Dr. Matin Baraki |
Ursachen, Verlauf und Perspektive des Afghanistan-KonfliktesVorbemerkung: |
Jochen Hippler
Afghanistan: Von der Volksdemokratie bis zur Herrschaft der Taliban
Einleitung
Im April 1992 war der damaligen Allianz der Mudschahedin der Sturz Präsident Nadschibullahs und die Ausrufung einer „Islamischen Republik“ gelungen. Der überwältigende Teil der Bevölkerung erhoffte und die meisten westlichen Beobachter erwarteten damit ein Ende des Krieges und den Beginn einer Periode des friedlichen Wiederaufbaus. Beide wurden enttäuscht: eine neue Phase politischer Konflikte und militärischer Auseinandersetzung trat an die Stelle der alten, unsicheren Halbstabilität. Der Krieg wurde verstärkt zwischen den unterschiedlichen Mudschahedingruppen weitergeführt. 1993/94 entwickelte sich als Reaktion auf diese Verhältnisse ein neuer politisch-militärischer Machtfaktor in Form der Miliz der „Taliban“, der religiösen Studenten. Der Krieg änderte seine Form und trat in eine neue Phase ein. Im September 1996 nahmen die Taliban die Hauptstadt Kabul ein, im Mai 1997 brachten sie auch einen Teil des Nordens unter ihre Kontrolle, so daß sie über mehr als 70 Prozent des Territoriums verfügten. In der zweiten Jahreshälfte 1997 und dem nächsten Jahr dürfte sich die Zukunft des Landes entscheiden: eine völlige Kontrolle Afghanistans durch die Taliban oder deren schrittweiser Verlust an sozialer Basis und militärischer Kraft.
Afghanistan bis in die siebziger Jahre
Schon vor Beginn der letzten beiden Jahrzehnte des Krieges war Afghanistan ein extrem armes und wirtschaftlich kaum entwickeltes Land. Weder aufgrund seiner internen ökonomischen Entwicklung, noch aufgrund eines (fehlenden) Reichtums an Bodenschätzen hat Afghanistan es zu auch nur bescheidenem Wohlstand gebracht. Rosinen, Tierhäute, Halbedelsteine und - immerhin – etwas Erdgas waren die wichtigsten Exportprodukte. Industrien im nennenswerten Umfang gibt es nicht. Der ökonomische Standard wurde dadurch gekennzeichnet, daß nicht einmal Statistiken über den Umfang des Bruttosozialproduktes existierten und es sie natürlich auch heute nicht gibt. Schätzungen besagen, daß vor dem Krieg etwa 80 % der Afghanen von der Landwirtschaft lebten.
Die politische Tradition entspricht diesen Bedingungen - und den geographischen und topographischen Gegebenheiten: große Teile des Landes sind zerklüftet oder sonstwie schwer zugänglich, die Infrastruktur im Verkehrsbereich ist höchst mangelhaft. Entsprechend zersplittert waren in Afghanistan traditionell die politische Macht und der ökonomische Einfluß. Stammesoberhäupter, traditionelle Anführer eines Dorfes oder einer kleinen Region, religiöse Führer (insgesamt etwa eine Viertelmillion bei einer Bevölkerung von 13-19 Millionen) bestimmten das Leben auf dem Land. Darüber, entrückt und oft einflußlos, "regierte" eine Regierung in Kabul, die in aller Regel auf die Kooperation der jeweiligen Dorf- und Stammesgrößen und religiösen Führer angewiesen war, wenn sie außerhalb der Städte etwas erreichen wollte. Nicht einmal eine so grundlegende Staatstätigkeit wie das Steuerwesen funktionierte auf dem Land, einflußreiche Stämme entzogen sich dem Militärdienst, ohne daß die Regierung dagegen hätte vorgehen können. Einer zersplitterten und traditionalistischen islamischen Gesellschaft stand damit ein Staatsapparat gegenüber, der im größten Teil des Landes nur eingeschränkt handlungsfähig war.
Den wirtschaftlichen und politischen Zuständen im Land entsprachen die sozialen Lebensbedingungen. Noch in den siebziger Jahren war das Rechtswesen in den Händen religiöser Gerichtshöfe, auf dem Land existierte kaum ein ordentliches Schulwesen, Frauen wurden für Brautgelder gekauft oder verkauft. 90 % der Bevölkerung insgesamt, 98 % der Frauen konnten weder lesen noch schreiben. Der jämmerliche Lebensstandard der Bevölkerung wurde durch ein Geflecht persönlicher Abhängigkeiten und Loyalitäten zementiert, Hoffnung auf sozialen Wandel und wirtschaftliche Entwicklung war gering.
