältnisse zwischen den Großmächten verändern und einen neuen Kampf in Bewegung setzen würde.

Während die globale Hegemonie der kapitalistischen Ordnung nach Westen über den Atlantik rückte, erwuchs im Osten eine Herausforderung der gesamten imperialistischen Weltordnung, und zwar in Form der Russischen Revolution und der Errichtung der Sowjetunion.

Die Revolution führte zu einer instinktiven Antwort der USA und der anderen kapitalistischen Mächte. Sie versuchten, sie im Keime zu ersticken, indem sie bewaffnete Kräfte zur Unterstützung der Weißen im Bürgerkrieg schickten, die ohne die Hilfe von außen, wie Churchill einmal zugab, rasch besiegt worden wären. Das einzige, was die USA davon abhielt, weiterzugehen, war die Angst, ihre eigenen Soldaten könnten vom Bolschewismus "infiziert" werden.

Während der nächsten Jahrzehnte unterlag die Sowjetunion einer furchtbaren Degeneration, angefangen mit der Niederlage der Linken Opposition 1927, und kulminierend in den Moskauer Prozessen von 1936-38, die in der Festigung der Macht durch die konterrevolutionäre stalinistische Bürokratie endeten.

Doch solange die Sowjetunion existierte, errichtet durch die größte soziale Revolution der Geschichte, stellte sie ein Hindernis für die USA dar, ihre globalen Ambitionen zu verwirklichen.

Nach dem zweiten Weltkrieg kam der Plan wieder auf, die Sowjetunion "aufzurollen". In Anbetracht der allgegenwärtigen Propaganda über Massenvernichtungswaffen, die präventives Handeln der USA erfordern sollen, muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass der verheerendste Einsatz dieser Waffen - nämlich die zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki - nicht von dem Wunsch motiviert war, Japan zu besiegen - was bereits geschehen war - sondern um eine Bedrohung der Sowjetunion aufzubauen.

Während der Zeit des Kalten Krieges gab es in amerikanischen Militär- und Regierungskreisen einen ständigen Konflikt darum, ob die USA gegenüber der Sowjetunion eine Politik der "Eindämmung" (Containment) oder des "Aufrollens" (Rollback) verfolgen sollten. Die sogenannte "Eindämmungs-Strategie dominierte, wenn auch nicht ohne dass es Versuche gegeben hätte, einen offenen Konflikt hervorzurufen, sowohl im Koreakrieg, als auch während der Kubakrise.

Im Großen und Ganzen setzte sich die Eindämmungsstrategie in den Jahren des Nachkriegsbooms durch, als die Vereinigten Staaten eine Politik der sozialen Reformen verfolgten. Doch als der Boom zu Ende ging und den sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen der 70er Jahre Platz machte, wurden die USA aggressiver. Die Entspannungspolitik wurde aufgegeben und während der späten 70er Jahre eine Politik der Destabilisierung der Sowjetunion ins Leben gerufen - durch den massiven Aufbau und die Bewaffnung islamischer Fundamentalistengruppen in Afghanistan. Das Ziel war, wie Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der Architekt dieser Politik, inzwischen zugegeben hat, die Sowjetunion in einen Vietnam-ähnlichen Schlamassel zu ziehen.

In den 80er Jahren zielten sowohl die bedeutend gestiegenen Rüstungsausgaben der Reagan-Administration, als auch die Aufstellung von Cruise Missiles in Europa und das Star-Wars-Projekt darauf ab, die Sowjetunion in eine Krise zu stürzen und ihren Kollaps herbeizuführen. Doch noch bevor diese Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten konnten, entschied die sowjetische Bürokratie unter Gorbatschow, die UdSSR zu liquidieren und die Restauration des Kapitalismus zu organisieren. Für die USA war nun die Gelegenheit gekommen, zum ersten Mal seit ihres Aufstieges zur Weltmacht ihre Ziele zu verfolgen, ohne dass dem Gebrauch militärischer Gewalt Grenzen gesetzt waren.

Von daher ist es vielleicht nicht überraschend, dass Vieles aus der Sprache der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Vereinigten Staaten ihre imperiale Mission gerade begannen, heute sein Echo findet in den diversen Erklärungen der Bush-Administration.

Im Januar 1917, an der Schwelle zum Kriegseintritt der USA, betonte Wilson, die Bedingungen für einen gerechten Frieden umreißend, dass die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zwar amerikanische Prinzipien und Grundsätze seien, aber auch "die Prinzipien und Grundsätze aller vorwärts blickenden Männer und Frauen, überall, in jeder modernen Nation, in jeder aufgeklärten Gemeinschaft. Sie sind die Prinzipien der Menschheit und müssen obsiegen."

Oder, wie Bush es ausdrückte: "Das zwanzigste Jahrhundert endete mit nur einem überlebenden Modell menschlichen Fortschritts", und "wenn die gemeinsamen Rechte und Bedürfnisse von Männern und Frauen gesichert werden, dann gibt es keinen Aufprall der Zivilisationen" (Bushs Rede zur Abschlussfeier in West Point, 1. Juni 2002).

Als er im April 1917 Amerikas Eintritt in den Ersten Weltkrieg verkündete, bestand Wilson darauf, daß Amerika kämpfen würde "ohne Boshaftigkeit und selbstsüchtige Ziele, ohne irgend etwas für uns selbst zu verfolgen außer dem, was wir mit freien Völkern teilen wollen."

Ebenso erklärt Bush in der Nationalen Sicherheitsstrategie: "Die USA genießen heute eine Position unerreichter militärischer Stärke sowie riesigen wirtschaftlichen und politischen Einflusses. In Einklang mit unserem Erbe und unseren Grundsätzen, benutzen wir unsere Stärke nicht, um auf unilaterale Vorteile zu drängen. Statt dessen wollen wir ein Machtgefüge schaffen, dass die menschliche Freiheit bevorzugt: Bedingungen, unter denen alle Nationen und alle Gesellschaften sich für die Erträge und die Herausforderungen politischer und ökonomischer Freiheit entscheiden können" Bushs Präambel zur Nationalen Sicherheitsstrategie).

Fortsetzung - Teil 2

 

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Die Politische Ökonomie des amerikanischen Militarismus

Teil 2

Von Nick Beams
2. August 2003
aus dem Englischen (11.Juli 2003)

Dies ist der zweite und abschließende Teil der Eröffnungsrede der Konferenz "Politische Lehren aus dem Irakkrieg - eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse", die von World Socialist Web Site und Socialist Equality Party am 5. und 6. Juli im australischen Sydney abgehalten wurde. Sie wurde gehalten von Nick Beams, der Mitglied der internationalen Redaktion des WSWS und Nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in Australien ise. Teil 1 wurde gestern veröffentlicht.

Wenn auch der Zusammenbruch der Sowjetunion für die USA die Bedingungen schuf, lang gehegte strategische Ziele zu erreichen, so können wir dennoch den Ausbruch imperialistischer Gewalt nicht lediglich den politischen Motivationen der günstigen Gelegenheit zuschreiben.

Bedeutsame Veränderungen der internationalen Beziehungen - welche die Struktur der kapitalistischen Weltordnung betreffen, denn um diese geht es hier - haben ihre Ursprünge in den ökonomischen Fundamenten der kapitalistischen Gesellschaft und sind in letzter Analyse der Ausdruck von deren tiefgreifenden Widersprüchen.

Dies stellt uns vor eine Herausforderung: Wie können wir das Verhältnis zwischen den ökonomischen Triebkräften des kapitalistischen Systems und dem historischen Prozeß begreifen und aufhellen?

Im Falle des Irakkrieges haben viele Oppositionelle, darunter die World Socialist Web Site, richtigerweise auf die entscheidende Bedeutung des Öls hingewiesen. Es ist keine Frage, dass die Errichtung globaler Hegemonie durch den US-Imperialismus die Kontrolle über die Ölvorkommen der Welt erfordert, besonders über die des Mittleren Ostens. Doch darüber hinaus muss betont werden, dass die ökonomischen Triebkräfte an der Wurzel dieses Krieges und des weiterreichenden Anlaufs zu globaler Hegemonie weit mehr umfassen als Öl. Letzten Endes haben sie ihre Wurzeln in der historischen Krise des Kapitalismus selbst.

Um dies zu demonstrieren, müssen wir das Verhältnis zwischen Vorgängen im Herzen der kapitalistischen Produktionsweise - vor allem der Gesetze der Akkumulation von Profit - und dem Verlauf der historischen Entwicklung betrachten.

Ich will damit nicht sagen, dass jedes geschichtliche Ereignis auf die unmittelbare Wirkung eines ökonomischen Interesses zurückgeführt werden kann. Es geht vielmehr darum, zu zeigen, wie ökonomische Vorgänge jeder historische Epoche ihre Form gegeben haben und die Probleme aufgeworfen haben, die dann auf politischer Ebene angegangen werden.

Wenn wir die ökonomische Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft betrachten, sehen wir zunächst die Wirkung des kommerziellen Zyklus - das Aufeinanderfolgen von Booms, Krisen, Stagnation und Erholung - der seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts offensichtlich wurde.

Doch wenn wir einen Schritt zurück treten und einen weiteren Blickwinkel einnehmen, dann sehen wir, dass zusätzlich zu den kurzzeitigen Zyklen längerfristige Prozesse existieren, die den ökonomischen Verhältnissen ganzer Epochen ihr Gesicht geben.

Der Nachkriegsboom, der sich von 1945 bis 1973 erstreckte, ist qualitativ verschieden von der gegenwärtigen Periode. Ebenso ist die Periode von 1873 bis 1896 anders als die von 1896 bis 1913. Die erstere ging als die Große Depression des neunzehnten Jahrhunderts in die Geschichte ein, während letztere als die "belle époque", die schöne Zeit bekannt ist. Und diese Periode wiederum war natürlich völlig anders als die 20er und 30er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, trotz aller Anstrengungen der kapitalistischen Regierungen, die Expansion der Vorkriegszeit wieder aufzunehmen.

Worin besteht nun die ökonomische Grundlage dieser längeren Phasen, oder Segmente dessen, was Trotzki die Kurve der kapitalistischen Entwicklung nannte?

Sie wurzeln in fundamentalen Prozessen. Die treibende Kraft der kapitalistischen Wirtschaft ist die Extraktion von Mehrwert aus der Arbeiterklasse. Dieser wird durch das Kapital in Form von Profit akkumuliert. Kapitalistische Produktion, so müssen wir betonen, ist keine Produktion zum Gebrauch, oder für wirtschaftliches Wachstum als solches, sondern zur Erwirtschaftung von Profit - der Basis der Kapitalakkumulation. Die Rate, zu welcher diese Akkumulation stattfinden kann, ungefähr bemessen durch die Profitrate, ist der Schlüsselindikator des Wohlstands der kapitalistischen Wirtschaft, und ihr grundlegendster Regulator.

Die Perioden des Aufschwungs in der kapitalistischen Entwicklungskurve sind gekennzeichnet durch Produktionsregime und -methoden, die eine Akkumulation in steigenden oder stetigen Raten sichern. In solchen Perioden hört der kommerzielle Zyklus nicht auf, zu wirken. Tatsächlich funktioniert er in einer Weise, die zu dem Aufschwung beiträgt. Rezessionen sondern weniger effiziente Produktionsmethoden aus und machen den Weg frei für fortgeschrittenere Prozesse, die die Profitrate zum Wachsen bringen. Daher sind in der Periode des Aufschwungs die Booms länger, Rezessionen dagegen kürzer, und sehr oft bereiten sie nach ihrem Vorübergehen den Weg für eine noch größere Expansion.

In einer Periode des Abschwungs aber sehen wir den gegenteiligen Effekt. Die Booms sind kürzer und schwächer, während die Perioden von Rezession und Stagnation tiefer und länger reichen.

Ökonomische Umschwünge

Es stellt sich nun folgende Frage: Was verursacht den Übergang von einer Entwicklungsphase zur anderen? Klar ist, daß es nicht der kommerzielle Zyklus als solcher sein kann - der in allen Perioden am Werk ist - obwohl der Umschwung oft durch eine Rezession oder einen Boom angekündigt wird.

Der Umschwung von einer Periode des Aufschwungs zu einer des Abschwungs hat seine Wurzeln im Produktionsprozess selbst. Sowie die Akkumulation von Kapital voranschreitet, und die Kapitalmasse im Verhältnis zu der in Bewegung gesetzten Arbeit ansteigt, tendiert die Profitrate zum Fallen. Dies geschieht, da die einzige Quelle von Mehrwert (und letztlich von jedem Profit) in der lebendigen Arbeit der Arbeiterklasse besteht, und eben diese lebendige Arbeit geht zurück im Verhältnis zu der Kapitalmasse, zu deren Vermehrung sie herangezogen wird. Natürlich kann dieser Tendenz durch ein Wachstum der Arbeitsproduktivität entgegengewirkt werden, was auch geschieht. Dennoch wird unter einem gegebenen Produktionsregime oder Produktionssystem ein Punkt erreicht, an dem kein weiteres Anwachsen der Arbeitsproduktivität mehr erreicht werden kann, oder nur ein so geringes Anwachsen, dass es den tendenziellen Fall der Profitrate nicht ausgleichen kann. An diesem Punkt beginnt die Kurve der kapitalistischen Entwicklung sich nach unten zu wenden.

Diese Analyse weist auf die Bedingungen hin, die für einen Aufschwung notwendig sind. Er kann nur stattfinden durch die Entwicklung neuer Methoden, welche die Natur des Produktionsprozesses selbst verändern. Anders ausgedrückt markieren solch neuen Methoden nicht nur eine quantitative, sondern eine qualitative Veränderung. Es kommen einem eine Reihe von Beispielen in de Sinn: Im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts brachte die sogenannte zweite industrielle Revolution, die Geburt der industriellen Massenfertigung, schließlich einen neuen Aufschwung ins Rollen, der Mitte der 1890er begann. Früher in jenem Jahrhundert hatten der Gebrauch von Dampfkraft und die Einführung der Eisenbahnen riesige neue Märkte geöffnet, was in einem Aufschwung resultierte, der die Depression der 1830er und -40er Jahre beendete und die Bedingungen für den Boom des Viktorianischen Zeitalters Mitte des Jahrhunderts schuf.

Das schlagendste Beispiel der kapitalistischen Entwicklungskurve für den Umschwung einer Periode des Abschwungs in eine des Aufschwungs liefert der Nachkriegsboom nach dem Zweiten Weltkrieg. Er war das Ergebnis des völligen Neuaufbaus der europäischen Wirtschaft, und außerdem der Verbreitung neuer und fortgeschrittenerer Methoden der Fließbandproduktion, die während der ersten zwei Jahrzehnte des Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entwickelt worden waren. Diese Methoden, die aufgrund des von ihnen geschaffenen enormen Zuwachses an Mehrwert das Potential hatten, eine weitere kapitalistische Expansion zu bringen, konnten bis zur Mitte des Jahrhunderts in Europa nicht zur Anwendung kommen. Der Markt war zu eng, zerschnitten durch nationale Beschränkungen und Grenzen, durch protektionistische Zölle und Kartelle, die die Produktion hemmten.

Von daher lag der Schlüssel zum Wiederaufbau nach dem Krieg nicht nur in der US-Kapitalspritze von 13 Milliarden Dollars aus dem Marshall-Plan. Er lag im Wiederaufbau des Marktes, der damit einherging - in der fortschrittlichen Abschaffung innerer Barrieren in Europa, die zur Entwicklung neuer, produktiverer Methoden befähigte. Das Ergebnis war der längste Aufschwung in der Geschichte des Weltkapitalismus.

Doch dieses "goldene Zeitalter" löste nicht die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft, und wie es unvermeidlich war, brachen sie wieder an die Oberfläche - in Form von fallenden Profitraten, tiefer Rezession und Finanzkrisen. Der Anfang der 70er Jahre leitete eine neue Periode des Abschwungs in der kapitalistischen Entwicklungskurve ein.

Dieser Abschwung liefert die Rahmenbedingungen für die gewaltige und fortdauernde Reorganisation und Umstrukturierung der kapitalistischen Weltwirtschaft während des letzten Vierteljahrhunderts. Ganze Industriesektoren wurden in den größten kapitalistischen Ländern dichtgemacht, neue Computertechnologie eingeführt und, was am wichtigsten ist, neue Formen des Produktions- und Informationstransfers entwickelt, was die Globalisierung des Produktionsprozesses selbst ermöglichte.

Mit diesen Veränderungen einher ging eine endlose Offensive gegen die soziale Lage der Masse von arbeitenden Menschen: Das ständige Sinken der Reallöhne, der Abbau von Vollzeitstellen und deren Ersetzung durch Teilzeit- oder Gelegenheitsarbeit, Einschnitte in Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystemen, sowie die Privatisierung ehemals öffentlicher Einrichtungen.

In den früheren Kolonialländern haben wir während der vergangenen zwei Jahrzehnte die völlige Zerstörung der vorherigen Programme zur nationalen Wirtschaftsentwicklung gesehen, und stattdessen die Auferlegung von Programmen zur Strukturanpassung durch den Internationalen Währungsfond (IWF) im Auftrag der weltweit größten Banken. Dies schuf Bedingungen, unter denen heute beispielsweise die afrikanischen Staaten südlich der Sahara mehr Geld für Schuldentilgung aufwenden müssen, als für Gesundheit und Bildung zusammen.

All diese Maßnahmen zielten auf das Ansteige der Profitmasse ab. Doch sie haben es nicht geschafft, einen neuen kapitalistischen Aufschwung zu bewirken. Untersuchen wir die Schlüsselmaßzahl - die Profitrate. Zwischen 1950 und den Mittsiebzigern schätzt man, daß die Profitrate in den USA von 22% auf ungefähr 12% fiel - ein Abfall um fast 50%. Seither hat sie lediglich etwa ein Drittel ihres vorangegangenen Abfalls wettgemacht, und das obwohl die Reallöhne vermutlich um etwa 10% fielen. Nach einem kurzen Anstieg Mitte der Neunziger, trat ab 1997 wiederum ein scharfer Rückgang ein.

Der Kapitalismus der 1990er

Lasst uns den Kapitalismus der 90er-Jahre aus einem weiteren Blickwinkel betrachten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde von einem Jubelgeschrei der Sprecher der Kapitalistenklasse begrüßt. Wie hat sich der Kapitalismus während der letzten anderthalb Jahrzehnte gemacht?

Es besteht kein Zweifel: Seine Stellung hat sich dramatisch verschlechtert. In den USA beträgt die Auslastung der Industriekapazitäten etwa 72%; die Investitionen bieten kein Anzeichen eines Wachstums, und die ganze Wirtschaft wird nur am Laufen gehalten durch eine Politik der Bundesbank, die auf einen Nullzins hinausläuft. Man befürchtet einen finanziellen Kollaps; das Defizit im Bundeshaushalt beträgt 300 Milliarden Dollar und steigt weiter; die Mehrzahl der Bundesstaaten steht an der Schwelle zum Bankrott. Das Außenhandelsdefizit liegt bei über 500 Milliarden Dollar und droht, weiter zu steigen. Um ihre Zahlungslücke zu finanzieren, sind die USA gezwungen, eine Million Dollar pro Minute aus dem Rest der Welt zu ziehen, den ganzen Tag und an jedem Tag.

Japan tritt nun in sein zweites Jahrzehnt der Stagnation ein, wobei immer wieder Fragen hochkommen, ob seine größten Banken und Finanzinstitutionen noch zahlungsfähig sind. In Europa ist das Wirtschaftswachstum quasi zum Stillstand gekommen, Deutschland befindet sich entweder an der Schwelle zu oder schon in einer Rezession.

Um dem Vorwurf zu begegnen, ich würde die Situation übertreiben - lasst mich ein Stück aus einer Untersuchung der Weltwirtschaft zitieren, die von einem der weltweit bekanntesten Ökonomen für das Finanzunternehmen Morgan Stanley angefertigt wurde. Er schreibt: "Das weltweite Ungleichgewicht war niemals so akut. Weltweite Deflation war niemals ein größeres Risiko. Und es hat ein außerordentliches Zusammenfließen von Finanzblasen stattgefunden - von Japan nach Amerika. Und was noch schlimmer ist, den Autoritäten haben noch nie so sehr die üblichen Waffen gefehlt, diesen Herausforderungen zu begegnen."

Politiker, so fährt er fort, hätten ihr Augenmerk auf diese Situation gerichtet, doch " ihre vertrauensvollen öffentlichen Stellungnahmen verleugnen die schwere Besorgnis, die sie privat äußern. Die Wahrheit ist, dass es keine bewährten Heilmittel für die vielfältigen Gefahren von äußerer Instabilität, Deflationsrisiken und das Platzen von Finanzblasen gibt". Mehr noch: Die Diskussionen in führenden finanzpolitischen Kreisen über die Anwendung von "nicht-traditionellen Vorgehen" sei "bezeichnend dafür, wie verzweifelt die Lage geworden ist" und "spiegelt eine Geisteshaltung wider, wie wir sie seit den 30er Jahren nicht mehr gesehen haben". Und diese wiederum spiegle "Gefahren der Weltwirtschaft" wider, "die wir in modernen Zeiten noch nicht gesehen haben" (Stephen Roach, Ein historischer Moment, 23. Juni 2003).

In ihrem jüngsten Bericht über die Weltwirtschaft stellt die Bank for International Settlements fest, dass trotz des "hohen Grades an politischen Stimuli, die in weiten Teilen der Welt zur Anwendung kamen", Hoffnungen bezüglich der Weltwirtschaft wiederholt enttäuscht wurden, was das Augenmerk auf die Möglichkeit lenkte, dass "tiefer sitzende Kräfte am Werk sein könnten."

Man sollte aus diesen Untersuchungen schließen, dass der Ausblick des Kapitalismus der frühen 1990er auf eine Ära des Friedens und des globalen Wohlstandes ein wenig übertrieben war.

Derartige Phänomene - sich vertiefende Deflation, anhaltende Stagnation, Finanzspekulation und offene Plünderung, industrielle Überkapazitäten, massives wirtschaftliches Ungleichgewicht - sind alles verschiedene Symptome einer akuten Krise des kapitalistischen Akkumulationsprozesses selbst. In anderen Worten, der Abschwung in der kapitalistischen Entwicklungskurve, der vor 30 Jahren begonnen hat, ist trotz aller angestrengten Bemühungen, ihn umzukehren, steiler geworden, was eine Krise im innersten Kern der kapitalistischen Wirtschaft bedeutet. Ja, diese Krise konzentriert sich auf die mächtigste Volkswirtschaft von allen, auf die Vereinigten Staaten. Hier liegt die Triebkraft für den Ausbruch des amerikanischen Imperialismus.

Wir sollten uns Trotzkis prophetische Worte in Erinnerung rufen, die vor über siebzig Jahren geschrieben wurden, als die USA gerade ihren Aufstieg zur Weltmacht begannen. Eine Krise in Amerika, erklärte er, würde nicht zum Rückzug führen. "Das genaue Gegenteil ist der Fall. In Zeiten der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten vollständiger, offener und rücksichtsloser auswirken als in Zeiten des Booms. Die Vereinigten Staaten werden hauptsächlich auf Kosten Europas versuchen, sich aus ihren Schwierigkeiten und Krankheiten herauszuwinden, ohne Rücksicht darauf, ob dies in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder Europa selbst passieren wird, und ob dies friedlich oder durch Krieg geschehen wird" (Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, S. 8).

Politische Ökonomie der Rendite

Um die Triebkräfte des US-Imperialismus und seiner Absichten auf weltweite Dominanz klarer zu beleuchten, müssen wir uns, wenn auch nur in Umrissen, näher mit einigen grundsätzlichen Verhältnissen in der kapitalistischen Wirtschaft beschäftigen.

Die einzige Quelle des Mehrwerts - der Basis der Akkumulation von Kapital - ist die lebendige Arbeit der internationalen Arbeiterklasse. Dieser Mehrwert wird unter den verschiedenen Formen des Eigentums als Industrieprofit, Zinsen und Renditen verteilt. Wenn ich sage "verteilt", bedeutet das nicht, dass dies eine friedfertige Angelegenheit sein muss. Sie findet durch einen unnachgiebigen Kampf um Märkte und Ressourcen statt.

In genau diesem Prozess spielt die Rendite eine wichtige Rolle. Rendite bezieht sich nicht nur auf die Anhäufung von Wohlstand durch Eigentum an Land. Allgemeiner gesprochen bezeichnet sie die Einkünfte, die aus einem Monopoleigentum an einer bestimmten Ressource gezogen werden können - oder aus politischen Machtmitteln.

Einkünfte aus Renditen repräsentieren nicht die Schaffung von Wohlstand. Sie sind vielmehr eine Form der Aneignung bereits erzeugten Mehrwerts durch Eigentumsrechte oder durch politische Mittel. Die Rendite ist ein Abzug von dem Mehrwert, der dem Kapital insgesamt zur Verfügung steht. Es besteht daher ein potentieller Antagonismus zwischen dem Renditenbezieher und dem Kapital.

Während eines Aufschwungs in der kapitalistischen Entwicklungskurve, wenn die Profite steigen oder ein recht hohes Niveau erreicht haben, kommt der Existenz der Rendite keine besondere Wichtigkeit bei. Die Situation verändert sich aber dramatisch, wenn die Kurve abwärts zeigt und die Profitraten zu fallen beginnen. Dann werden die Renditen untragbar für die dominanten Sektoren von Industrie- und Finanzkapital, worauf sie den Schlachtruf "Freiheit des Marktes" anstimmen und so danach streben, den Strom der Einkünfte, der dem Renditenbezieher zuteil wird, umzulenken.

Die politische Ökonomie der Rendite hat enorme Bedeutung für den derzeitigen Krieg und das Streben des US-Imperialismus, sich die Ressourcen des Irak zu sichern. Die Unterstützer des Krieges bestritten den Vorwurf, er werde um den Besitz des Öls geführt, mit dem Verweis, dass US-Interessenten das irakische Öl leicht auf dem Weltmarkt erwerben könnten. So gesehen, behaupteten sie, wenn Öl der Antrieb sei, dann hätten sich die USA für die Aufhebung der Sanktionen und die Wiederaufnahme der irakischen Ölproduktion einsetzen sollen, wodurch das Angebot auf dem Weltmarkt gewachsen und der Preis gesunken wäre - zum Wohle aller Ölkäufer.

Alle diese Argumente wollen verschleiern, dass der zugrundeliegende ökonomische Antrieb nicht das Öl als solches ist, sondern die völlig riesigen Differentialrenditen, die aus der Ölindustrie erwachsen, was an den verschiedenen natürlichen Bedingungen liegt. In anderen Worten, die Eroberung des Irak wurde nicht unternommen, um den amerikanischen Fahrzeugen mit hohem Verbrauch Benzin zu liefern, sondern um US-Firmen Mehrwert und Profite zu liefern.

Wir können uns ein ungefähres Bild von dem machen, was auf dem Spiel steht, indem wir die Ökonomie der irakischen Ölproduktion betrachten. Die bewiesenen irakischen Ölvorkommen belaufen sich auf etwa 112 Milliarden Barrel. Es wird jedoch geschätzt, dass die tatsächlichen Reserven über 200 Milliarden Barrel betragen, möglicherweise sogar 400 Milliarden. Was diese Reserven so attraktiv macht, sind ihre niedrigen Förderungskosten und die ungeheuren Differentialrenditen, die so zustande kommen.

Laut dem US-Energieministerium gehören die "Produktionskosten des irakischen Öls zu den niedrigsten der Welt, was die Aussichten auf das Öl sehr attraktiv macht." Man schätzt dass ein Barrel irakischen Öls für weniger als 1,50 Dollar, vielleicht auch nur für 1 Dollar produziert werden kann. Demgegenüber stehen Preise von 5 Dollar in anderen Niedrigpreisländern wie Malaysia und Oman, sowie zwischen 6 und 8 Dollar pro Barrel in Mexiko und Russland. Die Produktionskosten in der Nordsee betragen ungefähr 12 bis 16 Dollar pro Barrel, während sie auf US-amerikanischen Ölfeldern bis zu 20 Dollar betragen können.

Wenn man den realen Ölpreis auf circa 25 Dollar pro Barrel schätzt, dann beträgt der Gesamtwert der irakischen Ölvorkommen nach Abzug der Produktionskosten um die 3,1 Billionen Dollar.

In den frühen siebziger Jahren verstaatlichten einige Öl produzierende Länder, darunter der Irak, ihre Ölindustrien. Das bedeutete, dass ein Großteil der zur Verfügung stehenden Renditen den nationalen bürgerlichen Regimen dieser Länder zur Verfügung stand. Diese Situation wurde für die großen imperialistischen Mächte immer unerträglicher.

Während der vergangenen anderthalb Jahrzehnte ging eine Welle von Privatisierungen um die Welt, auch in den früheren Kolonialländern, wo sie Teil der vom IWF diktierten "Umstrukturierungsprogramme" waren. Bislang war das Öl hiervon nicht betroffen. Doch es stellt ein Hauptziel dar. In den letzten Tagen der Clinton-Administration beispielsweise wurde eine Kongressanhörung veranstaltet mit dem Titel: "Die Politik der OPEC - Eine Bedrohung der US-Wirtschaft". Der Vorsitzende beschuldigte die Clinton-Administration, sie sei "auffällig passiv gegenüber den kontinuierlichen Angriffen der OPEC auf unser System des freien Marktes und auf unsere Anti-Kartell-Normen" (Siehe George Caffentzis, Inwiefern "kein Blut für Öl").

Die Erwägung dieser Ökonomischen Fragen gibt eine deutlichere Vorstellung davon, was mit "Regimewechsel" gemeint ist. Es beinhalte weit mehr als die Entfernung bestimmter Individuen, von denen viele einst mit den USA alliiert oder befreundet waren, jetzt aber in Konflikt mit ihnen gekommen sind. Regimewechsel bedeutet eine völlige ökonomische Umstrukturierung.

Richard Haass, bis vor kurzem Direktor des Politikplanung des US-Außenministeriums, stellte es in seinem Buch Intervention sehr klar dar. Gewalt allein und die schlichte Entfernung bestimmter Individuen, betonte er, sei nicht genug und bringe an sich keine spezifischen politischen Veränderung. "Der einzige Weg, die Wahrscheinlichkeit einer solchen Veränderung zu vergrößern, besteht in sehr eindringlichen Formen Intervention, wie des Nation-Buildings (Nationenaufbau), was zunächst die Eliminierung aller Opposition beinhaltet, und darauf hin das Engagement durch eine Besetzung, die das wirkungsvolle Ingangsetzen einer anderen Gesellschaft erlaubt" (zitiert nach: John Bellamy Foster, "Krieg und das imperiale Amerika", in Monthly Review, Mai 2003).

In jüngsten Ansprachen erklärte Haass, im einundzwanzigsten Jahrhundert sei "das spezifische Ziel amerikanischer Außenpolitik die Einbindung anderer Länder und Organisationen in Abmachungen, die eine Welt aufrechterhalten, welche mit US-Interessen und -Werten einher geht." Was er als "geschlossene Wirtschaftsräume" bezeichnet, "stellt eine Gefahr dar", besonders im Mittleren Osten. Dies sei der Grund, warum Bush die Einrichtung einer Freihandelszone zwischen den USA und dem Mittleren Osten innerhalb eines Jahrzehnts vorgeschlagen habe.

Was diese Politik der verbrannten Erde bedeutet, sieht man am Fall des Irak, wo US-Firmen Schlange stehen, um aus dem Ölverkauf Profit zu schlagen. Darunter befinden sich:

Halliburton, mit einem Zweijahresvertrag über das Löschen der Ölfeuer sowie die Förderung und den Vertrieb irakischen Öls in Höhe von bis zu 7 Milliarden Dollar; Kellog, Brown and Root, die einen 71-Millionen-Dollar Vertrag über die Reparatur und Inbetriebnahme von Öltürmen erhalten haben; Bechtel, mit einem Anfangsvolumen von 34,6 Millionen Dollar, das aber auf bis zu 680 Millionen Dollar erhöht werden kann, um Systeme zur Stromerzeugung und Wasserversorgung wiederherzustellen; MCI WorldCom mit einem 30-Millionen-Dollar Vertrag zum Aufbau eines drahtlosen Netzwerks im Irak; Stevedoring Services Of America, mit einem langjährigen Vertrag in Höhe von 4,8 Millionen Dollar über die Reparatur und Verwaltung der irakischen Häfen, eingeschlossen der Tiefwasserhafen von Umm-Kasr; ABT Associates, ein Vertrag über anfänglich 10 Millionen Dollar für die Unterstützung des Gesundheitssystemen; Creative Associates International, mit einem Vertrag von anfänglich 1 Million Dollar, der auf bis zu 62,6 Millionen ansteigen kann, für die Bereitstellung von "sofortigem Bildungsbedarf" für Iraks Grund- und Weiterführende Schulen;

Dyncorp, mit einem Multimillionen-Vertrag über möglicherweise 50 Millionen Dollar, für die Beratung der irakischen Regierung beim Aufbau effektiver Gesetzeshütung, gerichtlicher und strafrechtlicher Behörden; International Rescue Group, mit einem Vertrag von anfänglich 7,18 Millionen für Hilfe bei der Ereignisplanung bei Notfällen und Soforthilfe; sowie eine Unmenge von Kleinverträgen mit anderen Firmen, die bereitstehen um von Unterverträgen mit Abnehmern von Großverträgen zu profitieren. (Siehe Die Konzerninvasion des Irak: Profil der von US-Firmen erhaltenen Verträge im amerikanisch-britisch besetzten Irak, zusammengestellt von US Labor Against the War)

Globale Neuordnung

Es geht nicht ausschließlich um Ölrenditen. Was im Irak stattfindet ist der gewalttätige Ausdruck eines weltweiten Vorgangs - des Niederreißens aller Beschränkungen der Reichweite und Vorherrschaft des US-Kapitals. Diese "Neuordnungspolitik", die in den 80ern begonnen wurde, brachte den Transfer von Milliarden Dollars aus einigen der ärmsten Ländern der Welt in die Kassen der Banken. Durch Privatisierung wurden Grundbedürfnisse - wie Wasser, Strom, Gesundheits- und Bildungssysteme - dem Profiterwerb geöffnet.

Nichts darf diesem Projekt der globalen Neuordnung im Wege stehen - und schon gar nicht Grenzen, die von nationalen Regierungen gezogen. Wie eine Reihe von ideologischen Unterstützern dieser Strategie kommentiert haben, ist die Aufgabe der USA, eine internationale Politik- und Wirtschaftsordnung zu schaffen, die der von Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert angeführten gleichkommt.

Die Quintessenz dieser Ordnung war laut einem Papier mit dem Titel Verteidigung der Imperien von Deepak Lal, das vom American Enterprise Institute veröffentlicht wurde, dass es internationale Eigentumsrechte garantierte, im Gegensatz zu nationalen. Der Zusammenbruch dieser Ordnung im Ersten Weltkrieg, so behauptet er, führte zu der Unordnung der 1920er und 1930er Jahre, gefolgt von der Nachkriegsperiode, in der die neuen Nationalstaaten ihre nationale Souveränität gegen die internationalen Eigentumsrechte behaupteten. Heute, so Lal, ist diese Situation durch den Aufstieg der USA zur Welthegemonie endgültig überkommen worden.

Die Erfordernis des internationalen, und speziell des US-Kapitals nach globaler Reichweite und Eindringen in jeden Winkel der Welt findet ihren Ausdruck in dem Hinweis der neuen Doktrin, dass nationale Souveränität begrenzt und bedingt sei.

Wie Richard Haass in einer Rede vom letzten Januar, als die USA sich auf die Invasion im Irak vorbereiteten, erklärte, sei eine der wichtigsten Entwicklungen der jüngste Periode, dass "Souveränität kein Blankoscheck ist". An die Worte Roosevelts erinnernd, fügte er hinzu: "Souveränität ist vielmehr für jeden Staat davon abhängig, ob er einige fundamentale Verpflichtungen erfüllt, sowohl gegenüber seinen eigenen Bürgern, als auch der internationalen Gemeinschaft. Wenn ein Regime darin versagt, sich diesen Verpflichtungen zu fügen oder seine Vorrechte missbraucht, dann riskiert er, seine Souveränitätsrechte zu verwirken - in manchen Fällen inklusive seine Immunität vor bewaffneter Invasion... Die Nichteinmischung ist nicht länger sakrosankt..." (Richard Haass Souveränität: Bestehende Rechte, Entstehende Verantwortungen, 14. Januar 2003)

Der australische Außenminister wiederholte diese Worte, als er die Entscheidung der Howard-Regierung verkündete, Interventionstruppen auf die Salomonen zu schicken. Multilateralismus, so erklärte er vor dem Nationalen Presseclub, werde mehr und mehr zum Symbol für eine "uneffektive und ziellose Politik". Australien sei bereit, sich "Koalitionen von Willigen" anzuschließen, um die Aufmerksamkeit auf dringende Sicherheitsfragen und andere Herausforderungen zu lenken. "Souveränität ist in unseren Augen nichts Absolutes. Zum Wohle der Menschheit zu handeln ist wichtiger."

Doch wer entscheidet, ob eine Nation ihre Souveränitätsrechte verwirkt hat und dass eine "Koalition der Willigen" im Interesse der Menschlichkeit handeln muss? Ganz klar: Die dominierenden imperialistischen Mächte, und die USA geben das Startsignal für diejenigen in ihrem Dunstkreis.

Der Widerspruch zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaat

Der unmittelbare Antrieb zur weltweiten Dominanz der USA wurzelt in der Krise der kapitalistischen Akkumulation, ausgedrückt im andauernden Abwärtsstreben der Profitrate und das Versagen der angestrengtesten Bemühungen der letzten 25 Jahre, es zu beenden. Doch das ist nicht alles. Auf der tiefsten Ebene repräsentiert der Ausbruch des US-Imperialismus den verzweifelten Versuch, wenn auch auf reaktionäre Weise, den zentralen Widerspruch aufzulösen, der das kapitalistische System während des größten Teils des letzten Jahrhunderts gestört hat.

Der wirtschaftliche und politische Aufstieg der USA begann mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Wie Trotzki analysierte, wurzelte der Krieg im Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte im globalen Maßstab und der Teilung der Welt in rivalisierende Großmächte. Jede dieser Mächte suchte diesen Widerspruch durch die Etablierung ihrer eigenen Vorherrschaft zu lösen - und kam so in Konflikt mit ihren Rivalen.

Die Russische Revolution, beabsichtigt und ausgeführt als erster Schritt der sozialistischen Weltrevolution, war der erste Versuch einer Abteilung der Arbeiterklasse, den Widerspruch zwischen Weltwirtschaft und überkommenem nationalstaatlichem Rahmen auf einer fortschrittlichen Grundlage zu lösen. Letztlich erwiesen sich die Kräfte des Kapitalismus als zu stark, und die Arbeiterklasse war infolge einer tragischen Verknüpfung von verpassten Gelegenheiten und offenem Verrat nicht in der Lage, dieses Programm weiterzuführen.

Doch das historische Problem, das mit solch vulkanischer Gewalt hervorgetreten war - die Notwendigkeit, die global entwickelten Produktivkräfte auf einer höheren Grundlage zu reorganisieren und sie von den zerstörerischen Fesseln des Privateigentums und des Nationalstaates zu befreien - hörte dadurch nicht auf zu bestehen. Es konnte eine Zeitlang unterdrückt werden. Doch die bloße Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft selbst garantierte, dass das Problem wieder an die Oberfläche kommen würde, sogar noch explosiver als in der Vergangenheit.

Die amerikanische Eroberung des Irak muss in diesem historischen und politischen Kontext gesehen werden. Der Anlauf zu globaler Vormachtstellung repräsentiert den Versuch des amerikanischen Imperialismus, den zentralen Widerspruch des Weltkapitalismus zu lösen, durch die Schaffung einer Art Amerikanischen Imperiums, durch Handeln nach den Gesetzen des "freien Marktes" (interpretiert im Sinne der ökonomischen Bedürfnisse und Interessen des US-Kapitals), und gestützt auf seine militärische Macht und die seiner Alliierten.

Die wahnwitzige Vision einer Weltordnung legte Bush in seiner Ansprache an die Absolventen von West Point am 1. Juni 2002 dar. Die USA, so sagte er, hätten nun die beste Chance seit dem Aufstieg des Nationalstaates im siebzehnten Jahrhundert, "eine Welt zu schaffen, wo die großen Mächte friedlich miteinander wetteifern, anstatt sich auf Kriege vorzubereiten." Wettbewerb zwischen großen Nationen sei unvermeidlich, doch Krieg sei es nicht. Denn "Amerika besitzt eine militärische Stärke jenseits aller Herausforderungen, und beabsichtigt sie auch zu behalten, daher wird das destabilisierende Wettrüsten anderer Zeitalter sinnlos, und Rivalitäten beschränken sich auf Handel und andere friedliche Vorgehen."

Diese Absicht, die Welt umzuorganisieren ist heute noch weit reaktionärer als 1914, als sie zuerst aufkam. Das Drängen der USA auf Weltherrschaft, in seinem Innersten getrieben von der Krise im Herzen des Profitsystems, kann keinen Frieden bringen, und schon gar keinen Wohlstand, sondern nur sich verschärfende Angriffe auf die Weltbevölkerung, bestärkt durch militärische und diktatorische Herrschaftsformen.

Worin liegt also der Weg vorwärts? Wie soll man den Anlauf zu weltweiter Dominanz des US-Imperialismus bekämpfen, mit all den Katastrophen, die aus ihm erwachsen? Das ist die Aufgabe, vor die uns die Geschichte gestellt hat.

Doch die Geschichte, wie Marx bemerkte, stellt niemals eine Aufgabe, ohne zugleich die materiellen Bedingungen ihrer Lösung bereitzustellen.

Die Globalisierung der Produktion, deren räuberische und reaktionäre Beantwortung der Ausbruch des US-Imperialismus ist, hat zugleich die Bedingungen geschaffen für eine historisch fortschrittliche Antwort durch die Vereinigung der Massen von einfachen arbeitenden Menschen in einem internationalen Maßstab, der niemals zuvor möglich war und von dem man in der Vergangenheit nur träumen konnte.

Hierin bestand die objektive Bedeutung der Demonstrationen, die vor dem Einmarsch im Irak weltweit losbrachen - Demonstrationen, deren Teilnehmer sich völlig korrekt als Teil einer Weltbewegung sahen, und die aus diesem Verständnis Stärke gewannen. Die Massenmobilisierung deckte auf, dass nicht nur die Produktivkräfte globalisiert worden sind, sondern ebenso auch die politischen Aktionen der kämpfenden Menschheit.

Diese neuartige Situation war Gegenstand eines Kommentars in der New York Times, es gäbe wohl doch zwei Weltmächte - die Vereinigten Staaten und die weltweite öffentliche Meinung. Oder, wie es kürzlich ein Kommentar der Financial Times ausdrückte, es könnte Karl Marx sein, der zuletzt lache, denn der globale Kapitalismus "wirft Bedrückungen auf, welche die Politik globalisieren könnten."

Lehren aus den globalen Antikriegsprotesten

Doch fünf Monate danach müssen wir nun eine Untersuchung dessen vornehmen, was stattgefunden hat. Die Bewegung zeigte das gewaltige Potential, das besteht, doch sie zeigte auch die Probleme, die überwunden werden müssen, damit dieses Potential realisiert werden kann. Diese Probleme konzentrieren sich auf das eine: Die Krise der politischen Perspektiven.

Was die Demonstrationen an den Tag legten, war das Fehlen eines deutlich ausgearbeiteten Programms. Wenn überhaupt eines existierte, dann war es, daß wenn nur genügend Druck ausgeübt werden würde, dies den Krieg verhindern könne. So gesehen waren die Demonstrationen eine Art gigantisches Experiment über den Wert der Protestpolitik.

Es war, als hätte die Geschichte gesagt: "Trotz der Lehren der Vergangenheit glaubt Ihr also, dass massenhafter Druck die herrschenden Mächte entscheidend beeinflussen kann - was nicht eure Schuld ist. Nun gut, ich werde für Euch einen gigantischen Versuch organisieren, und zwar in Form der größten weltweiten Proteste aller Zeiten. Und damit nicht genug, ich werde es so arrangieren, dass die Vereinten Nationen ihre Zustimmung zu diesem Krieg verweigern werden - der Wert dieser Organisation wird damit ebenso auf die Probe gestellt werden - und wir werden sehen, ob dies die Invasion verhindern kann." Und die Geschichte fügte hinzu: "Am Ende dieses Experiments werdet Ihr die notwendigen Schlüsse aus seinem Versagen ziehen."

Was sind diese Schlüsse? Dass die Massenbewegung ein zusammenhängendes Programm und eine Perspektive erfordert, die nicht auf Druck gegen die herrschenden Klassen abzielt, sondern auf die Eroberung der politischen Macht.

Bei der Entwicklung dieser Perspektive gibt es keine einfachen Antworten. Es geht nicht darum, sich hinter irgendeinem neuen oder schlauen Slogan zu verstecken, auch nicht darum, noch größere Proteste zu organisieren. Die Massenbewegung muß mit dem Verständnis bewaffnet werden, daß nur durch die Eroberung der politischen Macht durch die internationale Arbeiterklasse die schwierigen und komplexen Probleme überwunden werden können, mit denen die Menschheit konfrontiert ist. Dies erfordert zuallererst eine Untersuchung der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Aufgabe bildet die Grundlage der Arbeit der World Socialist Web Site.

Um dies Schlußfolgerungen zu verdeutlichen, würde ich gerne einen Blick auf einen kürzlich erschienenen Artikel von George Monbiot werfen, eines der führenden britischen Autoren dessen, was man Globale Gerechtigkeitsbewegung nennen könnte. Im Guardian vom 17. Juni stellt Monbiot korrekt dar, daß obwohl die Globalisierung alles Vergangene hinwegfegt, sie ebenso wie sie zerstört auch Neues schafft, was der Weltbevölkerung ungekannte Möglichkeiten zur eigenen Mobilisierung eröffnet. das ist genau der Punkt, den die WSWS machte, als Monbiot und andere die "Globalisierung" als den großen Feind beschimpften. Jetzt, schreibt er, hat das Business, indem es seine Herrschaft erweitert hat, die Bedingungen geschaffen, unter denen die Weltbevölkerung ihre Angriffe auf es koordinieren können. Dies bedeutet, daß "wir uns einem revolutionären Zeitpunkt nähern könnten."

Doch das Problem liegt darin, daß die Bewegung kein Programm hat, was er völlig richtig als ihre entscheidende Schwäche ansieht. Unsere Aufgabe, fährt er fort, sei "nicht, die Globalisierung zu überwinden, sondern sie einzunehmen, und sie zum Vehikel zu machen für der Menschheit erste demokratische Weltrevolution."

Er schlägt zwei Hauptmaßnahmen vor. Die erste ist die Abschaffung von Internationalem Währungsfond und Weltbank und ihre Ersetzung durch eine Einrichtung, wie sie Keynes und die Bretton-Woods-Konferenz 1944 vorschlugen und deren Ziel das Verhindern von übermäßigen Handelsüberschüssen und -defiziten sein sollte. Die zweite ist die Abschaffung des UN-Sicherheitsrates und seine Vollmachten einer reformierten UN-Generalversammlung zu übertragen, in der die verschiedenen Nationen Stimmrecht nach der Größe ihrer Bevölkerung und ihrer Position auf einem "globalen Demokratieindex" besäßen.

In Anbetracht dieser Vorschläge für eine "demokratische Weltrevolution" kann man nur sagen: Der Berg hat sich angestrengt, und hervorgebracht hat er... eine Maus.

Monbiot hat Recht, wenn er fordert, dass neue demokratische Formen einer Weltregierung geschaffen werden müssen. Doch wenn die Demokratie irgendeinen realen Inhalt haben soll, dann den, dass die gewaltigen transnationalen Konzerne, Banken und Weltfinanzinstitutionen aus privaten Händen genommen werden und in öffentliches Eigentum überführt, zum Gegenstand demokratischer Kontrolle werden müssen. Kurz: Echte Demokratie - Herrschaft des Volkes - kann nur erreicht werden durch Beendigung der Herrschaft des Kapitals. Diese beiden können nicht nebeneinander bestehen.

Margaret Thatcher verstand dies sehr gut. Es gäbe, so sagte sie, nicht so etwas wie die "Gesellschaft" und subsumierte die Operationen des "freien Marktes" unter der Aussage: "Es gibt keine Alternative". Sie hatte Recht.

Doch das ist genau der Punkt: Wenn es keine Alternative gibt, gibt es keine Demokratie. Demokratie beinhaltet die Wahl zwischen Alternativen, beim Treffen von Entscheidungen und dabei, sie vielleicht zu ändern, oder sie zu verbessern und zu entwickeln. Wenn es keine Alternativen gibt, besteht Diktatur, die Diktatur des Kapitals und die Unterordnung der Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen der Weltbevölkerung unter sein nie endendes Profitstreben.

Zum Abschluss möchte ich Euch bitten, Euch vorzustellen, wie anders die Lage heute wäre, wenn die Massenbewegung, die im Februar hervortrat, die bitteren Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts untersucht und durchgearbeitet, und wäre sie von dem Verständnis geleitet worden, dass der Kampf gegen Imperialismus und Krieg die Entwicklung der internationalen sozialistischen Revolution bedeutet. Die politische Arena von heute sähe sehr anders aus.

In Wirklichkeit scheinen die imperialistischen Mächte mit ihrem monströsen Verbrechen davongekommen zu sein, und es besteht eine Art politischer Kampfpause. das wird vorübergehen. Neue Kämpfe werden sich entwickeln. Doch die Schlüsselfrage bleibt: Mit welchem Programm, welcher Perspektive? Sie werden zu solch einem Grade voranschreiten, dass sie sich auf die Konzeption gründen, dass die Aufgabe nicht das Ausüben von Druck auf diese oder jene Regierung ist, noch viel weniger auf die UNO, oder dass es möglich wäre, die Parteien und Organisationen wiederzubeleben, die einst über Masseneinfluss verfügten, sondern die internationale sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorwärtszubringen, auf der Grundlage aller Lehren des zwanzigsten.

Das Ziel der World Socialist Web Site ist, dieser Bewegung die notwendige Orientierung zu geben und die internationale revolutionäre Partei ihrer Führung aufzubauen. Wir sehen diese Konferenz als Schritt in Richtung dieses Ziels.

 

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Internationale Konferenz der WSWS/SEP

Europa in der Sackgasse

Von Stefan Steinberg
16. August 2003
aus dem Englischen (18. Juli 2003)

Die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party (SEP) organisierten am 5. und 6. Juli im australischen Sydney eine Konferenz mit dem Titel "Politische Lehren des Irakkriegs: Eine Perspektive für die internationale Arbeiterklasse".

Wir veröffentlichen heute die Grußworte, die Stefan Steinberg, ein führendes Mitglied der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) der Konferenz überbrachte.

Liebe Genossen und Freunde,

ich freue mich sehr die solidarischen Grüße der Partei für Soziale Gleichheit dieser WSWS -Konferenz zu überbringen. In meinem Beitrag möchte ich mich auf die politischen Entwicklungen in Europa, insbesondere im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg konzentrieren.

Wir haben schon oft betont: Der Irak-Krieg markiert einen historischen Wendepunkt in den internationalen Beziehungen. Betrachtet man die gegenwärtige Situation in Europa genauer, so wird deutlich, dass sich die politischen Beziehungen und Institutionen, die seit dem Zweiten Weltkrieg als dauerhaft und stabil empfunden wurden in einem Zustand der Auflösung und Desintegration befinden.

Die europäische Bourgeoisie steckt in einer Sackgasse: Durch den Ausbruch der imperialistischen Aggression der USA gerät die relativ friedliche Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft aus den Fugen. Ein Beispiel: Deutschland, im Kern Europas, erlebte in der Nachkriegszeit seine längste Periode relativen Wohlstands und harmonischen Wachstums. Von entscheidender Bedeutung für diese Entfaltung von Wohlstand in Deutschland und anderen europäischen Ländern nach dem Faschismus war die wirtschaftliche Unterstützung des amerikanischen Imperialismus, der Westeuropa als Bollwerk gegen die Sowjetunion instrumentalisierte.

Der Marshallplan ließ Billionen in den Wiederaufbau Westdeutschlands fließen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA war außerordentlich eng. Der Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung stieg, den Arbeitern wurden soziale Absicherung gewährt - das war die Geburtsstunde eines weit gespannten Sozialstaats. Unter dem wohlwollenden Blick der USA begannen einige europäische Kernstaaten einen gemeinsamen europäischen Markt aufzubauen.

Die USA verfolgten dabei ihre eigenen Wirtschaftsinteressen und konnten gleichzeitig in diesen Zeiten des Eisernen Vorhangs eine Allianz der europäischen Nationen gegen die Sowjetunion aufrecht erhalten. Zwar gab es von Zeit zu Zeit Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Staaten und den USA, aber diese Konflikte wurden im beiderseitigen Einvernehmen gelöst. Besonders in Deutschland herrschte die Ansicht vor, die Westbindung - also eine Orientierung insbesondere auf Amerika - sei Bedingung für Wohlstand und Demokratie.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Sowjetblocks änderte sich dieses Beziehungsgeflecht. Die Bindungen zwischen Europa und den USA wurden lockerer, der Einigungsprozess Europas beschleunigte sich. Die wirtschaftliche Integration Europa erlebte einen neuen Höhepunkt. Der Maastrichtvertrag von 1992 sah die Währungsunion für 1999 vor. Im Jahr 1994 brachten Ungarn und Polen Mitgliedsanfragen ein, damit hatte der Prozess der Osterweiterung Europas begonnen.