Verschiedene Regierungen in Kabul haben versucht, diese Zustände zu durchbrechen. Amir Abdur Rahman hatte sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Zwang, britischer Hilfe und einigem Geschick bemüht, die Zentralgewalt auf Kosten der Stämme zu stärken. Dabei konnte er, ebenso wie König Amanullah in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, nur begrenzte Erfolge verbuchen. In historischer Perspektive müssen die Ereignisse im Gefolge der "April-Revolution" von 1978 - einschließlich Bürgerkrieg - in diesem Zusammenhang betrachtet werden: als einer der periodisch wiederkehrenden und bisher immer gescheiterten Versuche, den Staatsapparat in Afghanistan zu stärken, funktionsfähig zu machen, und die entgegenstehenden partikularen Interessen zurückzudrängen. Eine nationalstaatliche "Modernisierung" und die Zurückdrängung oder Zerschlagung der anachronistischen sozialen und politischen Strukturen stand auf der Tagesordnung. Der Militärkorrespondent der liberalen britischen Tageszeitung The Independent, Mark Urban, formulierte treffend: "Wenn jemals ein Land eine Revolution nötig hatte, dann war es Afghanistan." Bis zum Ende der siebziger Jahre hatten alle möglichen, unterschiedlichen Regierungen die zentralen Aufgaben des Landes nicht einmal annähernd lösen können. "Aufeinander folgende Regierungen waren daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu alphabetisieren, hatten nicht vermocht, Respekt und eine bessere Lage für Frauen durchzusetzen, oder versäumt, dem Land irgend eine substantielle Regierungs- oder industrielle Infrastruktur zu geben." Die traditionelle afghanische Gesellschaft bot ebenfalls keine Lösungsperspektive: sie war das Grundproblem.
Von der „April-Revolution“ bis zum Abzug der Sowjetunion
Im April 1978 erfolgte in Afghanistan ein Umsturz, den seine Urheber als „April-Revolution" bezeichneten. Einige progressive Militäreinheiten, deren Offiziere mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA) verbunden waren, stürzten die Regierung des Präsidenten Daoud, der 1973 selbst durch einen Putsch den König Zahir Shah von der Macht verdrängt hatte. Wenn aber der Ablauf des Regierungswechsels einem klassischen Staatsstreich glich, so ging es in der Substanz doch um weit mehr als um das bloße Austauschen von Personen: das Ziel war offen revolutionär, es ging um nichts weniger als eine völlige Umgestaltung der ökonomischen und politischen Verhältnisse des Landes, um eine nachholende Modernisierung, die die tradierten Machtstrukturen aufbrechen sollte. Diese Ziele waren nicht nur legitim, sie waren für die zukünftige Entwicklung Afghanistans und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen auch sinnvoll und notwendig. Über die konkrete Praxis der PDPA ist damit allerdings noch nichts ausgesagt.
Die "Revolution" des April war keine Revolution im klassischen Sinne. Die Revolutionspartei PDPA war im Land kaum verankert. Ihre soziale Basis war höchst schmal, sie erstreckte sich im wesentlichen auf Intellektuelle, Studenten, Staatsbeamte, Lehrer oder Offiziere, geographisch gesehen auf die Hauptstadt und einige andere Städte. In der Landbevölkerung, also bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, verfügte die PDPA praktisch über keinen Anhang. Anders ausgedrückt: die „April-Revolution“ war nicht mehr als die Revolte bestimmter Teile der städtischen Mittelschichten gegen anachronistische Sozialstrukturen und einen inkompetenten und zunehmend repressiven Staatsapparat.
Zusätzlich war die neue Regierungspartei PDPA (mit damals schätzungsweise 11-12 000 Mitgliedern) in zwei sich heftig bekämpfende Flügel gespalten, so daß die schwachen Kräfte noch großenteils für interne Machtkämpfe vergeudet wurden. In dieser Situation eigener Schwäche und Isolierung begann die PDPA mit einem ambitiösen Programm sozioökonomischer Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft. Die wichtigsten Punkte waren die Förderung der Gleichberechtigung der ethnischen Minderheiten, eine Landreform, Emanzipation der Frau und Erziehung für alle. Damit waren in der Tat zentrale Probleme der afghanischen Gesellschaft, vor deren Lösung alle früheren Regierungen zurückgeschreckt waren, ins Zentrum der Politik gerückt. Doch hinter dieser Ebene guter Vorsätze begannen die Schwierigkeiten.
Das Zusammentreffen des traditionellen, lokalen Autonomiestrebens, der Verkündung und ansatzweisen Durchführung sozialer Reformen und der Unsensibilität und teilweisen Brutalität der PDPA-Kader führten vom Beginn der April-Revolution an zu Widerstand auf dem Land, der - vor dem Hintergrund der afghanischen Geschichte nicht ungewöhnlich - sofort auch gewaltsame Formen annahm.