Die gemeinsame Währung wurde eingeführt. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg besaß Europa einen großen Binnenmarkt und eine harte Währung, die fähig war, die Dominanz des US-Dollars herauszufordern.

Die Wahl der Bush-Regierung, ihre Reaktionen auf den 11. September und der Krieg gegen den Irak haben nun den vollständigen Wandel in den Beziehungen zwischen den früheren transatlantischen Partnern hervorgebracht. Der Krieg im Irak machte nicht nur die Rücksichtslosigkeit deutlich, mit der die US-Regierung ihre Interessen im Nahen Osten verfolgen, sondern zeigte auch ihre Bereitschaft die NATO ins Abseits zu drängen und gleichzeitig ihren Einfluss zu nutzen, um die europäischen Bündnispartner zu spalten. Das so genannte "Europäische Haus" wird nun unter völlig neuen Bedingungen errichtet.

Die Bush-Regierung zeigte Frankreich und Deutschland die kalte Schulter als beide Länder Bedenken an einem amerikanisch-britisch geführten Krieg anmeldeten. Washington stützte sich auf seine europäischen Verbündeten in Spanien und Polen, um die Kluft zwischen dem "alten und neuen Europa" (Rumsfeld) zu vertiefen. Die Politik Bushs führte zu den bisher heftigsten Erschütterungen der innereuropäischen Beziehungen. Großbritannien, Italien, Polen und Spanien unterstützten den Krieg, während Deutschland, Frankreich und Belgien gegen einen Krieg eingestellt waren, der unter dem Diktat der Bush-Regierung geführt würde.

Es wäre falsch zu glauben, dass die französische und die deutsche Regierung aus einer prinzipiellen Opposition heraus den Irakkrieg verurteilten. Beide sind imperialistische Mächte, die auf der ganzen Welt eigene Interessen verfolgen. Zunächst hatte Frankreich den Amerikanern sogar Unterstützung angeboten und stand kurz davor, ihre Luftwaffe in die Golfregion zu entsenden. Als Bundeskanzler Schröder im letzten Herbst während des Wahlkampfs bekannt gab, dass die deutsche Regierung von der Notwendigkeit eines Krieges nicht überzeugt sei, leitete die französische Regierung eine Wende in ihrer Politik ein, verbündete sich mit Deutschland und erklärte ebenfalls ihre Opposition.

Schröder demonstrierte zu diesem Zeitpunkt eine populäre und medienwirksame Ablehnung des Kriegs, doch die deutsche Realität sah ganz anders aus: Nicht nur ließ die rot-grüne Regierung ihren Worten keine Taten folgen, um die amerikanische Invasion zu behindern, im Gegenteil, sie war ein wichtiges Instrument bei der Durchführung des Krieges. Deutschland war als Stützpunkt für die Angriffe auf den Irak unentbehrlich. Die amerikanischen Truppen konnten ihre deutschen Basen und den deutschen Luftraum uneingeschränkt für ihre Invasion im Irak nutzen. Gleichzeitig wurden deutsche Truppen zur Verteidigung und zum Schutz amerikanischer Militärbasen eingesetzt, vorwiegend gegen deutsche Anti-Kriegsdemonstranten.

Im Verlauf des Krieges kam plötzlich ein neuer Faktor von großer politischer Bedeutung ins Spiel: Am 14. und 15. Februar fanden die bisher größten Demonstrationen auf der ganzen Welt statt. Die große Mehrheit der Demonstranten stammte aus europäischen Ländern, meist aus denen, deren Regierungen sich gegen den Krieg positioniert hatten. Wenn Frankreich und Deutschland ihr "Nein" zum Krieg auch nur eine Sekunde ernst genommen hätten, hätten sie sich mit einem Appell an die Demonstranten wenden müssen. Doch ein wesentliches Merkmal dieser Proteste war die nahezu vollständige Abwesenheit von Vertretern der offiziellen Politik.

Die europäische Bourgeoisie befindet sich in einer Zwickmühle: auf der einen Seite die aggressive und arrogante Politik Washingtons, die die Spaltung der europäischen Mächte zum Ziel hatte, auf der anderen Seite eine breite europäische Bewegung gegen den imperialistischen Krieg.

Nach dem Beginn der amerikanischen Offensive bestand die erste Amtshandlung der europäischen Bourgeoisie darin ihre Beziehungen zu den USA notdürftig zu regparieren. In einem kriecherischen Akt der Selbsterniedrigung stimmten Frankreich und Deutschland vor den United Nations für eine amerikanisch-britische Besetzung des Iraks. Damit legitimierten sie den Krieg quasi rückwirkend.

Der Irakkrieg öffnete führenden Politikern die Augen über die Notwendigkeit die europäische Außen- und Militärpolitik voranzutreiben. Das bestehende Kräfteverhältnis - bestehende Handelsbeziehungen zwischen den USA und Europa, und insbesondere die massive Überlegenheit des US-Militärs - verdeutlichen, dass die europäische Bourgeoisie in ihrem Streben nach Unabhängigkeit schrittweise vorgehen muss.

Aus den massenhaften Antikriegsdemonstrationen zogen die europäischen Regierungen die Schlußfolgerung, dass um jeden Preis alles vermieden werden müsse, was die Oppositiosstimmung der Massen anheitzen könnte, weil diese Opposition sich dann nicht nur gegen Krieg, sondern immer auch gegen die rechte, unsoziale Politik der herrschenden Klasse Europas richten würde.

Bush konnte seinen Krieg trotz der Massenproteste aufgrund der Feigheit und Korrumpierbarkeit der europäischen Machthaber fortsetzen. Die Demonstrationen des Februars blieben weitgehend perspektivlos und schliefen ein. Doch es wäre völlig falsch daraus zu schließen, dass die breiten Massen Europas nichts mehr zu sagen hätten.

Angriffe auf Sozialstaat und Gesundheitswesen

In Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern sind in den letzten Wochen und Monaten Zehn-, vielleicht Hunderttausende auf die Straße gegangen um ihre Ablehnung gegenüber der Regierungspolitik zu demonstrieren. Die Regierungen dieser Länder setzen sich aus einer Vielzahl politischer Kräfte zusammen- sozialdemokratisch, liberal und konservativ-, doch ihre politische Tagesordnung sieht sich zum Verwechseln ähnlich: radikaler Abbau des Sozial- und Gesundheitssystems, das in den Nachkriegsjahrzehnten aufgebaut worden war.

Trotz der Differenzen von Teilen der europäischen Bourgeoisie und der Bush-Administration über den Irakkrieg, bleibt auf dem Gebiet des Abbaus von demokratischen Rechten zwecks Profitmaximierung das US-amerikanische Modell weiterhin Vorbild und Maßstab setzend. Die Einführung "amerikanischer Verhältnisse" auf dem ganzen Kontinent besitzt für die herrschende Klasse Europas oberste Priorität.

Das Aufkommen breiter Unzufriedenheit in der europäischen Bevölkerung bildete den Hintergrund für die Diskussionen, die kürzlich in Thessaloniki zwischen führenden EU-Politikern stattfanden. Die neue europäische Verfassung stand auf der Tagesordnung.

Ungeachtet der Worthülsen oberster EU-Politiker über "Transparenz" und "Demokratie" bietet der neueste 200 Seiten starke Dokumentenapparat zum neuesten Verfassungsentwurf keinerlei Antwort auf die enormen sozialen Probleme und den erdrutschartigen Abbau demokratischer Rechte, der gegenwärtig in Europa stattfindet. Der Verfassungsentwurf wurde durch den sogenannten Konvent erarbeitet, einem durch niemanden legitimierten Club von Bürokraten. Ein Kritiker der Verfassung, der Premierminister von Luxemburg, Claude Juncker merkt dazu an: "Ich bin seit 20 Jahren in der europäischen Politik tätig und ich habe noch nie ein solches Defizit an Transparenz wahrgenommen. Dies stelle ich trotz der frommen demokratischen Wünsche fest, die in die Formulierungen des Dokumentes eingeflossen sind...mir ist noch nie ein undurchsichtigeres Gebilde unter die Augen gekommen, als dieser Konvent."

In Porto Carras verlor die europäische Elite über ihre soziale und politische Strategie der Ungleichheit und Armut kein Wort. Stattdessen verbrachten die Bürokraten und politischen Führer ihre Zeit in Griechenland damit, zu diskutieren, wie sie noch höhere Mauern rings um Europa errichten können, um politische Flüchtlinge und ausländische Arbeiter fernzuhalten.

Sie stimmen grundlegend über neue Konzepte überein, die die Migrations- und Flüchtlingsströme in die Europäische Union noch stärker eingrenzen sollen. Die Ähnlichkeit mit den repressiven und reaktionären Vorschlägen der Blair-Regierung in Großbritannien fällt dabei stark ins Auge. Angesichts der ständigen Versuche die Immigranten als Quelle aller Probleme Europas zu brandmarken, überrascht es nicht, dass der Angehörige der italienischen Regierung, Minister Umberto Bossi, letzte Woche noch einen Schritt weiter ging und öffentlich vorschlug, Einwanderer aus Italien fernzuhalten, indem man ihre Schiffe vor der Küste versenke.

Ein anderes wichtiges Thema in Thessaloniki war die Entwicklung einer unabhängigen europäischen Sicherheitspolitik. Auch dafür stehen die USA wieder Pate. Resultierend aus ihren Debatten in Griechenland fordert die Europäische Union nun das Recht, Präventivkriege zu führen, genau wie Bushs Krieg gegen den Irak.

Die EU-Politiker diskutierten auch über die Einsetzung eines Außenministers und die Ausarbeitung eigener außenpolitischer Richtlinien, doch, wie in so vielen anderen Aspekten, sind auch die Vorschläge zur Sicherheitspolitik ein fauler Kompromiss. Dem Verfassungsentwurf zufolge, müssen alle Entscheidungen zur Außenpolitik einstimmig gefasst werden. Angesichts der tiefen Spaltung, die Europa seit dem Irakkrieg durchzieht, besteht kaum die Möglichkeit eine gemeinsame europäische Alternative zum Militarismus der Bushregierung zu entwickeln.

Stattdessen wird die arbeitende Bevölkerung in Europa für steigende Militärausgaben zur Kasse gebeten und muss die quasikolonialen Interventionen Frankreichs und Deutschlands im afrikanischen Staat Kongo bezahlen.

Kein Zweifel, Europas Versuche, das US-Militär und die politische US-Dominanz herausfordern spielen eine Schlüsselrolle in der Entscheidung deutsche und französische Truppen in den Kongo zu entsenden. Die "Operation Artemis" ist die allererste militärische Intervention, die unabhängig von der NATO durch europäische Mächte durchgeführt wird.

Der EU-Chefdiplomat Javier Solana, erklärte in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit": "Zum ersten Mal können wir zeigen wie weit wir uns militärisch entwickelt haben. Wir demonstrieren: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Sicher, die NATO könnte auch so handeln. Aber weder die NATO noch die Amerikaner haben ein Interesse daran. Also handeln wir ohne Unterstützung der NATO."

Vielleicht nicht speziell am Staat Kongo, doch an Afrika insgesamt hegt die Bush-Regierung reges Interesse. Washington diskutiert die Entsendung von Truppen nach Liberia und Bush selbst wird nächste Woche nach Afrika reisen. Ende des 19. Jahrhundert stritten sich die größten imperialistische Mächte um diesen Schlüsselkontinent. Nun, ein Jahrhundert später treten ähnliche Konflikte erneut auf - dieses Mal verschärft durch das aggressive Auftreten und Vorgehen des US-Imperialismus.

Die europäische Intervention im Kongo - von allen großen Parteien Deutschlands auch Sozialdemokraten und Grüne legitimiert - muss als durch und durch rücksichtslos und räuberisches Militärabenteuer verurteilt werden. Als Intervention wird sie zweifellos eine eigene Dynamik entwickeln und noch nicht absehbare Gefahren und Konsequenzen nach sich ziehen. Sicher ist, dass bald französische und deutsche Soldaten in schwere Kämpfe verwickelt sein werden. Im Bestreben militärische Eigenständigkeit zu demonstrieren, sind die Drahtzieher in Berlin, Brüssel und Paris für alle möglichen Folgen blind.

Zum Schluss möchte ich die Entwicklungen innerhalb Europas seit dem Ende der ersten Phase des Irakkriegs rückblickend betrachten: Dabei muss ein Wort über den gegenwärtigen EU-Ratspräsidenten fallen. Seit dem 1. Juli sitzt der italienische Präsident und Betrüger Silvio Berlusconi dem Europäischen Parlament vor. Zwischenzeitlich hat er bereits einen Medienrummel verursacht, indem er einen deutschen Abgeordneten mit einem Nazi verglich und diffamierte, doch bezeichnend ist, dass vor der Übernahme seiner Ratspräsidentschaft kein europäischer Regierungsangehöriger ein kritisches Wort darüber verlor.

Dies erinnert an die drei weisen Affen: Nicht-Sehen, Nicht-Hören, Nichts-Sagen. Es gibt keine größere Kompromittierung der "demokratischen Bestrebungen" des modernen Europas als die stillschweigende Übereinstimmung mit der Ratspräsidentschaft Berlusconis. Berlusconi hat sich mit seiner letzten Provokation selbst einen Strich durch die Rechnung gemacht, doch die Stille, die die führenden europäischen Politiker, Schröder eingeschlossen, über diesen Vorfall breiten, zeigt, dass sie ihr Möglichstes tun, ihn vergessen zu machen, und zum "buisness as usual" zurückzukehren. Wie vorherzusehen, akzeptierte Schröder die Entschuldigung des italienschen Präsidenten. Doch Berlusconi selbst leugnet eine Entschuldigung je ausgesprochen zu haben und die Zeitungen des Präsidenten behandeln die Angelegenheit als Sieg ihres gewieften Präsidenten gegen die EU-Bürokraten.

Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass sich Berlusconi in nicht weniger als 13 Gerichtsprozesse in Italien wegen Erpressung, Korruption und fragwürdiger Geldgeschäfte verantworten muss. Um die Flut neuer Anklagen gegen ihn aufzuhalten, peitschte er kürzlich ein Gesetz durch das italienische Parlament, das allen führenden italienischen Politikern Immunität gewährt. Zukünftig will er diese Amnestie auf alle Parlamentarier ausweiten, was ihm und seinen Kumpanen gestatten würde, ihre kriminellen Geschäfte auch aus der obersten Position heraus fortzusetzen. Von Berlusconi, der in der Lage war, ein Gesetz zu verabschieden, das das Fälschen von Bilanzen und Geschäftsbüchern in Italien legalisiert, könnte sich selbst Bush noch den ein oder anderen Trick abschauen.

Tatsächlich gibt es kaum ein anschaulicheres Beispiel für die ausweglose Situation der europäischen Bourgeoisie als die Präsidentschaft Berlusconis. Berlusconi war einer der wichtigsten Unterstützer von Bush im Golfkrieg und seine provokanten Äußerungen gegen einen deutschen Abgeordneten dienen lediglich dazu die Spannungen und den Bruch innerhalb Europas zu vertiefen. Im Interesse der Einheit versuchen die anderen europäischen Regierungen verzweifelt über sein schlechtes Benehmen hinwegzusehen.

Auf einen weiteren wichtigen Grund für Europa gemeinsame Sache mit Berlusconi zu machen weist der italienische Abgeordnete und Philosoph Gianni Vattimo in einem aufschlussreichen Artikel hin. Berlusconi, so Vattimo, sei ein Virus, der den politischen Körper Europas bedrohe. Vattimo ist überzeugt, dass die europäische Demokratie keinerlei Antikörper besitzt um der Bedrohung Berlusconis zu entgehen.

Er fährt fort und erklärt, dass Berlusconis einer der Hauptbündnispartner der US-Regierung in Europa ist und im Sinne hat, amerikanische Verhältnisse in Italien und auf dem ganzen Kontinent zu etablieren: den Abbau des Sozialstaats, die Privatisierung von Bildung und Renten, usw. Wie ich bereits ausgeführt habe, vertritt nicht allein Berlusconi, sondern Schröder in Deutschland, Chirac und Raffarin in Frankreich und die gesamt Bourgeoisie in Europa exakt dieselbe Politik.

So lauten also die Prioritäten der europäischen Bourgeoisie nach dem Irakkrieg: Das Recht auf Durchführung eigener kolonialer Militärinterventionen, die Zerstörung sozialer Sicherungssysteme und sozialer Rechte, sowie die Zunahme von rassistischen Kampagnen gegen ausländische Arbeiter.

Die arbeitende Bevölkerung in Europa muss die Lehre aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres ziehen. Nicht das geringste Vertrauen darf in Organisationen wie die UNO oder in die europäische Bourgeoisie gesetzt werden. Bestrebungen und Entwicklungen bezüglich eines geeinten Europas und die Überwindung nationaler Rückständigkeit haben eine objektive Grundlage, doch die jüngsten Ereignisse haben lediglich bestätigt, dass die europäische Bourgeoisie unfähig ist, den Kontinent auf fortschrittliche Weise zu einen.

Vor fast einem Jahrhundert ging Leo Trotzki in seiner Schrift: Was ist ein Friedensprogramm? auf diese Frage ein. Im Bestreben eine einheitliche Politik zu entwickeln, schrieb Trotzki mitten im Ersten Weltkrieg, sei die europäische Bourgeoisie nur zu "lückenhaften Kompromissen und halben Maßnahmen" in der Lage. Diese Prognose zeigt ihre Berechtigung auch heute. Die herrschende Klasse ist nicht nur zu "lückenhaften Kompromissen und halben Maßnahmen" verurteilt, sie bewegt sich in Richtung abenteuerlicher, quasi-kolonialer Interventionen von Europa in Afrika und bedroht die Welt durch neue militärische Krisenherde. Die fortschrittliche Einigung Europas auf der Grundlage von Gleichheit, Demokratie und Sozialismus, sowie die Prävention neuer imperialistischer Kriege, ist daher die Aufgabe der europäischen Arbeiterklasse.

Die Perspektive für ein Sozialistisches Europa hat nichts mit Anti-Amerikanismus zu tun. Ganz im Gegenteil! Ein mächtiges Gegengewicht zum amerikanischen Imperialismus wäre das Resultat. Diese Perspektive könnte eine Quelle der Inspiration und Motivation für die amerikanische Arbeiterklasse bedeuten und sie in ihrer eigenen dringlichen Aufgabe bestärken, "einem Regimewechsel" in Washington durchzuführen.

 

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US-Soldaten sind wütend über das Pentagon

Von James Conachy
26. Juli 2003
aus dem Englischen (21. Juli 2003)

In der vorigen Woche kam es im Irak zu einer außerordentlichen Entwicklung. Uniformierte Soldaten einer der größten Kampfeinheiten der US-Armee beschwerten sich öffentlich in den landesweit ausgestrahlten Nachrichten bei ABC über Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und forderten, dass sie zurück nach Hause gebracht werden. Andere Sender und Zeitungen veröffentlichten Interviews mit Soldaten, die erklärten, dass ihre Moral sei auf Null gesunken.

Zu diesem Wutausbruch kam es, nachdem am 14. Juli erklärt worden war, es gebe kein festgelegtes Datum für den Abzug der 1. und 2. Brigade der Dritten Infanteriedivision mehr. Diese Nachricht stand Versicherungen des Divisionskommandeurs, Generalmajor Blount, von Rumsfeld selbst und von General Tommy Franks entgegen, die in der Vorwoche erklärt hatten, dass die Einheiten im September wieder in den USA sein würden. Die Vorbereitungen der Soldaten der Dritten Infanteriedivision und deren Familienangehöriger für den Rückkehrsempfang in den Heimatbasen im Bundesstaat Georgia wurden abrupt abgebrochen. Ein Militärsprecher stellte fest: "Dieser Zeitrahmen wurde im Prinzip aufgegeben. Es gibt keinen Zeitplan." Die Änderung der Pläne hängt offensichtlich damit zusammen, dass sich die indische Regierung weigert, der Bush-Regierung mit 17.000 Soldaten bei der Besetzung des Irak zur Seite zu stehen.

Die Stimmung unter den Soldaten der 2. Brigade der Dritten Infanteriedivision reicht von meuterisch bis mutlos.

Clinton Deitz, Soldat einer Spezialeinheit, erklärte in den ABC-Nachrichten: "Wenn Donald Rumsfeld hier wäre, würde ich ihn auffordern zurückzutreten." Sergeant Felipe Vega sagte, er fühle sich "in den Unterleib getreten und ins Gesicht geschlagen". Der Soldat Jayson Punyhotra erklärte, dass "mich das ziemlich stark das Vertrauen in die Armee verlieren lässt". Ein Soldat, der seinen Namen nicht bekannt geben wollte, sagte den Reportern von ABC unter Verweis auf die an die Soldaten ausgehändigten Kartenstapel, die die Bilder der am meisten gesuchten irakischen Führer enthalten, dass "ich meine eigene ‚Liste der Meistgesuchten' habe. In meinem Kartenstapel sind Paul Bremer, Donald Rumsfeld, George Bush und Paul Wolfowitz die Asse."

Sergeant Siphon Pahn sagte der Los Angeles Times : "Sagt Donald Rumsfeld, dass die 2. Brigade in Falludschah festsitzt und dass wir sehr wütend sind." Ein anderer Soldat äußerte gegenüber der selben Zeitung: "Die Leute sagen, dass Rumsfeld zurücktreten soll." Sergeant Eric Wright sagte gegenüber BBC News : "Wir sind derart erschöpft, dass einige schon hoffen, verwundet zu werden, damit sie nach Hause kommen. ‚Hey schießt auf mich, damit ich nach Hause komme.'"

Sean Gilchrist, Soldat einer Spezialeinheit, sagte Korrespondeten von Knight-Ridder : "Man fühl sich wie vergessen, so als ob wir vom Planeten gefallen wären." Der Soldat Anthony Mondello sagte Knight-Ridder : "Unsere Moral ist am Ende, das ist wirklich so." Ein Offizier, der seinen Namen nicht nennen wollte, sagte: "Es sieht nicht so aus, als ob sich jemand da oben klar gemacht hat, was die Soldaten durchgemacht haben und was sie jetzt täglich durchmachen. Ich kann Ihnen garantieren, dass von denen niemand Tag für Tag bei dieser Hitze in voller Montur an einem Kontrollposten gestanden hat, ständig in der Erwartung, dass geschossen werden könnte. Interessiert sie das überhaupt?"

Der San Francisco Chronicle sprach mit dem Soldaten Jason Ring: "Wir haben den Irak befreit. Jetzt wollen uns die Leute hier nicht, und wissen Sie was? Auch wir wollen hier nicht mehr sein. Also warum sind wir dann hier? Warum bringen sie uns nicht nach Hause?"

Ehefrauen von Armeeangehörigen in den USA verurteilten das Weiße Haus mit ähnlich vernichtenden Worten. Julie Galloway, Frau eines Sergeanten, erklärte gegenüber der Associated Press : "Sie haben uns schamlos belogen." Tasha Moore, Frau eines Kapitäns, sagte: "Meine Lösung für Präsident Bush und Donald Rumsfeld und all diese Leute ist: halten Sie einfach Ihren Mund. Wenn man die Wahrheit nicht weiß, sollte man gar nichts sagen. Jedes Mal, wenn ein Soldat getötet wird, fragt man sich, ob das der eigene Mann ist. Ich glaube nicht, dass die Regierung versteht, was ein Ehemann, eine Ehefrau oder die Kinder jeden Tag durchmachen."

Die US-Armee erwägt Disziplinarmaßnahmen gegen die Männer. Der neue Kommandeur der US-Streitkräfte im Irak, General John Abizaid, sagte auf einer Pressekonferenz am 16. Juli: "Niemand von uns, der diese Uniform trägt, hat die Freiheit, etwas Geringschätziges über den Verteidigungsminister oder den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu sagen. Wir haben nicht diese Freiheit. Das ist unser Berufskodex. Ob und welche Maßnahmen dagegen ergriffen werden, ob es eine verbale Rüge oder etwas Strengeres ist, das liegt bei den Kommandeuren vor Ort und kann nicht von mir kommentiert werden."

Die US-Medien haben, wie immer, die aufsässigen Äußerungen zur Sensation gemacht - und sind zum nächsten Medienereignis übergegangen. Aus mehreren Gründen verdienen diese Äußerungen jedoch größere Beachtung. Sie belegen einen unglaublich schnellen Zerfall des Zusammenhalts des US-Militärs bei der Besetzung des Irak.

Es gibt zweifellos eine weitverbreitete Erschöpfung und Kampfmüdigkeit unter den Soldaten in Einheiten wie der Dritten Infanteriedivision. Diese Division wurde seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fast ständig in einem Zustand höchster Alarmbereitschaft für einen Krieg gegen den Irak gehalten. Im März 2002 erhielt sie den Befehl, auf unbefristete Dauer jeweils eine Brigade in Kuwait stationiert zu halten - in den ersten sechs Monaten war es die 3. Brigade, im September und Oktober 2002 wurde sie durch die 2. Brigade ersetzt. Im März 2003, kurz vor dem Einmarsch im Irak, war die gesamte Division in Kuwait stationiert.

Den Horror, den die Soldaten erlebten and die Gräuel, die während des Krieges verübt wurden, sind ein anderer Faktor. Die Dritte Infanteriedivision gehörte zu den ersten US-Militäreinheiten, die in den Irak einmarschierten, den Hauptstoß gegen Bagdad führten und den Flughafen der Stadt am 3. April besetzten. Seinerzeitigen Berichten zufolge mussten die Soldaten über Hunderte Leichen irakischer Soldaten marschieren, die bei US-Luftangriffen ums Leben gekommen waren. Am 5. April waren es die Panzer der 2. Brigade, die in einem dreistündigen Angriff durch die südlichen Stadteile fuhren und dabei 3000 irakische Soldaten und Zivilisten töteten und Tausende weitere verwundeten. Ein Soldat erklärte der New York Times : "Menschen lagen überall auf den Straßen. Ich konnte nicht einmal zählen, wie viele." Soldaten, die an solchen Ereignissen beteiligt waren, wollen einen größtmöglichen Abstand zwischen sich und dem Irak.

Der wichtigste Faktor in der militärischen Moral ist allerdings das ideologische Engagement. Im Laufe der Geschichte haben Soldaten immer wieder die größten Entbehrungen ertragen. Sie hielten selbst dann, wenn sie Niederlagen erlitten, loyal zu ihren Kommandeuren und den Zielen, für die sie kämpften. Die Tatsache, dass US-Soldaten nur vier Monate, nachdem sie in den Irak einmarschiert sind, keinen Anteil an einer Nachkriegsbesetzung nehmen wollen, kann nur als ein Urteil über den Krieg selbst verstanden werden. US-Soldaten wissen, dass die Rechtfertigungen für den Krieg Lügen waren.

Sie wissen auch, dass die Unterstützung für den Krieg in den USA umso rapider zurückgeht, je deutlicher wird, dass der Irak nicht über "Massenvernichtungswaffen" verfügte und niemals eine Gefahr für die USA bedeutete. Die amerikanische Bevölkerung, und vor allem die Soldaten, haben das üble Gefühl, dass Zehntausende Iraker und über 225 Amerikaner ihr Leben ließen, damit die Bush-Regierung ein ölreiches und strategisch wichtiges Land in neokolonialer Manier erobern konnte.

Die Behauptung der Bush-Regierung, dass die Soldaten als "Befreier" willkommen geheißen würden, hatte wahrscheinlich den demoralisierendsten Effekt. Dieser Propaganda waren die Soldaten seit mehr als ein Jahr vor dem Krieg ausgesetzt. Stattdessen trafen sie auf eine Bevölkerung, die sie mit großer Mehrheit als Invasoren verachtet und die ein unerschöpfliches Reservoir von Willigen für eine anti-amerikanische Widerstandsbewegung hervorbringt.

Die 2. Brigade ist beispielsweise seit Mai mit der Kontrolle von Falludschah betraut - eine der unruhigsten großen Städte des Irak. Die Los Angeles Times berichtete am 15. Juli über die Reaktion, auf die die Brigade stieß, als sie versuchte, gefrorene Hühner auszuteilen, um "die Herzen und Gemüter" der Bevölkerung zu gewinnen. In einer Reihe von Moscheen wiesen die örtlichen sunnitischen Imams die Nahrungsmittel zurück. Einer der Geistlichen erklärte den US-Soldaten: "Wir würden lieber Steine als Hühner von den Amerikanern essen. Selbst der Ärmste in Falludschah will keine Hühner von Euch." Die Soldaten waren gezwungen, die LKW-Ladung wieder zurückzufahren, und wurden dabei von Kindern mit Steinen und Ziegeln beworfen.

Andere Einheiten sind mit ähnlichen Verhältnissen in vielen Städten und Dörfern zwischen Euphrat und Tigris konfrontiert, wo die Mehrheit der irakischen Bevölkerung lebt.

Beruhend auf der Annahme, dass die US-Truppen willkommen geheißen würden, behauptete Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor dem Krieg, 40.000 bis 60.000 US-Soldaten würden für eine Nachkriegsbesetzung ausreichen. Drei Monate nach dem "Sieg" können 146.000 US-Soldaten noch nicht einmal behaupten, sie hätten Bagdad unter Kontrolle, geschweige denn den Rest des Landes.

An einem durchschnittlichen Tag stirbt ein US-Soldat irgendwo im Irak - seit dem 1. Mai mindestens 88 - und fünf bis acht werden verwundet. Militärkonvois, die auf der sechsspurigen und zehn Kilometer langen Autobahn von Bagdad zum Flughafen fahren, sind permanent dem Risiko von Angriffen ausgesetzt. Letzten Montag wurde ein US-Soldat getötet und zehn weitere wurden verwundet, als ein Armeefahrzeug von einer Granate getroffen wurde. Ein US-Fallschirmjäger, der vor Ort war, erklärte gegenüber der Washington Post : "Wenn man nicht alle drei Meter einen Panzer hinstellt, wird man nichts ausrichten können."

Ein andere US-Konvoi wurde am vorigen Mittwoch innerhalb von Bagdad mit Granaten beschossen. Ein Soldaten wurde getötet und sechs weitere wurden verletzt. Am gleichen Tag wurden bei zwei weiteren Angriffen drei Soldaten verwundet, während der von den USA ernannte irakische Bürgermeister von Hadithah, einer Stadt im Westen der Hauptstadt, einem Attentat zum Opfer fiel. Am Freitag brachte ein ferngezündeter Sprengsatz einen Konvoi beim Überqueren einer Brücke zum Stehen. Drei Fahrzeuge wurden beschädigt, und mindestens ein Soldat von der Dritten Infanteriedivision wurde getötet. Eine nicht genannte Zahl von Soldaten wurde verletzt. Am Wochenende wurden in Bagdad und Mossul drei Soldaten getötet, und in Nadschaf kam es zu einer anti-amerikanischen Massendemonstration von schiitischen Moslems - der Bevölkerungsgruppe, von der das Weiße Haus behauptet hatte, sie würde die US-Invasion enthusiastisch befürworten.

Die historische Erfahrung mit Guerillakriegen zeigt, dass die Widerstandsbewegung schnell lernen wird, wie sie noch wesentlich größere Schäden anrichten kann. Am 17. Juli wurde von irakischen Widerstandskämpfern schon zum zweiten Mal eine Boden-Luft-Rakete auf ein auf dem Flughafen von Bagdad landendes Transportflugzeug abgefeuert. Harlan Ullman, ein Befürworter des Krieges und einer der Väter der Taktik von "Angst und Schrecken" bei der Invasion, reagierte darauf mit einer Warnung: "Was passiert zum Beispiel, wenn sie ein großes Flugzeug, das nach Bagdad fliegt, angreifen oder das Al-Rashid-Hotel (in Bagdad) sprengen? Wir sollten darauf vorbereitet sein."

Die Fehlkalkulationen der Bush-Regierung und der arrogante Selbstbetrug darüber, was die unbegrenzte US-Macht bewirken könne, haben das US-Militär in einen Sumpf geführt. Die Soldaten im Irak hören, dass die USA bis zu zehn Jahre lang Truppen im Irak stationieren wolle, und gleichzeitig erfahren sie, dass es nicht genügend Soldaten gebe, um sie zu ersetzen. Von den 33 Kampfbrigaden der US-Armee sind bereits 16 im Irak, zwei stehen in Afghanistan, zwei in Südkorea und eine ist noch im Kosovo. Von den zwölf Brigaden in den USA befinden sich drei in der Modernisierungsausbildung, drei in Reserve für einen möglichen Einsatz in einem Krieg auf der koreanischen Halbinsel und zwei sind vorbestimmt, die Brigaden in Afghanistan auszuwechseln. Nur vier Brigaden verbleiben für den Ersatz von 16.

Es gibt Anzeichen dafür, dass dieses Debakel den langandauernden Konflikt zwischen Donald Rumsfeld und der Armeeführung anheizt. Im Wall Street Journal, in der Los Angeles Times und in der New York Times sind Artikel erschienen, die den Beschwerden der Armee Ausdruck verleihen, dass sie an ihre Grenzen gestoßen sei und dass die Aussichten, in den Irak geschickt zu werden, die Rekrutierungs- und Fluktuationsquoten beeinflusse. Das Pentagon steht unter Druck, außerordentliche Maßnahmen zu ergreifen, um das im Irak festsitzende Armeepersonal zu entlasten. Es hat erneut versichert, die Dritte Infanteriedivision werde bald abgezogen. Marineeinheiten, die normalerweise nicht für "friedenserhaltende" Maßnahmen eingesetzt werden, sollen wahrscheinlich den Ersatz übernehmen. Noch kontroverser wird die Ankündigung diskutiert, dass mindestens 10.000 teilzeitbeschäftigte Angehörige der Nationalgarde zum Ende des Jahres für 13 bis 16 Monate in den Irak verpflichtet werden.

Selbst bei solchen Maßnahmen muss jeder Armeeangehörige auf unbestimmte Zeit damit rechnen, entbehrungsvolle Jahre im Irak zu verbringen, in einem ungerechten Unterdrückungskrieg gegen eine legitime Widerstandsbewegung zu kämpfen und möglicherweise zu sterben. Wer zurückkehrt, wird nach einer kurzen Pause in den USA wieder in den Irak oder zu einem anderen Auslandseinsatz geschickt. Die unvermeidlichen Probleme in den Familien oder mit den Lebenspartnern und andere persönliche Schwierigkeiten werden das Trauma verschärfen. Es kam schon zu neun Todesfällen von US-Soldaten, die laut Militärführung "nicht durch feindlichen Beschuss" zustande kamen. Die Formulierung dient oft als Euphemismus für Selbstmord. Wie lange wird es dauern, bis verzweifelte Soldaten auf ihre Offiziere oder aufeinander schießen?

Das Mantra der Kriegsbefürworter lautet immer: "Unterstützt die Soldaten!" Die Soldaten - vor allem Jugendliche aus der Arbeiterklasse, die zur Armee gegangen sind, weil sie sonst keine Chance auf eine Hochschul- oder sonstige anständige Ausbildung gehabt hätten - fühlen völlig zu recht, dass sie im Irak nichts verloren haben und nach Hause möchten. Die Besetzung ist eine Ungeheuerlichkeit, die durch den unverzüglichen und bedingungslosen Abzug aller amerikanischer und ausländischer Truppen beendet werden muss.

Siehe auch:
Der Irakkrieg und die Debatte über gefälschte Geheimdienstberichte
(24. Juli 2003)
Washingtons Terrorkrieg im Irak
( 21. Juni 2003)

 

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Der Irakkrieg und die Debatte über gefälschte Geheimdienstberichte

Von der Redaktion
24. Juli 2003
aus dem Englischen (19. Juli 2003)

Das Eingeständnis, Bush habe in seiner Rede zur Lage der Nation falsche Angaben über einen angeblichen Versuch des Irak gemacht, Uran zu kaufen, hat eine Debatte ausgelöst, die nahezu surrealistisch anmutet. Die Medien und das politische Establishment geben sich die größte Mühe, die Kontroverse auf einen lächerlich engen und oberflächlichen Rahmen zu beschränken.

Bushs Lüge über den Irak und Uran aus Afrika ist nur eine unter vielen, die die Regierung über gar nicht vorhandene Massenvernichtungswaffen erzählt hat, um die amerikanische Bevölkerung zu ängstigen und einen Casus Belli zu konstruieren. Trotzdem versucht die offizielle Debatte dieses Lügengewebe auszublenden und sich auf eine einzige Rede zu konzentrieren. Dabei legt sie das Schwergewicht auf ein angebliches "Versagen" der Nachrichtendienste oder ein Kommunikationsproblem, das dafür verantwortlich sei, dass die mittlerweile berüchtigten 16 Worte im Januar ihren Weg in Bushs Rede vor dem Kongress fanden.

"Wurde der Präsident getäuscht? Wie konnte das passieren und wer ist dafür verantwortlich?" lautet der Tenor der Debatte. Die Öffentlichkeit soll glauben, Politiker und führende Journalisten seien über das Eingeständnis schockiert und fassungslos, dass dem Präsidenten bei seinem Werbefeldzug für den Krieg angeblich eine missverständliche Formulierung unterlaufen sei.

Dieses Ausmaß Heuchelei ist selbst für amerikanische Maßstäbe erstaunlich. Betrachtet man die Lage im Irak nach mehr als drei Monaten militärischer Besatzung, dann ist die Pose der Fassungslosigkeit noch durchsichtiger. Jede einzelne Lüge der Regierung ist entlarvt worden: Es gibt keine erwähnenswerten Massenvernichtungswaffen; die Amerikaner sind nicht auf Hunderttausende dankbarer Iraker, sondern auf eine der Besatzung zutiefst feindselige Bevölkerung gestoßen; sie sind mit den ersten Stadien eines Guerillakriegs konfrontiert, der sie aus dem Land treiben will; und es gibt keinerlei Anzeichen für Verbindungen des gestürzten Regimes mit Al-Qaida.

Bush selbst entlarvte unabsichtlich die Darstellung, die Lüge in seiner Rede zur Lage der Nation sei ein isolierter Einzelfall gewesen, als er, Kritik an seiner Rede zurückweisend, eine derart falsche Erklärung abgab, dass selbst seine Speichellecker im Washingtoner Pressecorps erschraken. Am 14. Juli begründete er die Rechtmäßigkeit der Invasion des Irak damit, er habe Saddam Hussein "die Chance gegeben, die Inspektoren ins Land zu lassen. Er hat sie nicht reingelassen," fuhr er fort, "und deshalb haben wir nach einer vernünftigen Aufforderung entschieden, ihn von der Macht zu entfernen."

Die Washington Post gab diese Bemerkung wieder - die in Anwesenheit des versteinert blickenden UN-Generalsekretärs Kofi Annan gemacht wurde - und fügte den folgenden taktvollen Kommentar hinzu: "Die Versicherung des Präsidenten, dass der Krieg gegen den Irak begonnen wurde, weil der Irak die Inspektoren nicht ins Land gelassen habe, schien den Ereignissen zu widersprechen, die im Frühjahr diesen Jahres zum Krieg führten: Hussein hatte in Wirklichkeit die Inspektoren ins Land gelassen, und Bush lehnte die Fortführung ihrer Arbeit ab, weil er sie für ineffektiv hielt." Die New York Times ihrerseits tilgte die bizarre Erklärung des Präsidenten ganz einfach aus ihrem Bericht über die Pressekonferenz.

Die Bemerkung legt die Annahme nahe, dass der Präsident die Politik seiner eigenen Regierung so wenig kennt, dass er sich nicht einmal an den offiziellen Vorwand für den Krieg erinnert. Oder sein Kopf ist mit so vielen Lügen vollgestopft, dass nicht einmal er selbst sie noch auseinander halten kann.

Die beiden Zeitungen, die bei der Reaktion der Medien auf wichtige politische Ereignisse die Meinungsführerschaft innehaben - die Washington Post und die New York Times - stellen die Angelegenheit als eine Frage des "geheimdienstlichen Versagens" oder eines bedauernswerten Ausrutschers nicht näher genannter Regierungsmitglieder dar. Das ist der Versuch, den Wald hinter einem Baum zu verbergen - die Kontroverse über eine einzelne Episode soll die Tatsache verschleiern, dass die gesamte Begründung für den Krieg eine Lüge war.

So schreibt die Post in einem Kommentar vom 16. Juli mit dem Titel "Wartet auf die Fakten": "Mangels harter Fakten wird viel Aufmerksamkeit auf sekundäre Fragen gerichtet - zuletzt auf die 16 Wörter in Präsident Bushs Rede zur Lage der Nation, die genau genommen nicht mehr aussagten, als dass der britische Geheimdienst glaube, der Irak habe versucht, in Afrika Uran zu erwerben."

Die Times bezeichnete am gleichen Tag in einem Kommentar die Erwähnung der Uran-Frage in der Rede als einen "Fehler" und kritisierte die Bush-Regierung lediglich, weil sie ihn zu rechtfertigen versuche. "An diesem Punkt wäre es eine ehrenhafte Reaktion, den Irrtum zuzugeben und sich beim amerikanischen Volk zu entschuldigen", erklärt die Times.

Es ist dieselbe Zeitung, die an der Spitze des Kesseltreibens gegen Clinton wegen des Whitewater Immobiliengeschäfts stand, und die versuchte, einen konstitutionellen Putsch zu legitimieren, dessen Schlachtruf lautete, der Präsident habe in der Frage eines außerehelichen Abenteuers gelogen. Aber wenn Bush das amerikanische Volk belügt, um einen unprovozierten Krieg zu rechtfertigen - da soll eine einfache Entschuldigung ausreichen.

Was die Kritiker des Präsidenten aus der Demokratischen Partei angeht, so kann deren Beteuerung, die Manipulation nachrichtendienstlichen Materials durch das Weiße Haus habe sie schockiert, nur Verachtung hervorrufen.

Es gibt in den herrschenden Kreisen eine wirkliche, äußerst hitzig geführte Debatte über die Manipulation von Geheimdienstinformationen. Aber sie dreht sich nicht um Uran aus Afrika - alle wussten, dass das eine Lüge war. Es geht vielmehr um die Darstellung des Kriegs als "Spaziergang", um die Voraussage, die US-Truppen würden als "Befreier" begrüßt und der von den USA zum irakischen Oppositionsführer ernannte Bankbetrüger Ahmed Chalabi als neuer Führer des Irak empfangen werden. Diese Debatte wird durch das immer wahrscheinlichere militärische und politische Debakel im Irak angeheizt.

Im Staatsapparat selbst sind bittere Konflikte ausgebrochen. Diejenigen in der CIA und im Außenministerium, die gezwungen sind, die Schuld für die Lügen der Regierung und für die falschen Geheimdienstberichte auf sich zu nehmen, sind darüber wenig erfreut. Außerdem fürchten die etwas Weitsichtigeren, dass die Glaubwürdigkeit dieser Behörden und der Regierung insgesamt stark unterhöhlt wird.

Im militärischen Establishment herrscht eine enorme Verärgerung über solche Zivilisten wie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney, die die Invasion und Besetzung des Irak forciert haben, ohne im mindesten die militärischen und politischen Implikationen einer kolonialen Besatzung des Landes zu bedenken.

Diese Debatte wird hinter dem Rücken der Öffentlichkeit geführt, weil ihre Folgen sich als zu explosiv erweisen könnten. Keiner der prominenten demokratischen Kritiker Bushs hat den Rückzug der US-Truppen aus dem Irak gefordert - im Gegensatz zu den amerikanischen Soldaten selbst, die diese Forderung aufzustellen beginnen. Einige haben sogar die Entsendung von noch mehr Truppen gefordert. Beide großen Parteien bereiten sich auf einen lang andauernden Anti-Guerillakrieg vor, um das irakische Volk den Profitinteressen der amerikanischen Konzerne und Banken zu unterwerfen.

Auch sind die Demokraten nicht daran interessiert, eine viel wichtigere Frage zu klären, als die, wie 16 Worte in Bushs Rede eingefügt wurden und wer für dieses Einfügen verantwortlich ist. Diese Frage lautet: Wenn die offizielle Begründung für den Krieg - dass das irakische Regime laut Geheimdienstinformationen eine unmittelbare Bedrohung für das amerikanische Volk darstelle - falsch waren, was waren dann die wirklichen Gründe für die Invasion?

Es ist auch noch keine Untersuchung der wichtigsten Lüge der Bush-Regierung gefordert worden, dass der Angriff auf den Irak eine Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 gewesen sei.

Die Regierung musste ihre Motive für die Invasion des Irak verschleiern, weil die wirklichen Gründe eine überwältigende Opposition in der Bevölkerung provoziert hätten. Diese Gründe waren schon Monate vor der Wahl im Jahr 2000 von den wichtigsten Vertretern der Bush-Regierung - von denen die meisten auch schon in der Regierung von Bush Senior dienten - dargelegt worden.

Ein im September 2000 geschriebenes Dokument des ‚Project for a New Century' [Projekt für ein neues Jahrhundert] - eines republikanischen Think-Tanks, der in den Jahren der Clinton Regierung als eine Art Schattenregierung fungierte - formulierte die wirklichen Gründe für einen Krieg gegen den Irak. Unter dem Titel "Neuformierung der Verteidigung Amerikas: Strategien, Kräfte und Mittel für ein neues Jahrhundert" heißt es in dem Dokument, die USA müssten die militärische Kontrolle in der Region am Persischen Golf übernehmen, ob das irakische Regime nun eine Bedrohung darstelle oder nicht.

Es heißt dort: "Die Vereinigten Staaten versuchen seit Jahrzehnten, eine dauerhaftere Rolle für die regionale Sicherheit am Golf zu spielen. Der ungelöste Konflikt mit dem Irak ist zwar als unmittelbare Rechtfertigung hilfreich, der Bedarf für die Anwesenheit einer bedeutenden amerikanischen Streitkraft am Golf geht aber über die Frage von Saddam Husseins Regime hinaus."

Die Kontrolle des Golfs und seiner Ölreichtümer, fügte das Dokument hinzu, sei notwendig, "um die globale Vorherrschaft der USA zu erhalten, dem Aufstieg einer rivalisierenden Großmacht vorzubeugen und die internationale Sicherheitsarchitektur gemäß den amerikanischen Prinzipien und Interessen zu gestalten".

Das Dokument griff im Wesentlichen Konzeptionen auf, die 1992 in einem Strategiepapier des Pentagon entwickelt worden waren, das von Paul Wolfowitz, dem heutigen stellvertretenden Verteidigungsminister, und I. Lewis Libby, dem Chef des Stabes von Vizepräsident Cheney entworfen wurde, als beide Berater des damaligen Verteidigungsministers Cheney waren. Es sah die Kontrolle über das Öl am persischen Golf als Teil einer "großen amerikanischen Strategie" vor, die "entwickelte Industrieländer davon abhalten wird, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen, oder auch nur eine größere regionale oder globale Rolle anzustreben".

Der Krieg wurde also geplant und durchgeführt, um die Bestrebungen eines Teils der amerikanischen herrschenden Klasse nach globaler Hegemonie zu verwirklichen. Er richtete sich nicht nur gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak, sondern auch gegen Europa, China und Japan und jede andere Macht, die potentiell zu einem Rivalen für die Weltherrschaft der USA werden könnte.

Weitere Belege dafür, dass der Krieg langfristig geplant war, und seine Ziele nichts mit Massenvernichtungswaffen oder dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun hatten, sind letzte Woche aufgetaucht. Sie kamen in Verbindung mit einem Prozess ans Licht, in dem die Regierung gezwungen werden soll, Informationen über die Beratungen einer Kommission zur Energiepolitik herauszugeben, die im März 2001 von Vizepräsident Cheney eingesetzt worden war.

Cheney selbst, der in den neunziger Jahren mehrere Jahre lang Vorstandsvorsitzender des Ölanlagenbauers Halliburton war, weigerte sich, irgendwelche Details der monatelangen Beratungen zugänglich zu machen, die er und seine Mitarbeiter mit Vertretern der Stromindustrie und ihren Lobbyisten abgehalten hatten, ja selbst die Identität der Teilnehmer hält er geheim. Aber andere Regierungsorgane wurden jetzt aufgrund des Freedom of Information Act gezwungen, Dokumente herauszurücken. Material aus der Energiekommission, das vom Handelsministerium übergeben wurde, enthält detaillierte Karten der irakischen Ölfelder, Pipelines und Raffinerien, und Diagramme, die irakische Öl- und Gasprojekte und die Verträge mit ausländischen Konzernen über die Entwicklung von Ölfeldern zeigen.

Dieses Material lässt erkennen, dass die Regierung ihre Energiepolitik schon sechs Monate vor den Terroranschlägen vom 11. September auf Pläne stützte, die Kontrolle über die irakischen Ölreserven an sich zu reißen.

Die Umsetzung einer derart weitreichenden Politik militärischer Aggression und imperialistischer Eroberung, die von den rechtesten Teilen der amerikanischen herrschenden Elite schon seit langem gefordert wurde - und von der großen Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung instinktiv abgelehnt wird - war nur unter extremen Bedingungen der Massentraumatisierung, Furcht und patriotischen Hysterie vorstellbar. Der 11. September schaffte diese Bedingungen. Die Bush-Regierung benutzte die Ereignisse dieses Tages als Vorwand für die Realisierung ihrer neokolonialen Pläne.

Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice hat die Bedeutung der Angriffe vom 11. September für die Regierung offen ausgesprochen. Sie reagierte nicht, wie die amerikanische Bevölkerung, mit Leid und Entsetzen über den Verlust von mehr als 3.000 Menschenleben. Vielmehr betrachtete sie die Tragödie als die Chance, ihre bereits in der Schublade liegenden imperialistischen Ziele zu verwirklichen.

In einem Interview mit der Zeitschrift New Yorker vom April letzten Jahres kommentierte Rice, dass die Angriffe "die tektonischen Platten der internationalen Politik in Bewegung versetzt haben". Sie fuhr fort: "Und es ist wichtig, diese Chance jetzt zu nutzen und die amerikanischen Interessen, Institutionen usw. neu auszurichten, bevor sie sich wieder verhärten."

Die erste Reaktion der Regierung bestand in einem Versuch, die Angriffe als Vorwand für eine Invasion des Irak zu nutzen. Laut einem Bericht des Korrespondenten für nationale Sicherheit beim Sender CBS News, David Martin, "kam kaum fünf Stunden, nachdem Flug 77 der American Airlines im Pentagon eingeschlagen war, eine Order von Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld an seine Mitarbeiter, Pläne für einen Angriff auf den Irak auszuarbeiten, obwohl es keine Beweise für eine Verbindung von Saddam Hussein mit den Anschlägen gab".

Diese Pläne gingen mit einer intensiven Propagandakampagne einher, um den Irak für die Anschläge verantwortlich zu machen. Der pensionierte General und frühere NATO-Kommandeur, Wesley Clark, erinnerte sich letzten Monat in der Sendung "Meet the Press" daran, dass er am 11. September, kurz vor einem Auftritt bei CNN, einen Anruf aus dem Weißen Haus des folgenden Inhalts erhalten hatte: "Sie müssen sagen, dass es eine Verbindung gibt... Es muss eine Verbindung mit Saddam Hussein hergestellt werden."

Der Mangel an Beweisen für einen solchen Zusammenhang hinderte Bush, Cheney, Rumsfeld, Rice und andere in der Regierung nicht daran, immer wieder eine Verbindung zwischen Saddam Husseins Regime und Al-Qaida zu behaupten. Wer in den Geheimdiensten solche Behauptungen kritisierte, wurde gefeuert oder eingeschüchtert, ebenso wer die verlogenen Behauptungen über Massenvernichtungswaffen in Frage stellte.

Wenn man bedenkt, welch entscheidende Rolle die Regierung dem 11. September 2001 für ihre Rechtfertigung einer Politik der globalen Vorherrschaft und zweier Kriege in 16 Monaten beimisst, dann ist die Tatsache besonders auffällig und vernichtend, dass bis heute keine ernsthafte Untersuchung der Terroranschläge jenes Tages stattgefunden hat. Die Verschleierung des 11. September und der Ereignisse davor ist vielleicht die finsterste aller offiziellen Irreführungen unter Bush - und dazu eine, die niemand in der Republikanischen oder der Demokratischen Partei in Frage zu stellen bereit ist.

Während der zweite Jahrestag des 11. Septembers näherrückt, ist die Bush-Regierung weiterhin aktiv damit beschäftigt, Informationen über die Terroranschläge zu unterdrücken. Das Mauern ist so offensichtlich, dass selbst die offizielle Kommission zur Untersuchung der Ereignisse sich gezwungen sah, zu protestieren, - obwohl sie sich aus erprobten Vertretern des Establishments zusammensetzt, und der Gouverneur von New Jersey, Thomas Kean (ein Republikaner), ihr Vorsitzender ist. Dieser Kommission ist der Zugang zu Dokumenten verweigert worden, und mögliche Zeugen wurden eingeschüchtert. Informationen aus früheren Anhörungen im Kongress sind mit einer neuen Geheimhaltungsstufe versehen und selbst solchen Kommissionsmitgliedern vorenthalten worden, die sie früher selbst im Kongress gehört hatten.

Unterfinanziert und zeitlich beschränkt - "Das Weiße Haus hat klargemacht dass sie nicht in die Wahlkampfperiode hineingehen soll", erklärte Kean letzte Woche gegenüber dem Wall Street Journal - war schon die bloße Einsetzung der Kommission der Regierung ein Dorn im Auge. Diese hatte ihre Einrichtung mehr als ein Jahr lang mit dem Argument blockiert, sie würde "vom Krieg gegen den Terrorismus ablenken".