Die PDPA begriff sich als marxistisch-leninistische Kaderpartei und legte von Anfang an großen Wert auf enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Diese ließ eine gewisse Skepsis erkennen, wollte die machtpolitische Möglichkeit an ihrer Südflanke trotzdem nutzen. Im November 1978 wurde die Unterzeichnung eines afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages angekündigt und wenige Wochen später vollzogen. Etwa seit Mitte 1979 begann eine verstärkte Lieferung von Militärmaterial, insbesondere von Flugzeugen und Kampfhubschraubern. Im Herbst begannen die ersten Vorbereitungen der Intervention, im Verlauf des Dezember 1979 wurden bereits sowjetische Truppen nach Afghanistan verlegt, Weihnachten erfolgte dann die Intervention: Präsident Amin wurde militärisch gestürzt, er kam bei einem Feuergefecht in seinem Amtssitz ums Leben. Babrak Kamal wurde neuer Präsident, da die Sowjetunion ihn als Vertreter der "gemäßigteren" Parcham-Fraktion für geeigneter hielt, sich eine stärkere Verankerung im Land zu verschaffen und politischen Übereifer zu vermeiden. Als er die Sowjetunion um die Entsendung von Truppen "bat", waren bereits 15-20.000 sowjetische Soldaten im Land.
Die sowjetischen Militäreinheiten waren außer zur Durchsetzung des Regierungswechsels ins Land gekommen, um die militärische Lage zu stabilisieren und einem Zusammenbruch der Armee vorzubeugen. Die kurzfristigen Ergebnisse der Intervention waren aber genau entgegengesetzt: sie fügte dem Widerstand gegen die Regierung einen neuen, durchschlagenden Grund hinzu, nämlich den Kampf gegen die fremden Eindringlinge. Die rund 110 000 sowjetischen Soldaten beteiligten sich an Counterinsurgency-Operationen, versuchten aber nicht, das Land insgesamt militärisch zu kontrollieren oder zu erobern, sondern konzentrierten sich vornehmlich auf fest umrissene Funktionen wie Luftunterstützung, Kontrolle der Städte oder Straßen (wozu offensive Operationen gegen benachbarte Mudschahedin-Gruppen gehörten), Logistik, das Unterbrechen des Nachschubs des Kriegsgegners oder unternahmen gemeinsame Operationen offensiven Charakters gegen strategisch bedeutsame Mudschahedin-Positionen.
Die Genfer Abkommen vom April 1988
Die Sowjetunion und die Regierung in Kabul waren nicht in der Lage, den Krieg für sich zu entscheiden, da ihnen dazu eine der wichtigsten Voraussetzungen fehlte: die Unterstützung der Bevölkerung. Im Kontext von Guerillakrieg ist dieser Faktor in der Regel weit bedeutsamer als technische Überlegenheit oder stärkere Feuerkraft. Aus innen- und außenpolitischen Gründen war die Sowjetunion auch nicht bereit, ihr militärisches Engagement über das erwähnte Niveau hinaus weiter zu erhöhen, womit sie in die Sackgasse geriet, einen ungewinnbaren Krieg zu führen, der ihr wirtschaftlich und politisch teuer zu stehen kam. Mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows als sowjetischer Parteichef und dann Präsident und dem Beginn der Perestroika konnte auch eine Wende in der sowjetischen Afghanistanpolitik vollzogen werden: der Abzug der Truppen war als notwendig erkannt, und es konnte nur noch um seine Konditionen und politische Flankierung gehen. 1988 kam es zum Durchbruch, nämlich den Genfer Afghanistan-Abkommen.
Diese vier gleichzeitig unterzeichneten waren keine Friedensverträge. Sie regelten nur die internationalen Aspekte des Krieges, insbesondere den Abzug der sowjetischen Truppen. Die Abkommen wurden von den Regierungen Afghanistans, Pakistans, der Sowjetunion und den USA unterzeichnet. Die wichtigsten Vertragsinhalte bestanden aus drei Elementen:
1. der wechselseitigen Verpflichtung zur Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans und Pakistans ("der Hohen vertragschließenden Parteien") Dies schloß das Verbot einer Unterstützung bewaffneter Gruppen oder Aufständischer (also der Mudschahedin) ein, sowie das Verbot, "irgendwelche anderen Handlungen zu unternehmen oder zu dulden, die als Einmischung und Intervention angesehen werden könnten."
2. der wechselseitigen Verpflichtung, eine Repatriierung der afghanischen Flüchtlinge in ihr Heimatland auf freiwilliger Basis "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" nach Kräften zu unterstützen.
3. der Verpflichtung der Sowjetunion, ihre Truppen innerhalb von neun Monaten (beginnend mit dem 15. Mai 1988) aus Afghanistan abzuziehen.
Die Koppelung dieser drei Punkte bedeutete zweifellos einen entscheidenden Schritt nach vorn: der erste Punkt entsprach nur der ohnehin bestehenden Verpflichtung aufgrund der UNO-Charta, bedeutete aber in diesem konkreten Fall eine teilweise De-Internationalisierung des Krieges, da Pakistan und die USA danach die Finanzierung, Bewaffnung und sonstige Unterstützung der einen Kriegspartei zu unterlassen hatten.
Dem entspricht der dritte Punkt: auch die Sowjetunion mußte sich an die entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen halten und ihre Truppen zurückziehen. Damit wäre es im wesentlichen gelungen, den afghanischen Bürgerkrieg auf seien inner-afghanische Dimension zurückzuführen - noch kein Friede, aber ein wichtiger Zwischenschritt.