Die Demokratische Partei und die Medien sind direkte Komplizen bei dieser Verschleierung. Es gibt keinen Aufschrei der Demokraten im Kongress oder der Kandidaten der Partei für das Präsidentenamt, weil die Regierung versucht, eine Untersuchung des schlimmsten Massenmordes der Geschichte des Landes zu sabotieren.

Die Medien haben die Proteste der Kommission weitgehend ignoriert und über ihre Anhörungen kaum berichtet. Das Ereignis, das angeblich "alles verändert hat", und das als Rechtfertigung für militärische Aggression nach außen und für einen unglaublichen Angriff auf demokratische Rechte im Innern dient, ist zu einem Tabuthema geworden.

Was wollen alle um jeden Preis verbergen? Fast zwei Jahre nach den Angriffen hat es immer noch keine Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen über den 11. September gegeben, Fragen, die darauf hindeuten, dass die Machthaber mehr über die Pläne der Attentäter wussten, als je zugegeben worden ist. Es sind Fragen wie diese:

· Wie kommt es, dass das riesige Geheimdienstnetz der USA die gleichzeitige Entführung von vier Passagierflugzeugen nicht vorhersagen, geschweige denn verhindern konnte?

· Warum war das Luftabwehrsystem nicht in der Lage, mit Kampfflugzeugen auch nur eines der entführten Flugzeuge abzufangen, bevor sie in das World Trade Center und ins Pentagon einschlugen?

· Warum hat das FBI-Hauptquartier Warnungen seiner Agenten in Arizona und Minneapolis vor drohenden Flugzeugentführungen durch islamistische Gruppen in den Wind geschlagen, und warum hat es alle ernsthaften Ermittlungen gegen Zacarias Moussaoui blockiert, der heute "der zwanzigste Entführer" genannt wird, und der einen Monat vor den Angriffen festgenommen wurde?

· Warum konnten die Attentäter Mohammed Atta, Khalid Almihdhar und Nawaf al Hazmi, die als mutmaßliche Terroristen auf Listen oder unter Beobachtung von US-Geheimdiensten standen, frei ins Land einreisen und offen Geschäfte unter ihrem eigenen Namen tätigen, ohne irgendeine Reaktion der Sicherheitskräfte?

· Erhielt die CIA Verbindungen zu Osama bin Laden aufrecht, seitdem der Geheimdienst ihn und andere islamische Fundamentalisten im Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan in den achtziger Jahren unterstützt hatte? Wenn ja, welche?

· Warum wurden die Warnungen aus fünf verschiedenen Ländern im Sommer 2001, dass ein massiver terroristischer Angriff bevorstehe, ignoriert und niemals der Öffentlichkeit mitgeteilt?

Bushs Rede zur Lage der Nation wirft noch eine weitere Frage auf. Wenn das Weiße Haus keine Bedenken hatte, über die Einschätzungen der CIA hinsichtlich des Irak und des afrikanischen Urans hinwegzugehen und sie zu verfälschen, um seine Kriegsziele zu fördern, hat es das gleiche - mit denselben Motiven - getan, als es um die Warnungen des Geheimdienstes vor einem unmittelbar bevorstehenden terroristischen Angriff ging?

Diese offenen Fragen, wie auch die neu aufgetauchten Beweise, deuten darauf hin, dass in Regierungskreisen eine Entscheidung getroffen worden war, absichtlich die Anzeichen für einen Terroranschlag auf die USA zu ignorieren. Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass die Verantwortlichen nicht mit dem tatsächlichen Ausmaß des Angriffs rechneten. Aber die naheliegendste Erklärung für das völlige Versagen der US-Geheimdienste lautet, dass die Sache kein Zufall war. Indem sie einen Terroranschlag zuließ, schuf die Regierungen die politischen Voraussetzungen, um die öffentliche Meinung hinter ihr weitreichendes Programm des weltweitem Militarismus und der Reaktion im Innern zu bringen, was ihr anders nicht gelungen wäre.

Die gegenwärtige Debatte in Washington über die gefälschtes Geheimdienstmaterial und Lügen des Präsidenten dringt nicht zum Kern der Fragen vor. Alle Beteiligten - der Kongress, die Demokratische Partei, die Medien - sind viel zu stark in die Ereignisse der letzten zwanzig Monate verstrickt, um eine kritische Untersuchung der Ereignisse zulassen zu können, die zum 11. September und später zum Krieg gegen Irak geführt haben.

Nur eine intensive öffentliche Untersuchung kann bis zum Kern der Dinge vordringen. Die Enthüllung der Wahrheit über diese Ereignisse ist unabdingbar, um all jene zur Verantwortung zu ziehen, die für ein monströses Verbrechen mit Tausenden Opfern verantwortlich sind. Noch notwendiger ist sie, um neue Kriege und weitere Plünderungen und Unterdrückung zu verhindern, wie sie die Bevölkerung der USA und die Völker der Welt bedrohen.

Aber wie kann eine solche Untersuchung organisiert werden? Kein Flügel des politischen Establishments wird sie durchführen. Die politische Verschwörung, die sowohl dem 11. September als auch dem Irak-Krieg zugrunde liegt, kann nur vollständig entlarvt werden, wenn die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung für ihre demokratischen und sozialen Rechte und gegen das bestehende politische und gesellschaftliche System mobilisiert wird.

Siehe auch:
Die Schamgrenze sinkt: Die Zeit plädiert für deutsche Interessenpolitik im Iran
(19. Juli 2003)
Parlamentsausschuss kann Blair nicht vom Vorwurf der Lüge entlasten
( 15. Juli 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September/Oktober 2003 enthalten.)

 

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Washingtons Terrorkrieg im Irak

Von der Redaktion
21. Juni 2003
aus dem Englischen (18. Juni 2003)

Die massiven militärischen Operationen zur Aufstandsbekämpfung markieren ein neues Stadium der amerikanischen Besetzung des Irak. Konfrontiert mit wachsendem bewaffnetem Widerstand und der immer stärkeren Feindschaft vonseiten des irakischen Volkes hat Washington entschieden, mit Hilfe übermächtiger Gewalt die 24 Millionen Einwohner des Landes zu unterdrücken und zu terrorisieren.

Ein Krieg, der unter dem Vorwand begonnen wurde, fiktive "Massenvernichtungswaffen" zu zerstören, mündet jetzt in einen klassisch-kolonialistischen Repressionskrieg, nach dem blutigen Muster der amerikanischen Invasion auf den Philippinen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, des französische Blutbads in Algerien Anfang der fünfziger Jahre bis hin zum US-Krieg in Vietnam.

Sechs Wochen, nachdem Präsident Bush über das Flugdeck der USS Abraham Lincoln stolzierte und das Ende der großen Kampfoperationen und die Erfüllung der Militärmission verkündete, wird ein amerikanischer Soldat durchschnittlich pro Tag von Irakern getötet. Die Zahl irakischer Opfer ist in der gleichen Zeit auf mehrere Hundert angestiegen.

Der vorerst letzte amerikanische Tote, der Soldat, der vergangenen Dienstag in Bagdad auf Patrouille erschossen wurde, bringt die Anzahl der Besatzungssoldaten, die seit Bushs Fototermin auf jenem Flugzeugträger bei Angriffen oder Unfällen getötet wurden, auf fünfzig.

Außer den täglichen Guerilla-Attacken auf US-Soldaten gibt es eine Reihe weiterer vielsagender Anzeichen des wachsenden Widerstandes gegen die Besatzung. Robert Fisk, alterprobter Nahost-Reporter für den britischen Independent, erklärte, US-Beamte hätten ihm gesagt, dass die Flugzeuge, die versuchten, auf dem Flughafen von Bagdad zu landen, beinahe jede Nacht aus den Büschen nahe der Landebahn heraus von Heckenschützen beschossen würden.

Ein weiterer Gradmesser für den hochkochenden Zorn der Iraker ist eine Welle von Gefangenenaufständen, bei denen es mehrere irakische Tote und zahlreiche Verwundete gab. Am letzten Samstag griffen Insassen des Abu-Gharib-Gefängnisses westlich von Bagdad die US-Militärwachen an, warfen Steine nach ihnen und bedrohten sie mit Metallstangen. Die amerikanischen Wachen eröffneten das Feuer auf die Iraker, töteten einen und verwundeten viele andere schwer. Es war der dritte Zwischenfall in diesem Gefängniskomplex in einer Woche. Zwei Tage zuvor hatten amerikanische Soldaten zwei Gefangene erschossen. Die US-Behörden behaupteten, diese hätten zu fliehen versucht.

Über die meisten gewaltsamen Zusammenstöße zwischen US-Kräften und der irakischen Bevölkerung wird gar nicht berichtet. Wenn kein amerikanischer Soldat zu Tode kommt oder ernsthaft verwundet wird, verschweigt das US-Zentralkommando den Zwischenfall. Irakische Quellen werfen den US-Behörden vor, sie hätten Zusammenstöße vertuscht, darunter auch solche, bei denen US-Soldaten ums Leben kamen.

Der wahre Charakter dessen, was Washington die "Befreiung" des irakischen Volkes nennt, zeigt sich immer deutlicher: Es ist eine brutale Besatzung, mit tagtäglichen Tötungen, Razzien von Haus zu Haus und massenhaften Festnahmen.

Unterstützt von Kampfhubschraubern, Kampfflugzeugen und Panzern stürmten in den letzten Tagen Tausende US-Soldaten im ganzen Irak durch die Wohngebiete und Innenstädte, in einer Aktion, die von der Armee "Operation Wüstenskorpion" genannt wurde.

Eingeleitet wurde diese Aktion mit der sogenannten "Operation Halbinsel", einem Angriff, an dem sich etwa 4.000 US-Soldaten beteiligten und der das Leben von über hundert Irakern forderte. US-Kräfte trieben über 400 irakische Männer zusammen, die bis auf sechzig alle wieder freigelassen wurden. So wie die meisten der Verdächtigen sich als völlig uninteressant für die amerikanischen Truppen erwiesen, so sind auch die meisten der Getöteten unschuldige Opfer der Razzien.

In einer weiteren Aktion reagierte die US-Armee offenbar mit blinder Vergeltung auf einen Hinterhalt, in den ein Panzer nördlich von Bagdad geraten war, indem sie eine ganze fünfköpfige Schäfer-Familie auf der Weide abschlachtete.

Am frühen Sonntagmorgen riegelten 1.300 amerikanische Soldaten die widerspenstige Stadt Falludscha ab, wo die Besatzungstruppen im April mindestens achtzehn Demonstranten niedergemetzelt hatten. Einer der befehlshabenden Offiziere bei den Hausdurchsuchungen dort sagte der Washington Post, das Ziel des US-Militärs sei es, "mit überwältigenden Kräften einzugreifen und alles platt zu machen, um zu verhindern, dass auch nur ein einziger Soldat gefährdet wird".

Presseberichte beschrieben das Vorgehen der US-Soldaten so, dass sie Türen eintraten, die Männer zu Boden warfen und sie fesselten, den Stiefel im Nacken. Die Soldaten verschlossen den Mund der Festgenommenen mit Klebeband und verbanden ihnen die Augen, bevor sie zu Verhören abtransportiert wurden. Auch Frauen und Kinder, teilweise nicht älter als sechs Jahre, wurden bei der Razzia vor Sonnenaufgang aus ihren Häusern geholt, gefesselt und teilweise stundenlang festgehalten, ehe sie wieder freigelassen wurden.

Die amerikanischen Besatzungsbehörden behaupten, dass diese Operationen sich ausschließlich gegen Anhänger der Baath-Partei, gegen terroristische Organisationen und kriminelle Elemente richteten. Die amerikanischen Medien verbreiten diese Behauptung unbesehen. Tatsächlich sind aber die meisten, die bei diesen Razzien ins Netz gehen, einfache irakische Zivilisten.

Doch kann keine Medienpropaganda die Tatsache verheimlichen, dass der irakische Widerstand gegen die Besetzung weit über die letzten Reste des Baath-Regimes hinausreicht. Zwar ereignen sich die meisten Fälle von Hinterhalt und Schüssen auf US-Soldaten in den überwiegend sunnitischen Gebieten in Zentralirak, wo die Unterstützung für das Baath-Regime am stärksten war, aber auch im schiitisch-geprägten Süden, einem Zentrum der Opposition gegen die Herrschaft Saddam Husseins, ist es zu Angriffen und Protesten gekommen.

Vergangenen Sonntag demonstrierten mehr als 10.000 Iraker im Zentrum der südirakischen Stadt Basra. Britische Armeefahrzeuge wurden mit Steinen beworfen und Forderungen nach einem Ende der Besetzung wurden laut. Systematische Sabotageakte haben es in der gleichen Region den Besatzungsbehörden unmöglich gemacht, die irakische Ölindustrie wieder in Betrieb zu nehmen.

Die jüngsten Razzien, die in einigen Fällen in Gebieten durchgeführt wurden, die als Zentren der Opposition gegen Saddam Hussein bekannt waren, werden nur weiteren Widerstand provozieren.

Das Wall Street Journal, das Bushs Krieg gegen den Irak vorbehaltlos unterstützt hatte, schreibt: "Vertreter des Pentagon sagen, die Anstrengung sei nötig, um einen langen Guerillakrieg zu verhindern, der nicht nur das Leben von Amerikanern kosten, sondern auch Mittel blockieren würde, die für den Wiederaufbau benötigt werden, der schon jetzt durch Sabotage und Sicherheitsprobleme verzögert wird. Aber militärische Planer geben zu, dass dieser Kurs seine eigenen Gefahren beinhaltet, weil die Belästigung zwangsläufig Teile der Bevölkerung entfremden und denen Sympathien verschaffen wird, die die USA zu isolieren versuchen."

Die Zeitung bemerkte, dass die US-Truppen "Schwierigkeiten haben, zwischen einfachen Zivilisten und feindlichen Kämpfern zu unterscheiden". Sie fügte hinzu, dass die Offensive und die damit einhergehenden toten Zivilisten zwar die Angriffe bisher nicht verhindert, dafür aber "die Unterstützung für Amerikas Feinde verstärkt" hätten.

"Man kann Freund nicht von Feind unterscheiden", klagte ein US-Soldat einem Radiobericht zufolge. "Wir hätten mit diesen Leuten am liebsten nichts mehr zu tun"´, sagte ein Sergeant der New York Times. Er fügte hinzu, selbst Kinder jagten ihm Angst ein. "Am Ende war es so, dass du dir die Kids nur noch vom Hals halten wolltest", sagte er.

Diese Bemerkungen erinnern erschreckend an gleichlautende, die von einer früheren Generation amerikanischer Soldaten geäußert wurden, die aufgrund von Lügen in ein fernes Land geschickt worden waren, um dort zu töten und getötet werden - nach Vietnam. Aus Furcht vor der Bevölkerung, die sie angeblich vor "kommunistischer Aggression" schützen sollten, fanden sie es unmöglich, zwischen vietnamesischen Zivilisten und Vietkong zu unterscheiden - hauptsächlich deswegen, weil der Vietkong und die Nordvietnamesen einen Volkskrieg gegen eine verhasste und verachtete Besatzungsarmee führten.

Ein Marine-Sergeant sagte bei einer Anhörung im Mai 1971 aus: "Wir unterschieden Zivilisten von Vietkong dadurch, dass Vietkong Waffen trugen und Zivilisten nicht. Außerdem wurde jeder Tote als Vietkong betrachtet. Wenn man jemand getötet hatte, wurde gefragt: 'Wie konntest du wissen, dass das ein Vietkong war?' Die Antwort lautete: 'Er ist tot', und das war auseichend."

Im Irak entwickeln sich nun Bedingungen für eine ähnliche Schlächterei. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die USA Gräuel im Irak begehen, wie sie vor dreißig Jahren mit den Stichworten "My Lai" und "Das Dorf zerstören, um es zu retten" assoziiert und mit imperialistischer Barbarei gleichgesetzt wurden.

Es klingt wie ein Echo aus dem Vietnamkrieg, wenn das US-Militärkommando darüber spricht, den Kampf um die "Herzen und Köpfe" des irakischen Volkes zu führen. Das sagt alles über die Voraussagen vor dem Krieg, dass ein dankbares und williges irakisches Volk die amerikanischen "Befreier" euphorisch begrüßen werde.

Wie in Vietnam sind die amerikanischen "Gesten des guten Willens" gleichzeitig arrogant und verachtenswürdig. Unmittelbar nach ihrem Streifzug durch Falludschah, bei dem irakische Männer, Frauen und Kinder terrorisiert wurden, organisierte das Militär eine Verteilung von Fußbällen, Schulmaterialien und Lebensmitteln. Bewohner reagierten feindselig. Viele ließen ihre Kinder nicht in die Schulen gehen, in denen Zivilbeschäftigte der US-Armee ihre Verteilungsaktion durchführten, weil sie vor den Soldaten Angst hatten.

Die Washington Post berichtete über den Versuch einer Armeeeinheit, eine Abfallhalde in ein Fußballfeld zu verwandeln: "Militärische US-Ingenieure schufteten in schweren, schusssicheren Westen und Stahlhelmen, um bei einer Hitze von über 45 Grad Felder von knietiefem Abfall zu befreien und daraus Fußballfelder zu machen. Sie sagten, sie seien von Kindern mit Ziegeln und Steinen beworfen worden."

Dass solche Gesten als grausamer Scherz angesehen werden, kann angesichts des gesellschaftlichen Chaos, das der Krieg verursacht hat, und der zunehmenden Unterdrückungsmaßnahmen der USA nicht verwundern. Weite Teile des Irak sind immer noch ohne Strom, sauberes Trinkwasser oder eine funktionierende Abwasserreinigung. Angesichts der hohen sommerlichen Temperaturen wächst die Gefahr des Ausbruchs von Seuchen ständig.

Die irakischen Kinder zahlen den höchsten Preis. Die Kinderorganisation der Vereinten Nationen (UNICEF) veröffentlichte Anfang des Monats einen Bericht, dem zufolge sich die Anzahl der Kinder, die an Durchfall, der Haupttodesursache für Kleinkinder, leiden, seit der Besetzung verdoppelt hat. Ganze 72 Prozent aller von der Organisation untersuchten Kinder litten an dieser Krankheit. Das ist das Ergebnis der Zerstörung der Wasseraufbereitungs- und Abwasserentsorgungsanlagen des Landes im Krieg. Die Anzahl der Fälle von akuter Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren in Bagdad hat sich seit dem Krieg ebenfalls verdoppelt, wie die UN-Agentur mitteilte.

Mehr als eine halbe Million Kinder starben schon nach dem ersten Golfkrieg an den gleichen Ursachen, weil die Infrastruktur zerstört und die UNO-Sanktionen verhängt wurden. Die "Befreiung" durch die USA zeigt schon die gleichen entsetzlichen Ergebnisse.

Die erwachsene Bevölkerung hat mit Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Armut zu kämpfen. Eine der ersten Verordnungen des US-Kolonialverwalters, Paul Bremer, war die Auflösung der 400.000 Mann starken irakischen Armee. Allein dadurch verloren schätzungsweise zweieinhalb Millionen Menschen - d.h. zehn Prozent der Bevölkerung - ihren Unterhalt. Mindestens weitere 100.000 Personen kamen durch eine weitere Anordnung Bremers als ehemalige Mitglieder der Baath-Partei auf eine schwarze Liste.

Der Londoner Telegraph zitierte am Dienstag eine "sehr hochstehende britische Quelle", die den Wiederaufbau der USA im Irak als total "chaotisch" und "ohne jede strategische Richtung" bezeichnete. Dieser Informant fügte hinzu: "Wir sehen eine völlige Unfähigkeit, das zu tun, was getan werden müsste, und die Mittel einzusetzen, die tatsächlich etwas bewirken könnten." Er warnte, dass "wir im Herbst die Folgen zu spüren bekommen könnten", wenn die USA nicht endlich die notwendigen Mittel für den Wiederaufbau des Irak bereit stellten.

Hinter der Katastrophe, die die US-Besetzung im Irak anrichtet, steht aber mehr als reine Inkompetenz und Gleichgültigkeit. Die rechten Ideologen, die heute die Politik in Washington gegenüber dem besetzten Land bestimmen, haben definitive Pläne, die erfordern, dass seine Wirtschaftskraft ausgeschaltet werde.

Ihr Ziel besteht darin, die Vorkriegsstrukturen einer staatlich kontrollierten Industrie zu zerschlagen und alle Beschränkungen niederzureißen, die die amerikanischen Konzerne daran hindern, das Land und in erster Linie seinen Ölreichtum auszuplündern. Die Energiekonzerne und ihre politischen Sprachrohre in der Bush-Regierung betrachten den Irak als eine mögliche Quelle enormer Profite. Es gibt nichts, was sie weniger interessieren könnte, als die Folgen für das irakische Volk.

Zusätzlich zu dem Reichtum, den es im Irak rauben kann, betrachtet das militärisch-politische Establishment den Irak als Plattform für weitere ökonomische und militärische Aggressionen im Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus. Das Ziel ist die Beherrschung der gesamten Region durch die USA mit Israel als Juniorpartner. Das ist Teil eines großen - und wahnsinnigen - Plans, die Ölversorgung der ganzen Welt in den Griff zu bekommen, was Washington ermöglichen würde, Freund und Feind gleichermaßen im Interesse der Errichtung einer globalen Hegemonie zu erpressen.

Abgesehen von der Kontrolle über die irakischen Ölanlagen, der Errichtung von Militärbasen und des Aufbaus eines Unterdrückungsapparats zur Zerschlagung jeder Opposition haben die USA nur wenig Interesse daran, den Irak "wiederaufzubauen". Die humanitäre und demokratische Rhetorik sind reine Fassade, um die öffentliche Meinung zuhause zu täuschen und zu manipulieren.

Erst kürzlich verkündete Bremer neue Bestimmungen, die es nicht nur verbieten, Unterstützung für das gestürzte Baathisten-Regime zu äußern, sondern auch, sich gegen die weitere US-Besetzung auszusprechen. Jeder der in Wort, Schrift oder durch Protestdemonstrationen den Rückzug der amerikanischen Truppen fordert, muss mit militärischer Repression rechnen.

Die amerikanische Verwaltung hat schon Pläne für die umfassende Privatisierung von Staatsunternehmen verkündet, angefangen mit dem Ölsektor. Es wird weithin vermutet, dass die lukrativen Verträge, die der Bechtel Corporation und anderen Firmen mit politischen Verbindungen für die Wiederherstellung der irakischen Infrastruktur gewährt wurden, der Auftakt für die Privatisierung zentraler Bereiche der öffentlichen Versorgung wie Wasser und Elektrizität sein könnten.

Auf einer Pressekonferenz am 13. Juni erklärte Bremer auf Nachfrage von Reportern nach der verzweifelten wirtschaftlichen Lage und nach den Massendemonstrationen arbeitsloser Iraker mehrfach, dass die Situation nur durch "grundlegende wirtschaftliche Reformen" gebessert werden könne.

Der amerikanische Kolonialherr behauptete, dass das irakische Volk selbst entscheiden könne, welches Wirtschaftssystem es wolle. Er betonte jedoch, dass ein "dynamischer Privatsektor" die "unabdingbare Voraussetzung für eine stabile Wirtschaft und stabiles Wirtschaftswachstum" sei. Er fügte zynisch hinzu: "Wenn sie den Sozialismus wählen, dann ist das ihre Sache. Meine Schätzung ist, dass sie das nicht tun werden."

Die amerikanische Besetzung des Irak ist ein brutales imperialistisches Untenehmen. Die Soldaten, die dort sterben, werden nicht für "Demokratie" und "Befreiung" geopfert, sondern für die räuberischen Ziele und Interessen der kriminellen Elemente der herrschenden amerikanischen Elite. Diese Schicht greift zu militärischer Aggression als Mittel zur Selbstbereicherung und um die Aufmerksamkeit von ständig schärferen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Widersprüchen in den USA selbst abzulenken. Sie hat das amerikanische Volk systematisch belogen und die Bedrohung durch nicht existente "Massenvernichtungswaffen" und terroristische Verbindungen erfunden, um einen unprovozierten und illegalen Krieg zu rechtfertigen.

Siehe auch:
Die Vergewaltigung des Irak
(15. Mai 2003)
Lehren aus dem Irakkrieg: Die Aufgaben der europäischen Arbeiterbewegung
( 4. Juni 2003)

 

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Versammlung der WSWS und der PSG in Berlin

Lehren aus dem Irakkrieg - Die Aufgaben der europäischen Arbeiterbewegung

Von Peter Schwarz
4. Juni 2003

Wir dokumentieren hier den Vortrag, den Peter Schwarz, Mitglied der Redaktion der World Socialist Web Site, am 1. Juni auf einer Veranstaltung der WSWS und der Partei für Soziale Gleichheit in Berlin hielt.

Der Irakkrieg kennzeichnet einen Wendepunkt der internationalen Politik, dessen Bedeutung und Ausmaß bisher kaum verstanden wird. Es ist, als hätte man bei einem komplexen Gebäude die tragenden Säulen entfernt. Am Anfang halten Wände und andere Bauelemente das Gebäude noch zusammen, es werden nur einige Risse und Verzerrungen sichtbar. Aber alle Versuche, diese Risse zu kitten und die Verzerrungen zu richten, bleiben wirkungslos. Schließlich bricht das ganze Gebäude zusammen, kein Teil bleibt verschont.

Ähnlich ist den alten politischen Mechanismen und Institutionen der Nachkriegszeit durch die veränderte amerikanische Außenpolitik die Grundlage entzogen worden. Das betrifft nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern auch die nationalen. Es gibt in kaum einem Land politische oder soziale Mechanismen, die nicht in der einen oder anderen Form auf diesen internationalen Mechanismen und Institutionen beruhten.

So gesehen hat der Irakkrieg wahrhaft revolutionäre Implikationen. Revolutionen entstehen nicht einfach nur als Ergebnis scharfer sozialer Spannungen - auch wenn diese eine wichtige Rolle spielen. Revolutionen entwickeln sich, wenn es im Rahmen der bestehenden Gesellschaft auf große historische Fragen keine Antwort mehr gibt. In eine derartige Periode sind wir eingetreten.

Die internationalen Regeln und Institutionen, von denen sich die Bush-Administration mit dem Irakkrieg verabschiedet hat, waren die tragenden Säulen der Weltpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg. Allgemein anerkannte Grundsätze des Völkerrechts - wie die Souveränität der Nationen und das Verbot von Angriffskriegen - und Institutionen wie die Vereinten Nationen waren von den USA nach dem Krieg selbst geschaffen und garantiert worden.

In den vergangenen Monaten hat die Bush-Administration unmissverständlich klar gemacht, dass sie sich durch diese Regeln und Institutionen nicht mehr gebunden fühlt. Ihre neue Außenpolitik basiert auf militärischer Gewalt, Einschüchterung, dreisten Lügen und politischen Intrigen. Das gilt nicht nur für sogenannte Schurkenstaaten und weniger entwickelte Länder ganz allgemein, sondern auch für die sogenannten Verbündeten und hochindustrialisierten Länder. Bushs Ausspruch: "Entweder für uns oder gegen uns", könnte als Motto über seiner gesamten Außenpolitik stehen.

Die Art und Weise, wie er durch Europa reist, den "Willigen" in Warschau seine Referenz erweist und die "Unwilligen" in Berlin durch Nichtbeachtung straft, macht deutlich, dass die USA ihren Einfluss in Europa jetzt nutzen, um den alten Kontinent zu spalten und zu schwächen, und nicht wie in der Vergangenheit, um ihn zu einen und zu festigen. Bushs eher kindische Gesten finden ihre Ergänzung in einer Wirtschaftspolitik, die durch eine gezielte Absenkung des Dollarkurses die europäische Exportindustrie und den Euro unter Druck setzt.

Bushs Außenpolitik geht nicht nur hinter 1945 zurück - die Vereinten Nationen, das System internationaler Militärbündnisse, die transatlantische Partnerschaft - sondern auch hinter 1918 - den Völkerbund und Wilsons "14 Punkte". Sie bedeutet eine Rückkehr zum nackten Imperialismus. In letzter Konsequenz stellt sie die Weichen für einen neuen, dritten Weltkrieg. Denn unter dem Imperialismus kann - wie Lenin einst erklärte - nur die Stärke, einschließlich der militärischen, über das Verhältnis zwischen den Großmächten entscheiden.

Was bezweckt die neue Außenpolitik der amerikanischen Regierung? Die Unterwerfung des gesamten Planeten unter die Bedürfnisse des amerikanischen Kapitals.

Deutschland, der fortgeschrittenste und dynamischste Kapitalismus auf dem alten Kontinent, versuchte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zwei Mal Europa gewaltsam zu reorganisieren, um seine eigenen, inneren Widersprüche zu überwinden. Amerika, der fortgeschrittenste und dynamischste Kapitalismus auf dem Globus, versucht heute aus demselben Grund die Welt gewaltsam zu reorganisieren.

Dabei beschränken sich die USA nicht darauf, Länder militärisch zu erobern und ihre Rohstoffvorkommen zu rauben - wie dies im Irak geschah. Sie wollen die gesamte Weltwirtschaft auf der Grundlage der rücksichtslosesten Marktprinzipien umgestalten. Aus der Sicht der amerikanischen herrschenden Klasse stellt jede Form von Sozialleistungen, Steuern auf Einkommen und Gewinne, von staatlicher Wirtschaftslenkung und Umweltschutz eine nicht zu akzeptierende Einschränkung ihrer "Freiheit" dar, die Welt auszubeuten.

Der neue Kurs der amerikanischen Außenpolitik verändert so nicht nur alle internationalen Beziehungen, er hat auch weitgehende Rückwirkungen auf die inneren Verhältnisse in jedem Land der Welt. Er verschärft den Gegensatz zwischen den Klassen und steigert die politische Instabilität. Er entzieht jeder Form von sozialem Kompromiss und von Konsens-Politik den Boden.

Warum kann Bush dominieren?

Betrachtet man die Biografien der führenden Vertreter der Bush-Regierung, so ist deren außenpolitischer Kurs nicht verwunderlich. Es sind Ideologen konservativer Think Tanks, die noch vor wenigen Jahren als ultrarechte Exzentriker galten - wie Wolfowitz, Perle und andere führende Vertreter des Pentagon; religiöse Fundamentalisten - wie Justizminister Ashcroft; und Multimilliardäre aus der Ölindustrie und kriminellen Unternehmen wie Enron. Das ganze wird gekrönt von einem Mann, der bis vierzig Alkoholiker war und über keinerlei Bildung verfügt.

Die eigentliche Frage ist, warum diese ultrarechte Clique an die Spitze der amerikanischen Regierung gelangen und nicht nur der amerikanischen Bevölkerung, sondern der ganzen Welt ihren Willen aufzwingen kann.

Der britische Historiker Ian Kershaw schreibt in der Einleitung seiner Hitler-Biografie, ihn habe weniger der Charakter des deutschen Diktators interessiert, "als die Frage, wie Hitler möglich war". "Wenn eine befriedigende Antwort auf diese Frage nicht aus den gegebenen Charaktereigenschaften Hitlers hervorgeht, dann muss man sie vornehmlich in der deutschen Gesellschaft suchen - in den sozialen und politischen Motivationen, die Hitler möglich gemacht haben."

Auf dieselbe Weise muss man auch an das Phänomen Bush herangehen. Welche sozialen und politischen Motivationen haben diese Administration hervorgebracht?

Außerhalb einer schmalen Schicht von Superreichen und den Medien, die sich ebenfalls unter der Kontrolle milliardenschwerer Konzerne befinden, verfügt sie über keine nennenswerte gesellschaftliche Basis. Die Präsidentenwahl hat sie gestohlen. Bush erhielt weniger Stimmen als sein demokratischer Rivale Gore und wurde nur dank der Entscheidung eines rechtslastigen obersten Gerichtshofs Präsident. Trotzdem konnte er seither seine Agenda ungehindert durchsetzen, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen - in Form von ungeheuren Steuersenkungen für die Reichen und Angriffen auf die sozial Schwachen.

Erklären lässt sich dies nur aus dem völligen Zusammenbruch jeglichen Widerstands von Seiten der offiziellen Opposition. Die Demokratische Partei hat Bush einen Blankoscheck für den Irakkrieg ausgestellt. Sie widersetzt sich weder seiner Außenpolitik noch seinen Angriffen auf demokratische und soziale Rechte im Innern. Dieselbe Rolle spielt die amerikanische Presse. Selbst Zeitungen wie die New York Times, die einst stolz auf ihre liberale Tradition waren, haben die Propaganda und die Lügen der Regierung treu nachgebetet.

Ein solches Verhalten muss grundlegende objektive Ursachen haben. Die amerikanische Gesellschaft ist derart tief gespalten, dass jede Art von politischem und sozialem Kompromiss unmöglich geworden ist.

In Deutschland befürworteten Anfang der dreißiger Jahre alle bürgerlichen Parteien - die Deutschnationalen, die Liberalen, das katholische Zentrum und halbherzig auch die Sozialdemokratie - ein autoritäres Regime, weil unter den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise jeder soziale Kompromiss unmöglich geworden war. Die einzige Alternative wäre eine Reorganisation der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage gewesen. Aus ähnlichen Gründen hat sich nun fast das gesamte offizielle amerikanische Establishment hinter Bush gestellt. Jede noch so schüchterne Opposition könnte soziale Kräfte in Bewegung setzen, die weit über das Ziel hinausschießen, das die demokratische Partei zu tolerieren bereit ist.

Mit seiner Unterstützung für Bush reagiert das amerikanische Establishment auf eine tiefe Krise der amerikanischen Gesellschaft und des gesamten Weltkapitalismus, dessen Rückgrat die USA seit einem Jahrhundert bilden. Die inneren Spannungen der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft verlangen den ungehinderten Zugang zu allen Ressourcen der Welt. Die amerikanische Bourgeoisie kann nicht zulassen, dass eine souveräne Regierung irgendwo auf der Welt Entscheidungen trifft, die Rückwirkungen auf das eigene Land haben. Die globale Wirtschaft verträgt sich nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Ebenso wenig kann Amerika Rivalen neben sich dulden. Daher die wachsenden Spannungen mit Europa.

Der Kurs, den die amerikanische Regierung eingeschlagen hat, führt unweigerlich in die Katastrophe. Die räuberische Clique an der Spitze einer Nation, die gerade fünf Prozent der Menschheit umfasst, kann den restlichen 95 Prozent nicht auf Dauer ihre Bedingungen diktieren. Das brutale Vorgehen gegen den Irak gibt einen Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Selten zuvor wurde ein Krieg mit solch ungleichen Waffen ausgetragen. Primitiv bewaffnete irakische Wehrpflichtige und Zivilisten wurden mit amerikanischen High-Tech-Waffen regelrecht abgeschlachtet. In den USA selbst fallen demokratische Grundrechte reihenweise dem "Krieg gegen den Terror" zum Opfer, und die horrende soziale Ungleichheit wird noch weiter steigen, wenn die Kriegskosten auf die Bevölkerung abgewälzt werden.

Wie kann man dieser Gefahr entgegentreten?

Am gestrigen Samstag veröffentlichten das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die französische Zeitung Libération einen gemeinsamen Aufruf von Jürgen Habermas und dem französischen Philosophen Jacques Derrida, mit dem diese versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Sie appellieren an die europäische Öffentlichkeit, dem Hegemonialstreben der USA entgegenzutreten. "Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Wagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren," heißt es in dem Aufruf.

Begleitet und unterstützt wurde er durch mehrere Artikel bekannter Intellektueller, die in führenden europäischen Tageszeitungen erschienen. So veröffentlichte der Schriftsteller Umberto Eco einen Beitrag in La Repubblica, der Schriftsteller Adolf Muschg in der Neuen Zürcher Zeitung und der amerikanische Philosoph Richard Rorty in der Süddeutschen Zeitung.

Man muss diesen Intellektuellen zugute halten, dass sie den Finger auf den wunden Punkt legen. Während sich die offizielle Politik und die meisten Medien bemühen, den Irakkrieg vergessen zu machen und zur Tagesordnung überzugehen, als wäre nichts gewesen, nennen sie das Problem beim Namen.

Doch ihre Antwort besteht aus einer pathetischen Mischung aus frommen Wünschen und weltfremden Hoffnungen. Sie appellieren an die europäischen Regierungen, dem amerikanischen Hegemonialstreben entgegenzutreten und einer "multilateralen und rechtlich geregelten internationalen Ordnung" sowie einer "effektiven Weltinnenpolitik im Rahmen reformierter Vereinter Nationen" zum Durchbruch zu verhelfen. "Wenn es je einen Zeitpunkt geben sollte, an dem die öffentliche Meinung Politiker zwingen muss, idealistischer zu sein, als ihnen angenehm ist, dann ist jetzt dieser Zeitpunkt gekommen," schreiben sie.

Habermas und Derrida melden sich reichlich spät zu Wort. Wenn es aus den Ereignissen der letzten Wochen eine Lehre gibt, dann ist es die völlig Unfähigkeit der europäischen Regierungen im allgemeinen und der rot-grünen Koalition in Berlin im besonderen, der Bush-Regierung Paroli zu bieten. Spätestens mit der Zustimmung zur UN-Resolution, die die amerikanisch-britische Besatzung des Irak sanktioniert und damit den Krieg nachträglich legitimiert, ist jede offizielle Opposition in Berlin und Paris zusammengebrochen.

Die anfängliche Ablehnung des Kriegs durch die Regierung Schröder-Fischer war nicht nur ein Wahlkampfmanöver. Sie waren ernsthaft besorgt, dass das rücksichtslose Vorgehen der USA im Nahen Osten die Stabilität der Region gefährden und ihre eigenen Interessen untergaben könnte. Frankreich wiederum betrachtete die deutsche Haltung als Chance, sich an die Spitze eines internationalen Blocks gegen die USA zu stellen und so das eigene Gewicht auf der Weltbühne zu erhöhen. Doch die heftige Reaktion aus Washington kam für Berlin und Paris als Schock. Sie waren nicht darauf vorbereitet, dass die US-Regierung ihren Einfluss in Europa brutal einsetzen würde, um Europa zu spalten.

Gleichzeitig gingen in ganz Europa, ermutigt durch die ablehnende Haltung der deutschen und französischen Regierung, Millionen gegen den Krieg auf die Straße. Am 15. und 16. Februar fand die größte internationale Demonstration der Weltgeschichte satt.

Habermas und Derrida bezeichnen diese Demonstration als herausragendes Datum, das "rückblickend als Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen" könnte. Sie basieren ihre Hoffnung, ein europäisches Gegengewicht gegen die USA aufbauen zu können, auf diese Demonstration. Aber sie verschließen einfach die Augen davor, dass es einen tiefen Gegensatz zwischen dieser Bewegung und den europäischen Regierungen gibt.

Es gab auf den Demonstrationen sicherlich Illusionen über die Politik der deutschen und französischen Regierung, dennoch war es offensichtlich, dass sie tiefere soziale Wurzeln hatten und das Potential in sich bargen, zu einer Bewegung gegen die unsoziale Politik der europäischen Regierungen anzuwachsen.

Habermas und Derrida sind gegenüber dieser Frage völlig blind. Die scharfen sozialen Gegensätze in Europa (und in den USA) werden in ihrem Aufruf mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen betreiben sie eine groteske Verherrlichung der Europäischen Union. Europa, behaupten sie, habe "in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische Lösungen für zwei Probleme gefunden". Die EU biete sich als eine Form des "Regierens jenseits des Nationalstaates" an, dass Schule machen könne. Und die europäischen Wohlfahrtsregime seien ein Vorbild, hinter das "auch eine künftige Politik der Zähmung des Kapitalismus in entgrenzten Räumen nicht zurückfallen" dürfe.

In Wirklichkeit ist die EU - ein Zusammenschluss der europäischen Regierungen, dominiert von den Interessen der mächtigsten europäischen Konzerne - einer der Hauptmotoren beim Abbau der "europäischen Wohlfahrtsregime". Die Europäische Union - der Versuch, Europa von oben zu einen - ist in keiner Weise ein legitimer Ausdruck der Einheit der europäischen Völker. Selbst Habermas und Derrida müsste bekannt sein, dass die Maastricht-Kriterien eine strikte Konsolidierung der Haushalte auf Kosten sozialer Leistungen festschreiben. Die EU und die Brüsseler Bürokratie werden von der europäischen Bevölkerung immer mehr mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und sozialen Errungenschaften identifiziert.

Kapitulation vor Washington

Die Regierungen in Berlin und Paris haben ganz andere Schlussfolgerungen aus den Massendemonstrationen gegen den Krieg gezogen als Habermas und Derrida - und dies, obwohl der deutsche Außenminister Fischer ein erklärter Schüler von Habermas ist. Sie haben den Aufmarsch von Millionen - darunter unzähligen Jugendlichen - vor allem als Herausforderung ihrer eigenen sozialen und politischen Agenda empfunden und sind näher an die Bush-Regierung herangerückt.

Mit der Zustimmung zur UN-Resolution sind sie der Bewegung gegen den Krieg direkt in den Rücken gefallen. Man kann das Ausmaß und die Bedeutung dieser schamlosen Kapitulation nicht genug betonen. Sie hat nicht nur Bush und seine Regierung, sondern auch die Rechten in Europa gewaltig gestärkt. Bush kann nun international und gegenüber der amerikanischen Bevölkerung darauf verweisen, dass die Vereinten Nationen seinen Raubzug nachträglich legitimiert haben.

Sie hat "für ihre Interventionspolitik nachträglich bekommen, was sie vor dem Krieg vergebens anstrebte", kommentierte die Süddeutsche Zeitung : "den Segen der UN und damit zumindest den Schein von Legalität und Legitimität. Die Mächtigen in Washington werden mit dieser Resolution wedeln und ihren Kritikern sagen: Seht her, der Sicherheitsrat hat uns als Herrscher über den Irak bestätigt. Er hat damit implizit unseren Feldzug anerkannt und darüber hinaus unsere ganze Präventivschlags-Doktrin. Das alte Völkerrecht ist tot, es lebe das Recht des Imperium Americanum."

Das Nachgeben von Berlin und Paris stärkt jene Kräfte, die bereits den nächsten Krieg planen - gegen den Iran oder Syrien. Gleichzeitig deutet vieles darauf hin, dass sich Schröder und Fischer mit ihrer Kapitulation das eigene politische Grab gegraben haben. Der Vorstoß der SPD-Rechten, die auf ein Ende der rot-grünen Regierung und deren Ablösung durch eine große Koalition drängen, ist durch die Kapitulation in der Irakfrage mit Sicherheit ermutigt worden.

Die Umfragewerte für die SPD haben einen historischen Tiefstand erreicht. Schröder selbst kann die eigene Partei nur noch unter Kontrolle halten, indem er sie vor Ultimaten stellt und jeden Tag mit dem Rücktritt droht. Trotz einer Einschüchterungskampagne lehnt die Hälfte der Mitgliedschaft sein Kürzungsprogramm, die "Agenda 2010", nach wie vor ab. Hunderte treten jeden Tag aus der Partei aus. In dieser Krise stoßen die Rechten vor, um eine Regierung einzusetzen, die zwar über keinerlei demokratische Legitimation verfügt, aber deren Aufgabe es sein wird, noch weit drastischere Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, als sie in der "Agenda 2010" vorgesehen sind.

Der Aufbau einer neuen Arbeiterpartei

Wenn es aus diesen Ereignissen eine zentrale Lehre gibt, so lautet sie: Eine Opposition gegen amerikanischen Imperialismus kann nur im Konflikt mit den bestehenden Regierungen und Institutionen aufgebaut worden. Notwendig ist der Aufbau einer neuen, internationalen Arbeiterpartei, die den Kampf gegen Krieg mit der Verteidigung der sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse verbindet.

Die arbeitende Bevölkerung muss ihre eigene, unabhängige Antwort auf die Gefahr geben, die vom amerikanischen Imperialismus ausgeht. Sie muss jeden Kompromiss und jede Versöhnung mit dem amerikanischen Imperialismus ablehnen und darf sich nicht durch die Versöhnungsgesten einlullen lassen, die die europäische Bourgeoisie gegenüber Washington macht.

Die gesamte europäische Presse ist auf die Frage konzentriert, wie man das Verhältnis zu Washington wieder verbessern kann. Aber ein Konflikt mit dem US-Imperialismus ist unvermeidlich. Er stellt zur Zeit die weltweit größte Gefahr für den Frieden, die größte Bedrohung von sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit dar. Das Nachgeben der europäischen Bourgeoisie kann seinen Appetit nur verstärken. Die Frage ist nicht, wie man einen Konflikt mit der amerikanischen Imperialismus verhindern, sondern wie man sich am besten darauf vorbereiten kann.

Eine pazifistische Antwort - "gegen Krieg und Militarismus" - reicht dazu nicht aus. Sie bleibt rein passiv. Die Arbeiterklasse braucht aber eine aktive Politik: Für die Auflösung der Nato! Für ein Verteidigungsbündnis der europäischen Massen mit den Völkern des Nahen Ostens und Afrikas! Nötig ist nicht eine Anti-Kriegs-Bewegung, sondern eine Bewegung gegen den amerikanischen Imperialismus.

Eine solche Politik muss vom Interessengegensatz zwischen der europäischen und internationalen Arbeiterklasse auf der einen und dem amerikanischen und europäischen Imperialismus auf der anderen Seite ausgehen. Sie muss sich gegen die Bemühungen der europäischen Bourgeoisie richten, in Europa "amerikanische Verhältnisse" einführen - angefangen mit Schröders "Agenda 2010".

Der Gegensatz zur eigenen Bevölkerung treibt die europäische Bourgeoisie auf die Seite des amerikanischen Imperialismus. Als Frankreich 1940 den Krieg gegen Deutschland verlor, entschied sich die Mehrheit der herrschenden Klasse für Vichy-Frankreich, für die Rolle des Juniorpartners der siegreichen Großmacht. Nach dem Irakkrieg droht nun eine Art Vichy-Europa; ein Europa, dass dem amerikanischen Militarismus als Juniorpartner zur Seite steht.

Die inneren Verhältnisse eines solchen Europas wären nicht besser als jene Vichy-Frankreichs. Es würde beherrscht von den stärksten wirtschaftlichen und finanziellen Interessen und wäre geprägt durch Sozialabbau, Niedriglohnarbeit, Militarismus und die Unterdrückung demokratischer Rechte. Schon jetzt sammeln sich die rechtesten europäischen und vor allem osteuropäischen Regierungen, die über die schmalste soziale Basis verfügen, hinter der amerikanischen Flagge.

Unsere Antwort auf die Europäische Union der Banken und Konzerne sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa - die Vereinigung Europas von unten auf der Grundlage einer revolutionären, sozialistischen Politik der Arbeiterklasse.

Wir sind für die Einheit der europäischen und internationalen Arbeiterklasse. Wir sind für ein Europa der offenen Grenzen, für gleiche politische und soziale Rechte für alle Arbeiter, gleich welcher Sprache, welcher Hautfarbe oder welcher Nationalität. Unser Ziel ist es, im Kampf gegen den Imperialismus die Arbeiterklasse zu einen.

Diese Politik ist nicht antiamerikanisch, sie hätte im Gegenteil eine enorme Anziehungskraft auf die amerikanische Arbeiterklasse. Sie richtet sich nicht gegen Amerika, sondern gegen die herrschende Elite der USA. Sie würde schnell deutlich machen, dass der amerikanische Imperialismus weder übermächtig noch unbesiegbar ist, sondern dass seine scheinbare Stärke nur ein Ergebnis der Feigheit der europäischen Regierungen und der offiziellen Politik in den USA selbst ist.

Siehe auch:
Versammlung der WSWS und der PSG in Berlin: "Die Stärke der US-Regierung wird in Europa gewaltig überschätzt"
(3. Juni 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September/Oktober 2003 enthalten.)

 

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Versammlung der WSWS und der PSG in Berlin:

"Die Stärke der US-Regierung wird in Europa gewaltig überschätzt"

Von unserem Korrespondenten
4. Juni 2003

"Weder die europäischen Regierungen im Allgemeinen und schon gar nicht die rot-grüne Regierung hier in Berlin haben den Mut, die politische Phantasie oder die intellektuelle Tatkraft - von den sozialen Interessen ganz zu schweigen - die notwendig wären, um die amerikanische Regierung so zu behandeln, wie sie es verdient. Wir leben in einer Zeit, die durch die krassesten Formen von Feigheit und Rückständigkeit gekennzeichnet ist."

Mit diesen Worten begann David North seine engagierte Rede auf einer öffentlichen Versammlung der World Socialist Web Site und der Partei für Soziale Gleichheit am vergangenen Sonntag in Berlin. Vor Zuhörern, die aus mehreren Städten Ost- und Westdeutschlands angereist waren, erläuterte der Chefredakteur der WSWS seine Auffassung über die Lehren aus dem Irakkrieg. Vor ihm hatten bereits Peter Schwarz und Chris Marsden, beide Redaktionsmitglieder der WSWS, zur Einschätzung der europäischen Situation seit dem Krieg gesprochen.

Gerade in Deutschland sei über den Charakter der Bush-Regierung und den Irakkrieg viel und kontrovers diskutiert worden, betonte North. Als die ehemalige deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) im vergangenen Jahr einen Vergleich mit dem Naziregime auch nur andeutete, habe sie das Schicksal aller bürgerlicher Politiker ereilt, die in einem unbedachten Moment die Wahrheit sagen: "Sie wurde sofort gefeuert."

Vor allem die Wiedereinführung von Krieg als legitimes Mittel der Außenpolitik mache deutlich, welche Parallelen - trotz aller Unterschiede - zwischen der Bush-Administration und dem Naziregime beständen. "Schon damals - vor siebzig Jahren - standen im Mittelpunkt der deutschen Politik die vollständige Missachtung des Völkerrechts, schamlose Lügen und die ständige Entwicklung neuer, fingierter Vorwände, um immer neue Kriege anzuzetteln und zu begründen. Das klingt doch bekannt."

North wies darauf hin, dass die spezifischen Anklagepunkte, die in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gegen die Naziführer erhoben wurden auch gegen die Bush-Regierung erhoben werden könnten und müssten. "Denn im Mittelpunkt der Anklage in Nürnberg stand nicht, wie viele glauben, die Vernichtung von sechs Millionen Juden in den Konzentrationslagern - was ohne Zweifel eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte war - sondern die Planung und Vorbereitung eines Angriffkrieges. Und auf dieser Grundlage sind Bush, Cheney und Rumsfeld nicht weniger schuldig."

Die Feigheit der europäischen und speziell der deutschen Regierung - ihrer Weigerung diese Verbrechen beim Namen zu nennen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen - habe viele Gründe, erklärte North. Einer davon sei eine groteske Überschätzung der Macht und Stärke der Bush-Regierung.

"Regelmäßig kann man in den deutschen Zeitungen Kommentare und Analysen lesen, die von einer ‚beispiellosen Stärke’ der US-Regierung sprechen. Ich frage mich manchmal: In welcher Welt leben die Leute, die so etwas schreiben? In Wahrheit ist die gegenwärtige Regierung in Washington die politisch schwächste und bankrotteste Regierung, die jemals in den Vereinigten Staaten an der Macht war. Es ist eine Regierung die völlig orientierungslos von einer Krise in die nächste torkelt, eine Regierung, die von Leuten geführt wird, die keinerlei ernsthaftes Verständnis der Weltsituation haben, sich hauptsächlich auf Selbsttäuschung und Illusionen stützen und ständig an die rückständigsten und verwirrtesten Teile der Bevölkerung appellieren."

North nannte einige Zahlen, um das Ausmaß der ökonomischen und sozialen Krise und die dramatischen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verdeutlichen. Seit März 2001 seien in den USA 2,2 Millionen Arbeitsplätze vernichtet worden. Damit sei die Zahl der Arbeitslosen auf 9,2 Millionen gestiegen, zu denen allerdings noch 5 Millionen Teilzeitbeschäftigte hinzugezählt werden müssten, deren Einkommen nicht ausreiche, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Selbst nach der offiziellen Statistik, die immer dazu tendiere, die Lage zu beschönigen, seien damit gegenwärtig 14 Millionen Menschen ohne ausreichende Arbeit.

Auch habe sich der Charakter der Arbeitslosigkeit stark verändert. Der Anteil der "strukturellen Arbeitslosigkeit - gemeint ist der Teil der Arbeitslosigkeit, der durch die Vernichtung der Arbeitsplätze und nicht nur durch Konjunkturschwankungen hervorgerufen wird - ist auf 75 Prozent gestiegen." Immer mehr Arbeitslose seien Hochschulabsolventen. So habe beispielsweise unter Computerspezialisten und Mathematikern die Arbeitslosenrate deutlich zugenommen - von 0,7 Prozent 1998 auf 6 Prozent im vergangenen Jahr.

"Es ist eine alltägliche Erfahrung vieler Menschen geworden, die früher 200 oder sogar 250 Tausend Dollar im Jahr verdienten, sich heute mit einem Billiglohnjob mit 6 oder 7 Dollar in der Stunde begnügen zu müssen", berichtete North. "Auf der anderen Seite ist diese Regierung regelrecht besessen davon, die Reichen noch reicher zu machen." Diese Politik habe die Regierungen der Bundesstaaten regelrecht in den Ruin getrieben. Von den 50 amerikanischen Staaten seien bereits 37 finanziell bankrott.