Diese Perspektive der Genfer Abkommen - bzw. ihres Wortlauts - wurde durch Erklärungen Pakistans und der USA zum Teil noch vor der Vertragsunterzeichnung, zum Teil kurz danach, wieder zunichte gemacht. Der damalige pakistanische Diktator Zia Ul-Haq, der traditionell die Hisb-i Islami des Fundamentalistenführers Hekmatyar unterstützt (und deren pakistanische Bruderpartei zur Förderung der Islamisierung seines Landes in die Regierung aufgenommen) hatte, erklärte bereits am 7. April, die Mudschahedin weiter unterstützen zu wollen. US-Außenminister George Shultz meinte anläßlich der Unterzeichnung der Abkommen, "daß es im Einklang mit unseren Verpflichtungen als Garantiemacht unser Recht ist, dem Widerstand militärische Hilfe zukommen zu lassen." Daß genau das Gegenteil den Inhalt der Abkommen darstellte wurde diskret übersehen. Damit ergab sich die ungewöhnliche Situation, daß die Regierungen in Washington und Islamabad feierlich einen internationalen Vertrag unter Anerkennung der afghanischen Regierung unterzeichneten und im gleichen Atemzug öffentlich erklärten, diesen Vertrag brechen zu wollen. Dies dürfte damit zu erklären sein, daß beide Länder die Vorteile eines sowjetischen Truppenabzuges für ihre regionalen Interessen nutzen wollten, zugleich aber wegen der sowjetischen Zwangslage in Afghanistan ihre versprochene Gegenleistung nicht glauben erbringen zu müssen.
Der Sturz Präsident Nadschibullahs
Der Rückzug der sowjetischen Truppen führte nicht, wie allgemein erwartet, zum sofortigen Zusammenbruch der Regierung in Kabul, sondern mittelfristig sogar zu ihrer Stärkung. Die Mudschahedin starteten eine Großoffensive und „Entscheidungsschlacht“ um die Provinzhauptstadt Jalalabad (nahe der pakistanischen Grenze), erlitten aber eine schwere Niederlage und einen entsprechenden Prestigeverlust. Die Regierungsarmee gewann an Selbstvertrauen und Motivation, seitdem sie ohne sowjetische Beaufsichtigung operierte, und die militärischen Erfolge verstärkten diese Tendenz. Außerdem hatte der Abzug der sowjetischen Truppen den innenpolitischen Spielraum der Regierung erhöht, da sie nunmehr von Teilen der Bevölkerung zum ersten Mal als „Herr im eigenen Haus“ ernstgenommen wurde. Die Stärke der Mudschahedin lag im Krieg in klassischer Guerillataktik, in schnellen, überraschenden Angriffen in kleinen oder mittelgroßen Einheiten. Mit der Einnahme großer, gut befestigter und massiv verteidigter Stellungen oder Städte, hatten die Mudschahedin große Schwierigkeiten, die mit mangelnder Koordination für die erforderlichen Großoperationen, mit Problemen mit weitreichender Mobilität in größeren Einheiten und mit deren häufig nur regionalen Verankerung zusammenhingen. Und gerade hier zeigten die Regierungstruppen ihre besondere Stärke.
Es kam nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zu einer Situation, in der die Regierung zwar keine Chance hatte, die Aufständischen militärisch zu schlagen, zugleich von diesen aber auch nicht besiegt werden konnte und langsam an sozialer Basis gewann. Innerhalb der lokalen Widerstandsgruppen wuchs die Bereitschaft, mit der Regierung formelle oder informelle Abkommen und Waffenstillstandsvereinbarungen abzuschließen.
Trotzdem kam es im April 1992 zum Sturz der Regierung Nadschibullah und der Herrschaft der PDPA, die sich inzwischen in Watan-Partei, „Partei des Vaterlandes“ umbenannt hatte. Der Grund lag zum größten Teil in den inneren Widersprüchen des PDPA-Regimes, aber auch an externen Faktoren. Die UNO hatte seit längerem an einem Friedenskonzept für Afghanistan gearbeitet, das eine Übergangsregierung zur Vorbereitung von Wahlen beinhaltete. Präsident Nadschibullah stimmte diesem Plan schließlich zu und erklärte sich bereit, die Macht an eine noch zu formende Übergangsregierung abzugeben. Von diesem Zeitpunkt an begann sein Stern schnell zu sinken: er wurde innerhalb und außerhalb seiner Partei nur noch als Zwischenlösung ohne Zukunft angesehen – mit dem Ergebnis, daß selbst höchste Militärführer, Minister und Mitglieder seines Politbüros Kontakt mit Mudschahedinparteien aufnahmen, um sich für die zukünftige Entwicklung abzusichern. Damit war der Zerfall der Partei und des Staatsapparates eingeleitet. Als zweiter und ebenso wichtiger Faktor erwies sich eine Kombination ethnischer und ökonomischer Widersprüche im Regierungslager: als die Regierung im Norden des Landes einen paschtunischen General mit dem Kommando über nichtpaschtunische Truppen ernennen wollte, kam es zu schweren Konflikten innerhalb des Militärs und zwischen der – paschtunisch dominierten – Regierung und tadschikischen und usbekischen Offizieren. Das Faß zum Überlaufen brachte schließlich die desolate Finanzlage der Regierung. Sie war nicht mehr in der Lage, den Usbekengeneral Dostum (und andere lokale Machtgrößen) durch größere Geldzahlungen an sich zu binden, was Dostum zum Überlaufen auf die Seite der Mudschahedin veranlaßte. Damit brach die Regierung zusammen, zwar von außen nicht militärisch zu besiegen, aber von innen morsch und nicht überlebensfähig. Regierung, Staatsapparat und Armee lösten sich praktisch auf, liefen entweder zu den Mudschahedin über, flohen aus dem Land, oder verschwanden einfach von der Bildfläche. Die Mudschahedin zogen in Kabul ein, ohne auch nur einen Schuß abgeben zu müssen.