"Wenn später einmal Historiker über die Zeit der Bush-Regierung schreiben werden, dann werden sie berichten, dass sich die Situation offensichtlich auf eine Revolution hin bewegte. ‚Man sah es kommen’, werden sie schreiben. ‚Unter dem Glitzer und Glimmer der Militäroperation entwickelte sich eine rapide Desintegration der ganzen Gesellschaft’."

Ausgehend von dieser Einschätzung betonte David North, dass eine revolutionäre Orientierung in Europa unbedingt von den tiefen sozialen Gegensätze in der amerikanischen Gesellschaft ausgehen müsse. Die Tatsache, dass keine europäische Regierung die Verhältnisse in den USA beim Namen nenne und gegen die Bushregierung auftrete, sei bezeichnend. Die Aufgabe Europa zu vereinen und gegen die weltweite Kriegspolitik der amerikanischen Regierung zu kämpfen, falle unter diesen Bedingungen der europäischen Arbeiterklasse zu.

Chris Marsden, WSWS-Redakteur und Vorsitzender der Socialist Equality Party in Großbritannien, berichtete über die Rolle der Blair-Regierung, die durch die Massenproteste gegen den Krieg stark erschüttert worden war. Keine andere Regierung habe sich derart vehement gegen die Interessen, Hoffnungen und Ziele der eigenen Bevölkerung gestellt. Seine reaktionäre und feige Kriegspolitik an der Seite von Bush habe in der Bevölkerung Abscheu und Wut hervorgerufen.

Marsden berichtete, dass bei einer Umfrage des Fernsehsenders channel four Tony Blair auf Platz eins einer Liste der hundert meist gehassten britischen Politiker gewählt worden sei, und dass er damit sein Idol Margaret Thatcher auf Platz drei verdrängt habe.

Unter breiten Schichten von Arbeitern bestehe großes Interesse, mit Tony Blair politisch abzurechnen. Dies erfordere aber ein politisches Programm, das im einzelnen durchdacht sein müsse. Marsden fasste drei zentrale Grundlagen einer solchen politischen Offensive gegen die britische Regierung zusammen:

"Erstens muss ein solches Programm sich auf die breite Opposition gegen die Wiederentstehung des imperialistischen Militarismus stützen, die in den gewaltigen Antikriegsdemonstrationen sichtbar wurde.

Zweitens muss es eine prinzipielle Verteidigung aller sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse beinhalten. Alle Versuche, die darauf abzielen, mit der selben Rücksichtslosigkeit, mit der Washington und London den Irak zertrümmert haben, nun eine unbeschränkte Herrschaft des großen Geldes im eigenen Land zu errichten, müssen zurückgeschlagen werden.

Drittens muss dieses Programm darauf ausgerichtet sein, die Arbeiterklasse in ganz Europa unabhängig von der europäischen Elite zu mobilisieren - unabhängig auch von den Regierungen in Frankreich und Deutschland, die als scheinbare Alternative zu den Kriegstreibern Bush und Blair aufgetreten sind."

Marsden erläuterte, wie sich unter dem Druck der amerikanischen Regierung das ganze Projekt der europäischen Einigung verändere und immer deutlicher auseinander breche. Während frühere US-Regierungen - einschließlich der Clinton-Regierung - den europäischen Einigungsprozess unterstützten, arbeite die Bush-Administration dagegen und habe in den vergangenen Monaten wirkungsvolle Schritte unternommen, um Europa zu spalten.

Die enge Bindung von Großbritannien an die USA spiele dabei eine Schlüsselrolle, aber auch die neu errichtete Zusammenarbeit mit Polen und anderen osteuropäischen Ländern sei in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Die feige Kapitulation von Deutschland und Frankreich durch ihre Zustimmung zur angloamerikanischen UN-Resolution habe deutlich gemacht, dass die herrschende Elite in Europa der amerikanischen Politik nichts Ernsthaftes entgegen zu setzen habe.

"Es ist die europäische Arbeiterklasse, die sich an die Spitze aller Fronten im Kampf gegen die imperialistische Reaktion stellen muss, und zwar nicht nur in Washington, sondern ebenso in London, Paris und Berlin," betonte Marsden und fügte hinzu: "Gegen den Albtraum eines amerikanischen Jahrhunderts im Stile der US-Brutalität im Irak und angesichts der gescheiterten europäischen Einigung auf der Grundlage der EU, muss sich die Arbeiterklasse die Forderung der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zueigen machen."

Auf dieser Grundlage würden die europäischen Arbeiter nicht nur Millionen Menschen überall auf der Welt eine Perspektive geben, sondern auch den amerikanischen Arbeitern die Hand zu einem gemeinsamen Kampf gegen die Bush-Regierung reichen, die mit ihrem Militarismus und Kolonialismus die ganze Welt bedrohe.

Siehe auch:
Lehren aus dem Irakkrieg - der Beitrag von Peter Schwarz
(3. Juni 2003)

 

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Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Von David North
10. Oktober 2002
aus dem Englischen (4. Oktober 2002)

Den folgenden Vortrag hielt David North, Chefredakteur der World Socialist Web Site, am 1. Oktober 2002 auf einer gut besuchten Veranstaltung an der University of Michigan in Ann Arbor.

Am 17. September 2002 veröffentlichte die Bush-Regierung ihre "Nationale Sicherheitsstrategie für die Vereinigten Staaten von Amerika". Dieses wichtige Papier ist in den etablierten Medien bisher nicht gründlich analysiert worden. Das ist höchst bedauerlich, denn es beinhaltet die politische und theoretische Rechtfertigung für eine kolossale Steigerung des amerikanischen Militarismus. Zur Leitlinie für die Politik der USA erhebt es das Recht, zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt militärische Gewalt anzuwenden, und zwar gegen jedes Land, das in ihren Augen eine Bedrohung amerikanischer Interessen darstellt oder irgendwann dazu werden könnte. Kein anderes Land, nicht einmal Nazideutschland auf dem Höhepunkt von Hitlers Wahn, hat in der modernen Geschichte einen derart uneingeschränkten Anspruch auf die globale Hegemonie - direkter ausgedrückt: die Weltherrschaft - erhoben, wie jetzt die Vereinigten Staaten.

Lässt man die zynischen Euphemismen und bewussten Verschleierungen beiseite, ist die Botschaft des Papiers unverkennbar: Die Regierung der Vereinigten Staaten beansprucht das Recht, jedes Land ihrer Wahl zu bombardieren, zu überfallen und zu zerstören. Sie weigert sich, im Rahmen des internationalen Rechts die Souveränität anderer Länder anzuerkennen, und behält sich das Recht vor, überall auf der Welt jede Regierung zu beseitigen, die ihrem Eindruck nach dem, was die Vereinigten Staaten als ihre vitalen Interessen erachten, im Wege steht oder dies irgendwann tun könnte. Kurzfristig richten sich ihre Drohungen gegen sogenannte "gescheiterte Staaten" - also ehemalige Kolonien und verarmte Länder in der Dritten Welt, die vom Imperialismus ausgeplündert worden sind. Doch auch die größeren Konkurrenten der Vereinigten Staaten, die das Papier im imperialistischen Jargon aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg als "Großmächte" bezeichnet, befinden sich durchaus in Schussweite der Regierung Bush. Die Kriege gegen kleine und wehrlose Staaten, die die Vereinigten Staaten heute vorbereiten - in erster Linie gegen den Irak - werden sich noch als die Vorbereitung von militärischen Angriffen auf eindrucksvollere Ziele erweisen.

Eingangs prahlt das Papier: "Stärke und Einfluss der USA in der Welt sind heute größer als je zuvor - und unübertroffen." Mit atemberaubender Arroganz wird erklärt: "Die Nationale Sicherheitsstrategie basiert auf einem typisch amerikanischen Internationalismus, der die Einheit unserer Werte und unserer nationalen Interessen zum Ausdruck bringt." Diese Formel ist so prägnant, dass man sie sich einprägen sollte: Amerikanische Werte + amerikanische Interessen = typisch amerikanischer Internationalismus. Eine ganz besondere Art von Internationalismus: Was gut ist für Amerika, ist auch gut für die Welt! Entsprechend bezeichnet Präsident Bush in seiner Einleitung die amerikanischen Werte als "richtig und gültig für jeden Menschen, in jeder Gesellschaft".

Diese Werte sind nichts weiter als eine Ansammlung der banalen Weisheiten der amerikanischen Plutokratie, beispielsweise "Achtung vor dem Privateigentum"; "wachstumsfördernde Gesetze und Rahmenbedingungen zur Förderung von Investitionen, Innovationen und unternehmerischer Tätigkeit"; "eine Steuerpolitik - insbesondere niedrigere Steuerhöchstsätze -, die Anreize für die Schaffung von Arbeit und für Investitionen bietet"; "eine starke Finanzwirtschaft, in der Kapital möglichst effizient eingesetzt werden kann"; "eine solide Fiskalpolitik, die unternehmerische Aktivitäten fördert". Als Nächstes erklärt das Papier: "Die Lehren der Geschichte sind klar: Marktwirtschaftliche Systeme, und nicht Kommandosysteme unter strikter Regierungskontrolle, sind das beste Mittel, um Wohlstand zu fördern und Armut abzubauen. Politische Maßnahmen, mit denen die Anreizwirkung und die Institutionen des Marktes gestärkt werden, sind für alle Volkswirtschaften relevant - in Industrieländern, Schwellenländern und Entwicklungsländern."

Während diese Plattheiten der politischen Rechten verkündet werden, gerät die Weltwirtschaft in eine immer tiefere Krise. Ganze Kontinente leiden unter den Auswirkungen einer marktorientierten Wirtschaftspolitik, die ihre soziale Infrastruktur restlos zerstört und Milliarden Menschen in Lebensumstände gebracht hat, die man mit Worten kaum noch beschreiben kann. Zehn Jahre nach der Demontage der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus liegt die Sterberate in Russland über der Geburtenrate. Südamerika, das der Internationale Währungsfonds bedenkenlos für seine gesellschaftsschädigenden Experimente benutzt hat, befindet sich im Zustand der wirtschaftlichen Auflösung. In Südafrika ist ein erheblicher Prozentsatz der Bevölkerung mit dem HIV-Virus infiziert. Die Weltbank berichtet:

"Die AIDS-Krise hat verheerende Auswirkungen auf die Entwicklungsländer, insbesondere in Afrika. Die Gesundheitssysteme - geschwächt durch die Auswirkungen von AIDS, durch Konflikte und schlechtes Management - bekommen die traditionellen Krankheiten nicht mehr in den Griff. Immer noch sterben Millionen an Malaria und Tuberkulose - allein die Malaria vermindert das jährliche Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den Ländern südlich der Sahara um etwa 0,5 Prozent. Die Lebenserwartung ist in dieser Region von 50 Jahren im Jahr 1987 auf 47 Jahre im Jahr 1999 gefallen; in den Ländern, die am stärksten von AIDS betroffen sind (z. B. Botswana, Simbabwe, Südafrika und Lesotho), hat sich die durchschnittliche Lebensdauer um mehr als zehn Jahre verkürzt." (1)

Diese katastrophalen Verhältnisse sind ein Ergebnis des kapitalistischen Systems und der Herrschaft des Marktes. Das Strategiepapier vermerkt im Vorübergehen, dass "die Hälfte der Menschheit von weniger als 2 Dollar pro Tag lebt", doch erwartungsgemäß schlägt die Bush-Regierung als Heilmittel die verstärkte Anwendung derselben Wirtschaftspolitik vor, die erst zu dem Elend in der Welt geführt hat.

Zur näheren Definition des "typisch amerikanischen Internationalismus" führt das Papier aus: "Die Vereinigten Staaten werden sich zwar ständig um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bemühen, doch wir werden auch Alleingänge nicht scheuen." In einem weiteren Absatz warnt das Papier, die USA würden "alles Notwendige unternehmen, um zu gewährleisten, dass unsere Bemühungen um die Erfüllung unserer globalen Sicherheitsaufgaben und um den Schutz von Amerikanern nicht beeinträchtigt werden durch mögliche Ermittlungen, Verhöre oder Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), dessen Rechtsprechung für Amerikaner keine Gültigkeit besitzt und den wir nicht akzeptieren". Mit anderen Worten, das Führungspersonal der Vereinigten Staaten will sich nicht durch die Gepflogenheiten des internationalen Rechts einschränken lassen.

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse

In einer Studie über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse schreibt Telford Taylor, Mitglied der amerikanischen Anklagebehörde, die von dem Hauptankläger Robert H. Jackson geleitet wurde: "Die Gesetze des Krieges gelten nicht nur für Angehörige untergegangener Nationen, die der Verbrechen verdächtigt werden. Es gibt keine moralische oder juristische Grundlage dafür, die Nationen selbst von einer genauen Überprüfung auszunehmen. Die Gesetze des Krieges gelten nicht nur für eine Seite." (2) Die Weigerung der Vereinigten Staaten, die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs anzuerkennen, ist von enormer weltpolitischer Bedeutung, denn sie zeigt, dass sich die Führung Amerikas des kriminellen Charakters ihrer Politik durchaus bewusst ist und auch weiß, dass sie dafür nach internationalem Recht schwer büßen müsste.

Wie Telford Taylor betont, basierte die strafrechtliche Verfolgung der Nazi-Führer in Nürnberg auf der neuen juristischen Konzeption, dass die Planung eines Angriffskriegs ein Verbrechen darstellt. Dieser Vorwurf war erstrangig selbst gegenüber denjenigen Anklagepunkten, die sich auf die Gräueltaten der Nazis gegen Juden, gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Ländern und gegen Kriegsgefangene bezogen. In einem Memorandum zur Begründung, weshalb die Nazi-Führer für die Planung eines Angriffskriegs verurteilt werden sollten, schrieb Taylor:

"Nur ganz unverbesserliche Paragraphenreiter können sich über die Schlussfolgerung ereifern, dass ein Betreiber aggressiver Kriegshandlungen das Risiko eingeht, für seine Planungen bestraft zu werden, selbst wenn bisher kein Tribunal zu dem Schluss gelangt ist, dass die Vorbereitung eines Angriffskriegs ein Verbrechen darstellt." (3)

Taylor fuhr fort:

"Es ist wichtig, dass der Prozess nicht zu einer Untersuchung über die Gründe des Krieges wird. Man kann nicht nachweisen, dass der Hitlerismus die einzige Ursache für den Krieg war, und man sollte es nicht versuchen. Auch sollte meiner Meinung nach keine Zeit oder Mühe darauf verwendet werden, den zahlreichen betroffenen Nationen und Individuen jeweils ihren Teil der Verantwortung für den Kriegsausbruch zuzuweisen. Die Frage der Ursache ist wichtig und wird noch viele Jahre Gegenstand von Diskussionen sein, doch sie gehört nicht in diesen Prozess, der sich rigoros nach der Doktrin richten muss, dass die Planung und Durchführung eines Angriffskriegs illegal ist, ganz unabhängig davon, welche Faktoren die Angeklagten dazu veranlasst haben. Die Gründe, die dazu beigetragen haben, können die Angeklagten vor der Geschichte, nicht aber vor dem Tribunal geltend machen." (4)

Diese Frage ist heute von überragender Bedeutung - nicht nur hinsichtlich der gegenwärtigen, weit fortgeschrittenen Vorbereitungen auf einen grundlosen amerikanischen Krieg gegen den Irak. Wenn der in Nürnberg geschaffene Präzedenzfall für heute irgendeine Bedeutung hat, dann muss man sagen, dass sich die gesamte Linie des Strategiepapiers außerhalb des internationalen Rechts bewegt. Die wesentliche Aussage dieses Papiers über die Grundlagen der amerikanischen Strategie lautet, dass die Vereinigten Staaten zu einseitigen Militäraktionen gegen andere Länder berechtigt sind, ohne glaubwürdig belegen zu müssen, dass sie auf eine eindeutige und nachweisbare Angriffsdrohung reagieren. Dieser Anspruch auf die uneingeschränkte Vollmacht, nach freiem Ermessen Gewalt anzuwenden, wird mit oberflächlichen Begründungen versehen, die nicht einmal einer flüchtigen Analyse standhalten: "Wir müssen bereit sein, Schurkenstaaten und ihre terroristischen Handlanger aufzuhalten, bevor sie die Fähigkeit besitzen, die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten und Freunde mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen oder anzugreifen."

Wer definiert, was ein "Schurkenstaat" ist? Ist es jeder Staat, der direkt oder indirekt amerikanische Interessen herausfordert? Die Liste aller Länder, die in den Augen der Bush-Regierung "Schurkenstaaten" darstellen, von "potenziellen Schurkenstaaten" ganz abgesehen, ist sehr lang. Kuba steht mit Sicherheit darauf. Nach der Wiederwahl Gerhard Schröders zum Kanzler könnte auch Deutschland darauf stehen!

Auch eine genaue Definition des Begriffs "Terrorist" wäre angezeigt. Er ist bekanntlich sehr verwaschen und kann je nach politischem Bedarf umgedeutet werden. Und wie soll bewiesen werden, ob zwischen einem sogenannten "Schurkenstaat" und einem "terroristischen Handlanger" eine Verbindung besteht, bevor die USA ersteren angreifen? Erst vor wenigen Tagen haben der Präsident, seine Nationale Sicherheitsberaterin und der Außenminister von einer Verbindung zwischen Irak und al-Qaida gesprochen, ohne irgendwelche faktischen Beweise für diese Behauptung vorzulegen, die im Widerspruch zu der wohlbekannten Gegnerschaft des säkularen irakischen Regimes zu islamisch-fundamentalistischen Organisationen steht.

Und schließlich kann der Anspruch auf das Recht, militärisch gegen "Schurkenstaaten und ihre terroristischen Handlanger" vorzugehen, noch bevor diese mit Massenvernichtungswaffen drohen oder sie anwenden können, nur bedeuten, dass die USA sich das Recht vorbehalten, jeden Staat anzugreifen, den sie als potenzielle Bedrohung auffassen. Ein Staat, der momentan keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt und erst recht keinen Angriff auf sie vorbereitet, kann also trotzdem ein legitimes Angriffsziel darstellen, wenn er in den Augen der US-Regierung eine potenzielle oder aufkeimende Gefahr für die nationale Sicherheit Amerikas bildet.

Eine Definition von "Bedrohung", die kein offenes Vorgehen gegen die USA voraussetzt, sondern lediglich das Potenzial, irgendwann in der Zukunft zu einer Gefahr zu werden, würde praktisch jedes Land der Welt zu einem möglichen Angriffsziel Amerikas machen. Das ist keine Übertreibung. Das Papier spricht nicht nur von "Feinden", sondern auch von "potenziellen Gegnern", und warnt sie vor jeder "militärischen Aufrüstung in der Hoffnung, die Stärke der USA zu übertreffen oder zu erreichen". Es richtet eine direkte Warnung an China, es solle nicht versuchen, "fortgeschrittene militärische Kapazitäten" aufzubauen, denn sonst "beschreitet China einen veralteten Weg, der letztlich sein Streben nach nationaler Größe behindern wird" - das heißt, es würde zu einer Bedrohung, die einen militärischen Präventivschlag der USA erfordern könnte.

Während das Papier China vorhält, "fortgeschrittene militärische Kapazitäten" seien ein "veralteter Weg", verkündet es nur zwei Seiten weiter ungeniert: "Es ist an der Zeit, die entscheidende Bedeutung der militärischen Stärke Amerikas zu bekräftigen. Wir müssen unsere Verteidigungskapazitäten so weit ausbauen und pflegen, dass sie unangreifbar sind." Dieses Vorhaben wiederum setzt eine enorme Ausdehnung der amerikanischen Militärpräsenz auf der ganzen Welt voraus. "Um die Unsicherheit zu bekämpfen und den zahlreichen Sicherheitsaufgaben gerecht zu werden, die sich uns stellen, brauchen die USA Stützpunkte und Stationen in Westeuropa und Nordostasien und darüber hinaus sowie befristete Zugangsvereinbarungen für den Einsatz amerikanischer Truppen in weit entfernten Gebieten."

Das Papier stellt wiederholt fest, dass die neue Doktrin der Präventivschläge gegen bestehende und/oder potenzielle Gefahren sowie der Abschied von der früheren Abschreckungsdoktrin eine notwendige Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September 2001 sei, mit denen sich die USA unvermittelt einer neuen, nie dagewesenen und bislang unvorstellbaren Bedrohung ausgesetzt sahen. "Die Bedrohung des Kalten Krieges", heißt es in dem Bericht, "war so beschaffen, dass die USA... in erster Linie den Feind von Gewaltanwendung abschrecken mussten, so dass es zu einer furchterregenden Strategie der sicheren gegenseitigen Vernichtung kam. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges hat sich unsere Sicherheitslage von Grund auf geändert." Etwas später bezeichnet das Papier die Sowjetunion als "einen insgesamt auf den Erhalt des Status quo orientierten, risikoscheuen Gegner. Abschreckung war eine wirkungsvolle Verteidigung".

Für diejenigen unter uns, in deren Augen die achtziger Jahre zu der eher jüngeren Geschichte gehören, die sich noch an die sechziger Jahre erinnern und zufällig sogar das eine oder andere über die Geschichte der fünfziger Jahre wissen, sind diese Worte bemerkenswert. Wer die Geschichte des Kalten Kriegs nicht kennt, dürfte kaum auf die Idee kommen, dass die Autoren dieses Strategiepapiers - die jetzt die UdSSR in fast nostalgischen Begriffen als einen "auf den Erhalt des Status quo orientierten, risikoscheuen Gegner" beschreiben, noch in den achtziger Jahren die Sowjetunion als "Hort des Bösen" bezeichneten, gegen den sich die USA auf den totalen Krieg vorbereiten mussten. Der heutige Verteidigungsminister, Donald Rumsfeld, stand in enger Verbindung zu dem rechtsgerichteten "Committee for the Present Danger" ("Komitee zur Abwendung der aktuellen Gefahr"), das in den siebziger Jahren gegründet worden war und jedem Rüstungskontrollabkommen mit der Sowjetunion erbittert widersprach. Diese Organisation forderte eine massive militärische Aufrüstung gegen die UdSSR und vertrat den Standpunkt, dass die USA einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion führen und gewinnen könnten. Die Pläne der Reagan-Regierung, ein Raketenabwehrsystem im Weltraum zu errichten - der "Krieg der Sterne" - entsprachen den Forderungen des äußersten rechten Flügels der Republikanischen Partei, dessen Mitglieder, insbesondere Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz, heute zu den wichtigsten politischen Lenkern der Bush-Regierung gehören. Sie verlangten damals die Entwicklung einer Technologie, die es den Vereinigten Staaten ermöglichen würde, den Einsatz von Atomwaffen gegen die UdSSR ernsthaft in Erwägung zu ziehen.

Dies bringt uns zu den Geschichtsfälschungen und politischen Verdrehungen, die der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bush-Regierung zugrunde liegen: der Behauptung, dass die in diesem Papier ausgeführte Politik im Wesentlichen eine Reaktion auf die Ereignisse des 11. September sei und den unausweichlichen militärischen Verpflichtungen entspreche, die den USA aufgrund der Bedrohung durch al-Qaida und andere Terrororganisationen auferlegt worden seien. Der Plan zur Erlangung der Weltherrschaft, der in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bush-Regierung dargelegt wird, ist keine durch die außerordentlichen Ereignisse des 11. September ausgelöste Reaktion. Er ist über mehr als zehn Jahre hinweg ausgearbeitet worden.

Auflösung der UdSSR

Die Ursprünge der Nationalen Sicherheitsstrategie, die vor zwei Wochen enthüllt wurde, gehen auf die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 zurück. Diese hatte sehr weit reichende Auswirkungen auf die USA. Nahezu 75 Jahre lang war das Schicksal des amerikanischen Imperialismus unauflöslich mit dem der Sowjetunion verknüpft gewesen. Die Oktoberrevolution, mit der die bolschewistische Partei an die Macht kam, folgte nur wenige Monate auf den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg. Seit den ersten Tagen ihres Aufstiegs zur wichtigsten imperialistischen Macht standen die USA einem Arbeiterstaat gegenüber, der den Anbruch einer neuen Geschichtsepoche, der Epoche der sozialistischen Weltrevolution, verkörperte. Obwohl die stalinistische Bürokratie später die revolutionären internationalistischen Ideale verriet, die ursprünglich von Lenin und Trotzki vertreten worden waren, setzten sich die politischen Nachwirkungen des Sturzes des Kapitalismus in Russland noch über Jahrzehnte hinweg fort - in der Zunahme des sozialen Bewusstseins und der politischen Militanz der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, einschließlich der USA, und in der Welle anti-imperialistischer und anti-kolonialer Kämpfe auf der ganzen Welt, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die USA gingen zwar als führende Macht des Weltkapitalismus aus dem Zweiten Weltkrieg hervor, konnten die Welt aber trotzdem nicht nach eigenem Gutdünken einrichten. Ihre ursprüngliche Hoffnung, dass der Besitz der Atombombe die USA in die Lage versetzen würde, die Sowjetunion einzuschüchtern und im Notfall zu zerstören, zerschlug sich, als die sowjetische Seite 1949 ihrerseits eine solche Waffe entwickelte. Der Sieg der chinesischen Revolution im selben Jahr versetzte der Aussicht Amerikas auf die uneingeschränkte Herrschaft über Asien einen vernichtenden Schlag.

Die Anfangsjahre des Kalten Krieges waren geprägt von einer erbitterten Auseinandersetzung innerhalb der herrschenden Kreise der US-Regierung über ihr Verhalten gegenüber der Sowjetunion. Die wütende Kommunistenhatz und die politische Verfolgung der späten 1940-er und frühen 1950-er Jahre bildeten den Hintergrund, vor dem diese Debatte stattfand. Eine bedeutende Fraktion der herrschenden Elite trat für die "Rollback-Strategie" ein - d. h. für die Zerstörung der Sowjetunion und des maoistischen Regimes in China, selbst wenn dies den Einsatz von Nuklearwaffen erforderte. Eine andere Fraktion, die sich um George F. Kennan scharte, einen Theoretiker im Außenministerium, trat für die Strategie des "Containment" ("Eindämmung") ein.

Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen diesen Fraktionen während des Koreakriegs, als die Truman-Regierung kurz davor stand, den Einsatz von Atomwaffen gegen die chinesische Armee freizugeben. Auf einer Pressekonferenz am 30. November 1950 wurde Truman gefragt, wie er auf den Eintritt Chinas in den Koreakrieg reagieren wolle. Der Präsident antwortete: "Wir werden, wie bisher auch, alle Schritte unternehmen, die angesichts der militärischen Lage erforderlich sind." Auf die ausdrückliche Frage hin, ob dies den Einsatz der Atombombe einschließe, antwortete Truman: "Dies schließt alle Waffen ein, die uns zur Verfügung stehen." Als die erschütterten Reporter darauf drängten, dass er diese Aussage präzisiere, wiederholte Truman, dass der Einsatz der Atombombe in Erwägung gezogen werde. (5)

Der folgende Aufschrei der Weltöffentlichkeit zwang die US-Regierung, Trumans Aussage zurückzuziehen. Am Ende lehnte die Truman-Regierung die Forderung von General MacArthur ab, 30 bis 50 Atombomben auf die Grenze zwischen der Mandschurei und Korea zu werfen, um "einen Gürtel aus radioaktivem Kobalt" vom Japanischen zum Gelben Meer zu ziehen. Dieser Vorschlag entsprang nicht dem Gehirn eines wahnsinnigen Generals. Solche und ähnliche Ideen wurden ernsthaft erwogen und befürwortet. Auch der Kongressabgeordnete Albert Gore senior, der Vater des späteren Vizepräsidenten, trat öffentlich für den Einsatz von Atomwaffen ein. Zwei Faktoren führten schließlich zu der Entscheidung, im Koreakrieg keine Atombomben einzusetzen. Erstens bezweifelte man deren Effektivität in der gegebenen militärischen Situation. Der zweite, gewichtigere Faktor bestand in der Befürchtung, dass die Bombardierung Koreas eine politische Kettenreaktion auslösen könnte, die zu einem nuklearen Schlagabtausch zwischen den USA und der Sowjetunion führen würde. Während der verbleibenden Jahrzehnte des Kalten Krieges bestand die "Abschreckung" eigentlich nicht darin, dass die USA die Sowjetunion an gewissen Dingen hinderte, sondern darin, dass die Möglichkeit eines sowjetischen Gegenschlags die USA an gewissen Dingen hinderte.

Dies ist nicht der Ort für eine ausführliche Darstellung der nuklearen Strategie der USA während des Kalten Krieges. Noch weniger kann der ganze Kalte Krieg diskutiert werden. Doch um die Ereignisse der letzten zehn Jahre und das gegenwärtige Verhalten der US-Regierung zu verstehen, muss man betonen, dass weite Teile der amerikanischen herrschenden Klasse die Schranken verabscheuten, die der amerikanischen Militärgewalt durch die Existenz der Sowjetunion gesetzt waren. Während dieser gesamten Periode gab es eine starke Fraktion innerhalb des "militärisch-industriellen Komplexes" (Präsident Eisenhower), die ständig auf eine Konfrontation mit der Sowjetunion drängte. Wie ich bereits sagte, machten sich viele Personen, die heute einflussreiche Posten in der Bush-Regierung innehaben, in den siebziger und achtziger Jahren für eine massive Militäraufrüstung gegen die Sowjetunion stark und vertraten sogar den Standpunkt, dass ein Atomschlag gegen die UdSSR durchaus in Betracht käme.

Die zunehmende Aggressivität der amerikanischen Außenpolitik wurde nicht nur von der Republikanischen Partei vorangetrieben. Die Regierung unter dem Demokraten Jimmy Carter verfiel auf die Idee, in Afghanistan den islamischen Fundamentalismus anzuheizen, um die zentralasiatischen Sowjetrepubliken zu destabilisieren. Wie Carters Nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski vor einigen Jahren zugab, befanden sich die amerikanischen Operationen in Afghanistan bereits in vollem Gange, als sich die Sowjetunion zur militärischen Intervention in diesem Land entschloss.

Und noch etwas muss über die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen während des Kalten Krieges gesagt werden. Meiner Ansicht nach kann man gut begründet und überzeugend darlegen, dass die Stärke der amerikanischen Aggressivität mit dem allgemeinen Zustand der kapitalistischen Weltwirtschaft zusammenhängt. Auf dem Höhepunkt der Expansion des internationalen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die erbitterten Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischen herrschenden Elite für gewöhnlich auf der Grundlage der Argumente beigelegt, die für einen Kompromiss mit der Sowjetunion sprachen. In dem Maße, wie die weltweite wirtschaftliche Expansion dem amerikanischen Kapitalismus ermöglichte, im geopolitischen Rahmen der sogenannten Ost-West-Teilung Profite zu machen, traf die amerikanische herrschende Elite die strategische Entscheidung, eine nukleare Konfrontation mit der UdSSR zu vermeiden oder zumindest hinauszuzögern. Offene militärische Konflikte wurden auf Randgebiete beschränkt.

Als der Weltkapitalismus in den siebziger Jahren jedoch in eine lange Stagnations- und Abschwungsperiode eintrat -, bedingt durch tiefe strukturelle und systembedingte Probleme, deren fortgeschrittenes Symptom die heutige Depression ist - setzten sich weitaus aggressivere Tendenzen durch und fanden ein freundliches Echo innerhalb der herrschenden Kreise. Ergänzend könnte man hinzufügen, dass die beiden großen Ölschocks der 1970-er Jahre - der erste wurde 1973 durch den Boykott des Ölverkaufs von Seiten der arabischen Staaten ausgelöst, der zweite 1979 durch die iranische Revolution - die amerikanische herrschende Klasse in ihrer Entschlossenheit bestärkten, jede künftige Unterbrechung ihres Zugangs zu Öl, Gas und anderen wichtigen strategischen Rohstoffen zu verhindern.

Die massive militärische Aufrüstung der 1980-er Jahre zeigte an, dass einflussreiche Teile der herrschenden Elite in den USA bereit waren, eine große Konfrontation mit der Sowjetunion zu riskieren. Diese kriegslüsterne Außenpolitik war ein getreues Abbild der Innenpolitik der Reagan-Regierung, die ein aggressives, erfolgreiches "Rollback"-Programm in Gang setzte, mit dem die Gewerkschaften zerschlagen und die sozialen Reformen abgeschafft wurden, die sich die Arbeiterklasse in den vorangegangenen 50 Jahren erkämpft hatte.

Am Ende war es die Sowjetbürokratie, die den Entschluss zur Zerstörung der UdSSR fasste. Die Selbstauflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 - der endgültige Verrat der Sowjetbürokratie am Erbe der Oktoberrevolution - verschaffte dem amerikanischen Imperialismus eine einmalige historische Chance. Zum ersten Mal konnte er in einer weltpolitischen Umgebung agieren, in der keine - militärischen oder politischen - Hindernisse dem Einsatz von Gewalt zur Erreichung seiner Ziele im Wege standen. Von nun an gaben die bösartigsten und reaktionärsten Tendenzen in der internen Diskussion über die strategischen Ziele der USA den Ton an.

Der Untergang der UdSSR, erklärten sie, verschaffe den USA die Gelegenheit, ihre unanfechtbare globale Hegemonie zu errichten. Die Aufgabe der USA bestand nun darin, den "unipolaren Moment" zu nutzen, wie es der rechte Kolumnist Charles Krauthammer 1991 ausdrückte, um eine absolute globale Dominanz zu erreichen. Die USA, so Krauthammer, sollten ohne Zögern nach freiem Ermessen militärische Gewalt anwenden. Die Europäer und die Japaner verdienten nur Verachtung, und man müsse ihnen klarmachen, dass sie den USA lediglich zuarbeiten dürften. Es wäre vielleicht ratsam, wenn die Führer der USA Lippenbekenntnisse zum Multilateralismus ablegen würden, doch in Wirklichkeit war dieser politische Ansatz gestorben. Die Zeit war nun gekommen, dass die USA ihre Macht unilateral einsetzen. Sie sollten "ohne falsche Scham die Regeln der Weltordnung festlegen und bereit sein, ihnen Geltung zu verschaffen". (6)

Charles Krauthammer merkte bei diesen absurden Gedankengängen wahrscheinlich gar nicht, dass er eine Voraussage bestätigte, die vor vielen Jahren einer der größten Marxisten des 20. Jahrhunderts getroffen hatte. Im Jahr 1933 machte Leo Trotzki darauf aufmerksam, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg angezettelt hatte, um Europa zu "organisieren". Die Ziele des amerikanischen Imperialismus, so Trotzki, würden weitaus ehrgeiziger ausfallen. "Die Vereinigten Staaten", schrieb Trotzki, "müssen die Welt ‚organisieren’. Die Geschichte konfrontiert die Menschheit mit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus." (7)

Die Militärstrategie der ersten Regierung Bush

Die erste Bush-Regierung reagierte auf den Untergang der UdSSR, indem sie die gesamte Militärstrategie der USA auf den Prüfstand stellte. In erster Linie wollte sie aggressiv das Machtvakuum ausnutzen, das die Auflösung der Sowjetunion hinterlassen hatte, und dabei die Welt in einen geopolitischen Klammergriff nehmen, der jedes andere Land davon abhalten würde, zum ernsthaften Konkurrenten der USA aufzusteigen. Der Schlüssel zu diesem Vorhaben war der Einsatz militärischer Macht zur Einschüchterung und gegebenenfalls Zerschlagung jedes bestehenden oder potenziellen Gegners oder Feinds. Im Jahr 1992 forderten Verteidigungsminister Richard Cheney und der damalige General Colin Powell eine umfassende Ausweitung der Einsatzaufgaben des amerikanischen Militärs. Ihrer Ansicht nach sollte das Militär befähigt werden, in 100 Tagen einen größeren Krieg und in weniger als 180 Tagen zwei solche Kriege zum Abschluss zu bringen.

Die Wahl Bill Clintons brachte keine durchgreifende Veränderung dieser zunehmend aggressiven Einstellung der amerikanischen Militärplaner. Unter der Parole "Shaping the World Through Engagement" ("Gestaltung der Welt durch Verantwortung") bildete sich in den 1990-er Jahren sowohl in der Demokratischen als auch in der Republikanischen Partei ein politischer Konsens heraus, wonach militärische Stärke das wichtigste Mittel sein werde, mit dem die USA ihre langfristige globale Dominanz sichern würden.

Das entscheidende Gewicht, das der militärischen Stärke beigemessen wurde, ergab sich nicht aus der Kraft, sondern aus der tiefen Schwäche des amerikanischen Kapitalismus. Im Wesentlichen ist der Militarismus ein Symptom des ökonomischen und sozialen Niedergangs. Die herrschende Elite verliert aus gutem Grund das Vertrauen in die wirtschaftliche Stärke des amerikanischen Kapitalismus gegenüber seinen internationalen Rivalen und fürchtet in zunehmendem Maße gesellschaftliche Verwerfungen im eigenen Land. Vor diesem Hintergrund hält sie militärische Stärke für das Mittel, mit dem sie allen beunruhigenden, negativen Entwicklungstendenzen entgegenwirken kann. Thomas Friedman schrieb dazu im März 1999 in der New York Times: "Die verborgene Hand des Marktes kann ohne die verborgene Faust nicht wirken - McDonald’s kann nicht florieren ohne McDonnell Douglas, den Hersteller des F-15-Bombers. Und die verborgene Faust, die den Technologien aus dem Silicon Valley die Welt erschließt, ist die Armee der Vereinigten Staaten von Amerika, die Luftwaffe, die Marine und das Marineinfanteriekorps... Ohne Amerika auf der Wacht kein America On Line (AOL)."

Die Frage des Irak spielt in den Diskussionen der höchsten Kreise über die strategischen Zielsetzungen Amerikas seit längerem eine zentrale Rolle. In gewissem Sinne kam der erste Krieg gegen den Irak für den amerikanischen Imperialismus noch einige Monate zu früh. Im Januar-Februar 1991, als das Schicksal der UdSSR noch ungewiss war, hielt es die Bush-Regierung für zu riskant, die Grenzen des UN-Mandats zu überschreiten und in einer einseitigen Aktion die Regierung Saddam Husseins zu stürzen. Doch kaum war der Krieg beendet, beschlich die Mächtigen in der herrschenden Elite das Gefühl, dass man eine Chance verpasst habe. Im Rahmen der neuen strategischen Zielsetzung, den Aufstieg jeder Macht oder Mächtekombination zu verhindern, die Amerikas Vormachtstellung herausfordern könnte, betrachtete man nun die Eroberung des Irak als entscheidendes strategisches Ziel. In zahllosen Papieren argumentierten politisch rechts stehende Strategen offen, dass der Sturz des Regimes von Saddam Hussein den Vereinigten Staaten die strategische Kontrolle über das Öl verschaffen würde, jenen äußerst wichtigen Rohstoff, der für die Volkswirtschaften ihrer potenziellen wirtschaftlichen und militärischen Rivalen in Europa und Japan von herausragender Bedeutung war. Die Politikwissenschaftler George Friedman und Meredith Lebart argumentierten in ihrem einflussreichen Buch "Der kommende Krieg mit Japan", das 1991 erschien:

"Das Öl macht den Persischen Golf zu mehr als einer regionalen Frage. Er wird zum Dreh- und Angelpunkt der Weltwirtschaft. Den USA würde die Vorherrschaft über diese Region die Möglichkeit einer beispiellosen Macht auf Weltebene eröffnen. Wenn sie andererseits zulassen, dass eine andere regionale Macht, wie der Irak oder der Iran, die Kontrolle über diese Region erringt und ihre eigene Machtstellung befestigt, dann würden sich die USA diese Möglichkeit verbauen - es sei denn, sie sind bereit, einen Bodenkrieg in der Region zu führen.

Die Reaktion der USA auf den irakischen Einmarsch in Kuwait 1991 diente ausdrücklich einem bestimmten Zweck: der Irak sollte keine Macht über die Ölvorkommen der Region erhalten. Doch sie eröffnete auch eine ganz andere Möglichkeit. Eine erfolgreiche Rückeroberung Kuwaits, die Zerschlagung des Saddam-Regimes und die Eroberung der Kontrolle über den Irak würde den USA die Kontrolle über einen großen Teil der weltweiten Ölvorkommen und der weltweiten Ölproduktion verschaffen. Selbst eine gnädige Ausübung dieser Macht würde den USA die Kontrolle über das internationale Wirtschaftssystem bescheren...

Sie wären dann in der Lage, die Förderquoten und damit auch die Preise festzulegen und den Transport des Öls zu steuern. Ein Land wie Japan, das 60 Prozent seines Ölbedarfs aus den Ländern an der Straße von Hormus bezieht, würde feststellen, dass sein größter wirtschaftlicher Konkurrent - die einzige große Volkswirtschaft der Welt, die sich überdies Japan gegenüber zunehmend verbittert zeigt, - die direkte Kontrolle über die Öllieferungen nach Japan ausübt...

Die führende politische Macht, die USA, findet sich plötzlich in einer Position wieder, in der sie ihre politische Macht einsetzen können, um die Weltwirtschaft im Griff zu halten.

Der Persische Golf wird zwangsläufig zum Zankapfel zwischen den USA und Japan werden. Japans Verwundbarkeit hinsichtlich der Ölzufuhr aus dieser Region steigert die japanische Unsicherheit unbedingt. Die Regionalisierung des Konflikts und die regionale Segmentierung der Volkswirtschaften werden den USA wichtige Möglichkeiten eröffnen: die Beeinflussung der Öllieferungen an Japan könnte der Herausforderung, die japanische Exporte für die USA darstellen, durchaus ein Ende setzen." (8)

Außer in den amerikanischen Massenmedien, die ein regelrechtes Tabu über diese heikle Frage verhängt haben, ist man sich an vielen Orten der Welt im klaren, dass es den USA in erster Linie nicht um angebliche Massenvernichtungswaffen, sondern um Öl geht. Der Krieg in Afghanistan verschaffte ihnen die Möglichkeit, in Zentralasien - wo wahrscheinlich die zweitgrößten Ölreserven der Welt lagern - neue amerikanische Militärbasen zu eröffnen. Die Eroberung des Irak wiederum würde den USA die Kontrolle über die zweitgrößten Rohöl-Vorkommen in der Region um den Persischen Golf verschaffen. Um den unsäglichen Thomas Friedman zu zitieren: "Wir besitzen den Irak, nachdem wir ihn zerstört haben."

Die Bush-Regierung, deren Führungspersonal aus Leuten wie Cheney besteht, die ihre kriminellen Fähigkeiten an der Spitze von Ölkonzernen verfeinert haben, betrachtet den Persischen Golf als potenzielles Juwel in der Krone eines aufsteigenden amerikanischen Weltreichs. Wenn die Vorherrschaft in dieser Region mit der effektiven Kontrolle über die Öl- und Erdgasreserven kombiniert wird, die in absehbarer Zukunft in Zentralasien gefördert werden, dann, so glauben die Führer des amerikanischen Imperialismus, haben sie die langfristige strategische Hegemonie erreicht, welche die Vereinigten Staaten so lange missen mussten. Diese Vision der Weltherrschaft vermittels der Kontrolle über strategische Rohstoffvorkommen ist eine reaktionäre Wahnvorstellung, die sich breite Schichten des Establishments begeistert zu eigen machen. Der Geisteszustand, der in der politischen und finanziellen Aristokratie Amerikas vorherrscht, schlägt sich auch in einem neuen Buch von Robert Kaplan nieder. Es trägt den Titel: "Kriegerische Politik: Weshalb Führung ein heidnisches Ethos erfordert". In einem typischen Absatz führt er aus:

"Je erfolgreicher unsere Außenpolitik, desto stärker kann Amerika die Welt beeinflussen. Um so wahrscheinlicher wird es, dass künftige Historiker die Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert nicht nur als Republik, sondern auch als Weltreich bewerten, mag es sich auch von Rom und allen anderen Reichen der Geschichte unterscheiden. Denn mit dem Fortschreiten der Jahrzehnte und Jahrhunderte, wenn die USA dereinst nicht nur auf 43, sondern auf 100 oder 150 Präsidenten zurückblicken, die dann wie die Herrscher vergangener Reiche - des Römischen, des Byzantinischen, des Osmanischen - in langen Listen aufgeführt werden, rückt der Vergleich mit der Antike näher. Insbesondere Rom ist ein Modell für eine Hegemonialmacht, die verschiedene Mittel einsetzt, um in einer ungeordneten Welt für ein Mindestmaß an Ordnung zu sorgen..." (9)

Dieses Gewäsch ist nur als eine Art groteskes kulturelles Phänomen von Interesse - es ist ein Beispiel für den umnebelten Geisteszustand der herrschenden Elite, die jeden Sinn für die Geschichte und für die heutige Realität verloren hat, von normalem Anstand ganz zu schweigen.

Kaplan scheint gar nicht auf die Idee zu kommen, dass die USA im Versuch, diese Fantasien in die Tat umzusetzen, auf Widerstand stoßen werden - in erster Linie von den unmittelbaren Opfern der amerikanischen Demütigungen, den Bevölkerungsmassen der zur Eroberung ausersehenen Länder. Hinzu kommt die Opposition der imperialistischen Rivalen Amerikas in Europa und Japan, die eine Situation, die sie wirtschaftlich zu erdrosseln droht, einfach nicht hinnehmen können. Ihre zunehmenden Befürchtungen hinsichtlich der Folgen, welche die langfristigen strategischen Ziele der USA - die Errichtung der Weltherrschaft - nach sich ziehen, kommen bereits in ihrer immer offeneren Opposition gegen die US-Kriegspläne im Irak zum Ausdruck. Ein Krieg der USA gegen den Irak wird wahrscheinlich zu einer enormen Verschärfung der Konflikte zwischen den Imperialisten führen - insbesondere zwischen den USA und ihren wichtigsten ökonomischen und geopolitischen Konkurrenten. So wird die Bühne für den dritten Weltkrieg bereitet.

Die sozialen Beziehungen in den USA

Bisher haben wir uns bei der Untersuchung der Ursachen für die Kriegstreiberei der USA auf die globalen geostrategischen und ökonomischen Beweggründe konzentriert. Es gibt jedoch einen weiteren entscheidenden Faktor in der politischen Gleichung - den immer explosiveren Zustand der sozialen Beziehungen innerhalb der USA und die Bedrohung der kapitalistischen Herrschaft, die davon ausgeht.

Während der vergangenen zehn Jahre haben Politikwissenschaftler in den USA immer wieder besorgt festgestellt, dass der soziale Zusammenhalt bröckelt. Samuel Huntington, der vor allem für sein Buch "The Clash of Civilizations" ("Kampf der Kulturen") bekannt ist, warnte bereits vor mehreren Jahren, dass das Ende des Kalten Krieges der US-Regierung die Grundlage geraubt habe, auf der sie bisher Massenunterstützung für den Staat erzeugen konnte. Es gab nun, schrieb er, offenbar kein wirkliches Gefühl für nationale Interessen mehr, die Massenunterstützung genossen. Das von Huntington vermerkte Problem ist allerdings nicht vorwiegend ideologischer Natur. Es wurzelt in den zunehmend unversöhnlichen sozialen Konflikten innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Es wird immer schwieriger, die ungeheure soziale Ungleichheit zu bemänteln, die gegenwärtig die amerikanische Gesellschaft kennzeichnet. Die Konzentration unerhörter persönlicher Reichtümer bei einem sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung hat weitreichende soziale Implikationen, ganz egal, wie eifrig die Massenmedien die Reichen und deren Lebensstil glorifizieren.

Der Verfall demokratischer Normen und die immer offenkundigeren Funktionsstörungen des amerikanischen Politikbetriebs sind objektive Folgen der sozialen Polarisierung. Im Jahr 2000 war es zum ersten Mal seit der Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg nicht möglich, einen wirklich demokratischen Ausgang der Wahlen herbeizuführen. Am Ende wurde der Präsident von der Finanzplutokratie handverlesen.

Die USA werden von sozialen Problemen heimgesucht, die im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung nicht gelöst werden können. Sie werden von der offiziellen Politik nicht einmal zur Kenntnis genommen. Das Zweiparteiensystem, dessen Personal vollkommen von der finanziellen Unterstützung der Plutokratie abhängt, vertritt die allgemeine Bevölkerung in keiner Weise. Wie sonst kann man erklären, dass das tiefe Unbehagen und die ambivalente Haltung von Millionen Amerikanern gegenüber den Kriegsvorbereitungen innerhalb des politischen Establishments überhaupt nicht zum Ausdruck kommen. Dieses stützt sich auf verschiedene Fraktionen der reichsten zwei Prozent der Bevölkerung und ist nicht im geringsten fähig, die Sorgen und Interessen der breiten Massen zu artikulieren.

Die gegenwärtige Wirtschaftskrise hat die Entfremdung zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse stark vertieft. Die andauernden Enthüllungen über kriminelle Machenschaften der Konzernspitzen drohen die wirtschaftliche Krise - die an sich schon recht ernst ist - in eine allgemeine Krise der Klassenherrschaft zu verwandeln. In nicht geringem Maße hofft die Bush-Regierung, dass durchschlagende Erfolge im Ausland die Bevölkerung irgendwie von der innenpolitischen Krise ablenken werden. Doch die Geschichte liefert viele Beispiele für Katastrophen, die reaktionäre Regierungen heimsuchten, nachdem sie auf Krieg gesetzt hatten, um Probleme im eigenen Land einzudämmen. Regierungen, die im Krieg ein Mittel gegen das Versagen der eigenen Wirtschaft und gegen verschärfte soziale Konflikte sehen, ziehen allerlei unerwartete Nebenwirkungen auf sich - im äußersten Fall eine Revolution.

Die Kriegstreiberei der Bush-Regierung stellt jeden Studenten vor politische und auch moralische Fragen von größtem Ausmaß. Zunächst möchte ich folgenden Punkt so stark betonen, wie ich nur kann: Die Politik der Bush-Regierung ist kein bloßer Fehler... sie ist verbrecherisch. Die Verantwortlichen für diese Politik sind keine fehlgeleiteten Individuen. Es sind politische Verbrecher. Doch das Verbrecherische dieser Politik folgt aus dem zutiefst kriminellen Charakter des amerikanischen Imperialismus - der versucht, das versagende kapitalistische System durch Plünderungen und Massenmord am Leben zu erhalten. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen den innen- und den außenpolitischen Methoden der herrschenden Elite.

Die jüngsten Enthüllungen über Korruption in Konzernen sind von weitreichender gesellschaftlicher Bedeutung. Das Tagesgeschäft der amerikanischen Unternehmen hat kriminellen Charakter angenommen. Die herrschende Elite hat enormen Reichtum angehäuft, indem sie gezielt und systematisch die industriellen, finanziellen und sozialen Ressourcen ausplündert. Die amerikanischen Geschäftsführer könnten ihre Position in den Unternehmen, die sie ruiniert haben, mit einem leicht abgewandelten Cäsar-Zitat beschreiben: "Ich kam, sah und stahl." Es besteht wirklich kein großer Unterschied zwischen den mafia-artigen "Bisnismen", die in den letzten zehn Jahren Russland ausgeraubt haben, und der kriminellen Bande an den Spitzen der amerikanischen Unternehmen, die ihre Konzerne ausgeplündert haben. Die Methoden, mit denen die amerikanische Kapitalistenklasse ihre internationalen Ziele erreichen will, unterscheiden sich davon nicht grundlegend. Sie will das irakische Öl, also macht sie sich auf, es zu stehlen - mit Hilfe des US-Militärs.

Studenten haben die Verantwortung, sich diesen Kriminellen entgegenzustellen - doch diese Opposition muss sich auf ein wissenschaftliches Verständnis der Politik und sozialen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft stützen. Ein ernsthafter und dauerhafter Kampf gegen den imperialistischen Krieg kann nicht losgelöst werden vom Kampf gegen die sozioökonomischen Interessen, die den Krieg hervorbringen - d. h. gegen den Kapitalismus. Dieser Kampf kann außerdem nur dann Erfolg haben, wenn er darauf abzielt, diejenige gesellschaftliche Kraft innerhalb der USA und weltweit zu mobilisieren, die objektiv in Opposition zum Kapitalismus steht. Diese gesellschaftliche Kraft ist die Arbeiterklasse, die die überwiegende Masse der Bevölkerung in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ausmacht.

Im Zentrum des Kampfs gegen den Krieg steht also die Organisierung und Mobilisierung der Arbeiterklasse als unabhängiger politischer Kraft. In den USA bedeutet dies vor allem, die Arbeiterklasse von der politischen Vorherrschaft der Demokratischen Partei zu befreien und eine neue, unabhängige sozialistische Partei aufzubauen. Der programmatische Eckpfeiler einer solchen Partei muss der Kampf gegen den Imperialismus sein, gestützt auf die Perspektive der internationalen Einheit der Arbeiterklasse.

Es gibt in den USA eine solche Partei. Es ist die Socialist Equality Party, die in politischer Solidarität mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale steht. Denkt darüber nach, ob ihr Mitglied werden wollt.

Anmerkungen:

(alle Zitate aus dem Englischen übersetzt)

1. PovertyNet, Poverty Reduction and the World Bank, World Bank Executive Summary.
2. The Anatomy of the Nuremberg Trials, New York 1992, S. 641.
3. Ebd, S. 51.
4. Ebd, S. 51f.
5. Stanley Weintraub, MacArthur’s War: Korea and the Undoing of an American Hero, New York 2000, S. 253f.
6. Foreign Affairs, vol. 70, no. 1, 1991, S. 33.
7. Writings of Leon Trotsky 1933-34, New York, 1998, S. 302.
8. New York, 1991, S. 210f.
9. New York, 2002, S. 153.

(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - November/Dezember 2002 enthalten.)

 

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