Herrschaft der Mudschahedin
In der westlichen Öffentlichkeit waren die Mudschahedin in den achtziger Jahren häufig als "Freiheitskämpfer" betrachtet worden, die gegen die russischen Invasoren die Waffen erhoben hätten und deren Hauptziel darin bestehe, ihr Land von den Eindringlingen zu befreien. Diese Darstellung haben sie selbst jahrelang vertreten, häufig wurde sie für bare Münze genommen. Trotzdem ist sie falsch. Zwar war der bewaffnete Widerstand als Folge der sowjetischen Intervention deutlich gestärkt worden, aber er ging dieser voraus. Direkt nach der April-Revolution des Jahres 1978 hatten Mudschahedin-Gruppen unter anti-kommunistischen und islamistischen Vorzeichen bewaffnet gegen die Regierung gekämpft - häufig noch bevor diese ihre verhängnisvolle Politik auch nur beginnen konnte. Wenig beachtet wurde, daß manche Organisationen bereits deutlich vor dieser Zeit kämpften: ein pakistanischer General a.D. schilderte dem Verfasser ausführlich, wie er mit zwei Kollegen vom militärischen Geheimdienst ISI bereits 1971/72 begonnen hatte, die Mudschahedin aufzubauen. Dabei ging es der pakistanischen Regierung darum, nach ihrer Niederlage im Krieg gegen Indien und der Unabhängigkeit des ehemaligen Ostpakistans als Bangladesch ihre strategische Position in der Region zu verbessern. Deshalb sollten im Nachbarland Afghanistan (mit dem es historische Grenzstreitigkeiten gab) in allen Provinzen kleine, bewaffnete Gruppen als strategische, militärische Option aufgebaut werden. Dies hatte offensichtlich nichts mit „Kommunismus“ oder einer sowjetischen Intervention zu tun, die ja erst Jahre später erfolgte. Obwohl diese Gruppen damals noch nicht „Mudschahedin“ hießen – gegen den noch regierenden König Sahir Shah ließ sich schließlich kein „Heiliger Krieg“ führen – waren Männer wie Rabbani und Hekmatyar (die später als Mudschahedinführer bekannt wurden) bereits in Führungspositionen. Das ISI führte die Operation bis zum Sturz der Regierung Zulfikar Ali Bhutto (1976) weiter, um sie auf Anweisung des neuen Regimes abzubrechen. Damit begann eine starke Fragmentierung der Gruppen, die auf der Suche nach Ersatz für die ausfallenden Finanzmittel in Konkurrenz zueinander gerieten und sich an unterschiedliche potentielle Förderer wandten, wie an Saudi Arabien, Libyen, usw.
Ab 1978 begannen die USA als Reaktion auf die Machtübernahme der PDPA mit einer begrenzten logistischen und materiellen Hilfe für die Mudschahedin, ab 1980 wurden diese Maßnahmen massiv ausgeweitet und zur größten Operation der CIA in ihrer Geschichte. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Mudschahedin zwar einerseits tatsächlich als Reaktion auf radikale politische Veränderungen und externe Intervention begriffen werden müssen, aber – insbesondere auf Leitungsebene – zugleich von einer opportunistischen Söldnermentalität geprägt waren, die den persönlichen Nutzen über politische Erwägungen stellte. Vor diesem Hintergrund lassen sich die verschiedenen Parteien folgendermaßen charakterisieren:
1. Die wichtigsten und in den achtziger Jahren schlagkräftigsten Mudschahedin-Gruppen (wie Hisb und mit deutlichen Einschränkungen Jamiat) können als revolutionär-fundamentalistisch und islamistisch bezeichnet werden. Sie wollten, auf einem anderen Weg als die PDPA, Afghanistan ebenfalls zu einem zentralen, "nationalen" Staatswesen umformen, das dann als „islamischer Staat“ von einer Kaderpartei geführt werden sollte. Jede Form von Demokratie oder auch nur das Wahlrecht für Frauen wären in diesem Konzept fehl am Platze.
2. Der andere Hauptflügel wurde in der Regel als der "gemäßigte" bezeichnet: Gemeint sind Gruppen, die einer eher traditionalistisch-fundamentalistischen Linie folgen, die das Afghanistan von gestern verkörpern, und das Afghanistan der traditionellen Abhängigkeiten und Ausbeutungsstrukturen wiedererrichten möchten. Sie sind prinzipiell pro-westlich orientiert und stehen nicht selten der theokratischen Herrschaft des saudi arabischen Königshauses nahe, von dem sie beträchtliche Summen erhalten.
Über diese beiden politischen Grundkonzeptionen wölbt sich schließlich eine eher "modern" anmutende Verhaltensweise: Kriegsgewinnler, Leute mit Söldnermentalität und Kräfte, die den Krieg insgesamt als Geschäft und zur persönlichen Bereicherung betreiben. Es ist kein Zufall, daß bis zu 70 % der US-amerikanischen Hilfsgelder in dunklen Kanälen verschwanden und bei den eigentlichen Kämpfern nie ankamen: geschäftstüchtige Mudschahedinführer verkauften Waffen und Nachschub in Pakistan auf eigene Rechnung, um unabhängig vom Verlauf des Krieges ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Bereits während ihres angeblich „Heiligen Krieges“ kämpften die Mudschahedin an zwei Fronten: einerseits leisteten sie Widerstand gegen die sowjetischen Truppen und die Regierung der PDPA, andererseits befanden sie sich in einem dauerhaften Krieg untereinander, der zum Teil um die Hegemonie im eigenen Lager, zum Teil um handfeste materielle Vorteile geführt wurde, wie etwa die Kontrolle der Opiumproduktion in der Provinz Helmand. Die Brutalität und Grausamkeit der Mudschahedin stand der ihrer Gegner in nichts nach. Anschläge auf Zivilisten mit Dutzenden von Toten, Abschüsse von Zivilflugzeugen, Massenerschießung von Gefangenen, Heroinhandel im großen Stil, Folter und andere Methoden der Konfliktaustragung waren immer an der Tagesordnung. Als die Mudschahedin im April 1992 die Macht in Kabul übernahmen, führte dies weder zum Frieden in Afghanistan, noch zu einer demokratischen oder die Menschenrechte achtenden Regierung. Es wurde nur eine neue Runde des Krieges eröffnet, die insbesondere sich in der Hauptstadt als verheerender erwies, als alles zuvor erlebte. Erst nach dem Sturz Präsident Nadschibullahs wurde Kabul weitgehend zerstört. Die Hauptkonfliktlinie verlief in dieser Zeit vor allem zwischen Präsident Rabbani und Ministerpräsident Hekmatyar. Von einer Lösung der sozialen und politischen Probleme des Landes oder dem wirtschaftlichen Wiederaufbau konnte unter solchen Umständen natürlich keine Rede sein.
Aufstieg und Macht der Taliban
Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1988/89 und dem Sturz der PDPA 1992 war die Legitimität einer Weiterführung des Krieges in der Bevölkerung fraglich: die fremden, „ungläubigen“ Invasoren waren vertrieben, und selbst die durch die Kooperation mit ihnen kompromittierte Regierung gestürzt. Der Bevölkerung war nicht einsichtig, aus welchen Gründen immer noch kein Friede möglich war, den sie eigentlich schon nach dem Abzug der Sowjetunion erwartet hatte. Die Kriegsmüdigkeit wuchs, und die Unzufriedenheit mit der inkompetenten und korrupten Herrschaft konkurrierender Mudschahedinfraktionen nahm kontinuierlich zu. Immer stärker wurden diese nicht als Befreier, sondern als Quelle aller Übel wahrgenommen, eine Tendenz, die sich in Kabul bereits seit etwa 1990 beobachten ließ. Mit Hinblick auf die sieben sich bekämpfenden Mudschahedinparteien meinte man im Basar häufig: „Besser ein starker, schlechter Präsident als sieben, die miteinander Krieg führen“.
An diesem Punkt der afghanischen Geschichte betraten die Taliban vor etwa drei Jahren die Bühne. Wie aus dem Nichts schien diese unbekannte, neue Miliz aufgetaucht zu sein. Tatsächlich deutet einiges darauf hin, daß der pakistanische Militärgeheimdienst ISI am Aufbau der Taliban wesentlich beteiligt war: von Anfang an war die Miliz gut bewaffnet und verfügte über schwere Waffen, einschließlich Panzer und Flugzeuge. Auch die Spannungen zwischen Pakistan und der Regierung in Kabul legen diesen Schluß nahe. Später wurde dies mehrfach belegt, etwa durch die Festnahme von pakistanischen Offizieren in Mazhar-i-Sharif, in afghanischen Norden.
Die Taliban verfügten über drei entscheidende Vorteile: erstens waren die Mudschahedinparteien und ihre zerstrittene Regierung in der Bevölkerung weitgehend diskreditiert. Es hatte sich lange herumgesprochen, daß sie weder das Wohl des Landes, noch den Islam im Sinn hatten, sondern nur das eigene, und daß sie den Krieg verewigten. Zweitens waren die Bevölkerung und selbst viele Mudschahedin ausgesprochen kriegsmüde. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1988/89 und dem Sturz Nadschibullahs 1992 waren immer weniger Gründe für eine Fortsetzung des Krieges zu erkennen, aber der Krieg und das Leiden hörten nicht auf. Beide Punkte stellten die Taliban ins Zentrum ihrer politischen Arbeit. Drittens aber waren die Taliban eine neue, unverbrauchte Kraft, die für die Verbrechen, Korruption und den Krieg keine Verantwortung trugen. Sie waren die einzige Organisation mit Glaubwürdigkeit. Und schließlich war es ein großer Vorteil, daß die Taliban nicht nur ständig vom Islam redeten, sondern “islamische Studenten” waren - also als überparteilich, unabhängig von der Parteipolitik und selbstlos gelten konnten. In der Bevölkerung waren die Taliban durchaus beliebt, da sie disziplinierter und rücksichtsvoller auftraten. Sie genossen Respekt, während man den Parteien gegenüber vor allem Furcht, Opportunismus oder Zynismus spüren konnte. Diese Stärken führten dazu, daß die Taliban in der Anfangsphase ihrer Offensive das halbe Land einnehmen konnten, ohne wirklich Krieg führen zu müssen: in den meisten Fällen flohen ihre Gegner, oder sie übergaben die Städte und Provinzen ohne Widerstand. Das wiederum stärkte das Prestige der Taliban ganz beträchtlich. Auch die Hauptstadt Kabul wurde im September 1996 nicht erobert, sondern einfach in Besitz genommen, nachdem die Einheiten der Regierung Rabbani sie geräumt hatten. Auf ähnliche Weise gelang den Taliban, was weder den sowjetischen Truppen, noch Nadschibullah oder Rabbani jemals geglückt war: die entscheidende Schwächung der Hisb-i-Islami des Gulbuddin Hekmatyar, die vor den anrückenden Taliban einfach dahinschmolz und in der Bedeutungslosigkeit versank.
Diese Serie fast gewaltloser Siege schien zu demonstrieren, daß die neue Kraft nicht nur stark, sondern moralisch überlegen war. Sie würde Schluß machen mit Krieg und den ständigen Kämpfen der korrupten Parteien. Wo diese nur vom Islam geredet hatten, würden die Taliban auch Taten folgen lassen.
Ihre Siege ließen genau den letzten Punkt zum entscheidenden Problem werden. Tatsächlich machten sie ernst mit “dem Islam”, wenn auch mit einer besonders rigiden und reaktionären Variante. Zuerst ließen die Taliban die Mohnfelder abbrennen und die Heroinlabors zerstören, da Drogen gegen den Islam verstießen. (Inzwischen haben sie den finanziellen Nutzen der Opiumproduktion erkannt und den Drogenexport wieder aufgenommen.) Sie einigten als drei Viertel des Landes unter ihrer Führung, womit die Zerstückelung Afghanistans zum Teil rückgängig gemacht und die Instabilität verringert wurde. Und in ihren Herrschaftsgebieten wurde tatsächlich der Krieg beendet - kein kleines Verdienst nach mehr als 1,5 Millionen Toten. Aber ihre Art des Islam hatte von Anfang an stark repressive Züge. Männer wurden gezwungen, sich Bärte wachsen zu lassen, Frauen verstärkt unterdrückt: Berufstätigkeit und Schulausbildung für Frauen sind verpönt und faktisch verboten. Das Tragen der burqa - ein Ganzkörperschleier - wird den Frauen aufgezwungen. Brutalste Bestrafungsformen und Willkür sind an der Tagesordnung. Was viele Afghanen zuerst als die letzte Hoffnung auf Frieden begrüßt hatten, entwickelte sich schnell zu einer terroristischen Gewaltherrschaft hinter religiösen Rechtfertigungsformeln. Wie bereits nach dem Sturz Nadschibullahs war Afghanistan vom Regen in die Traufe gekommen.
Zu tatsächlicher Kriegführung sahen sich die Taliban erst im Norden des Landes gezwungen, als sie auf die Positionen des tadschikischen Ahmad Schah Masud und des Usbekenwarlords Raschid Dostum vorrückten. Hier kam es zu harten und für beide Seiten verlustreichen Kämpfen. Bemerkenswerterweise erfolgten auch im Norden Afghanistans bis heute (Juni 1997) die Durchbrüche der Taliban (insbesondere die großen Geländegewinne im Mai 1997) nicht durch militärische Siege, sondern erneut durch politische Erfolge. Die Einnahme des Hauptquartiers Dostums und dessen Flucht ins Ausland wurde durch die Desertion seines Generals Malik ermöglicht, der sich kurz darauf allerdings wieder von den Taliban abwandte und ihnen schwere Verluste in Mazar-i-Scharif zufügte. Gegenwärtig kontrollieren die Taliban über 70 Prozent des Landes. Westlich der Hauptstadt behauptet sich eine von schiitischen Hazara kontrollierte Region, die allerdings mit den Taliban über eine Zusammenarbeit verhandelt; nördlich und nordöstlich Kabuls besteht noch eine vom tadschikischen warlord Masud kontrollierte Zone, deren Kern das schwer einzunehmende Pandschir-Tal bildet; und schließlich existiert im Norden des Landes noch um die Provinzhauptstadt Mazar-i-Scharif ein „Nordstaat“, der allerdings nicht länger von Dostum, sondern General Malik kontrolliert wird. Der Rest des Landes befindet sich gegenwärtig unter Kontrolle der Taliban.
Allerdings: der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der Taliban hat im Norden nach ihrem blitzschnellen Sieg im Mai und ihrem Einmarsch in Mazhar-i-Sharif mehr als nur einen taktischen Rückschlag erlitten. Nach dem erneuten Umschwenken General Maliks kam es zu hohen Verlusten unter den Taliban und einem Vordringen der Usbeken und Tadschiken an fast allen Fronten. Zwar ist ein militärischer Sieg dieser Allianz gegen die Taliban auf absehbare Zeit kaum vorstellbar, aber auch deren Aussichten auf einen Sieg im Norden sind deutlich gesunken. Ohne einen nicht-paschtunischen Verbündeten sind die Chancen eines militärischen Sieges und erst Recht einer dauerhaften Beherrschung des Nordens durch die Taliban eher gering.
Afghanistan: Ethnizität und Staatszerfall
Der langandauernde Krieg in Afghanistan ist durch einen einzelnen Faktor nicht zu erklären, sondern zeichnet sich gerade durch seine Vielschichtigkeit aus. Es lassen sich zumindest die folgenden Faktoren identifizieren:
Erst das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Konfliktebenen ließen den Krieg in Afghanistan so komplex und „unlösbar“ werden. Sie traten darüber hinaus nicht säuberlich getrennt durch unterschiedliche Akteure vertreten auf, sondern in einer bemerkenswerten Vermengung. Die Widersprüche innerhalb der PDPA beruhten eben nicht allein – und nicht einmal vordringlich – auf politisch-ideologischen Streitigkeiten, sondern zugleich auf „ethnischen“ Unterschieden (Paschtunen vs. Nichtpaschtunen, v.a. Tadschiken, unterschiedliche Zweige innerhalb der Paschtunen), auf der Frage der außenpolitischen Orientierung (Maß der Unterordnung unter die sowjetische Politik vs. eigenständige Reform/Revolutionsperspektive), ökonomischer Gier (Desertion General Dostums zu den Mudschahedin) und anderen Aspekten der Konfliktdynamik. Die Zusammenarbeit der „radikalsozialistischen“ Chalqi-Fraktion der PDPA mit der „extremfundamentalistischen“ Hisb-i-Islami des Gulbuddin Hekmatyar in der Schlußphase der Regierungszeit Präsident Nadschibullahs über alle ideologischen Unterschiede hinweg erfolgte beispielsweise zum großen Teil über ethnische (paschtunische) Gemeinsamkeiten vermittelt. Besonders unübersichtlich wird die Situation dadurch, daß viele der Faktoren gelegentlich kausal für politische Entscheidungen verantwortlich waren, häufiger aber nur der bloßen Legitimation einer aus anderen Gründen bevorzugten Politik dienten. Sowohl der religiöse Eifer mancher Beteiligter, als auch die ethnischen Identitäten dienten nicht selten als ideologische Instrumente der Allianzbildung, der Ein- und Ausgrenzung. Mitglied eines bestimmten Stammes, einer bestimmten Ethnie oder Religionsgemeinschaft, eines ausgedehnten Familienverbandes oder einer linguistischen Gruppe, Region oder Provinz zu sein bedeutete und bedeutet in Afghanistan nicht automatisch einen Gegensatz zu einer „nationalstaatlichen“ Perspektive oder zu den anderen vorhandenen Ethnien. Andererseits läßt sich ein solcher Gegensatz bei Bedarf immer leicht herstellen.
Die Konfliktgenese läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:
Ausgangspunkt war der Versuch, Afghanistan durch den Staatsapparat ohne breite soziale Unterstützung eine Modernisierung gewaltsam aufzuzwingen. Drei Faktoren führten zu massivem Widerstand: in einem Teil der Bevölkerung die Modernisierung als solche, in anderen Teilen ihre repressive Durchsetzung und die Einschränkung oder Aufhebung regionaler oder sozialer Autonomie. Der Widerstand wurde verstärkt durch die nicht selten inkompetente Art der Modernisierung und mangelnde Rücksicht auf lokale Traditionen und Bräuche.
Bereits in diesem Stadium des Konfliktes existierten allerdings funktionsfähige Kerne bewaffneter Aufständischer, die sich bald mit lokalen Machthabern und den traditionellen Strukturen (z.B. Stämmen) verbündeten, und so eine soziale Basis gewannen.
Die entscheidende Eskalationsstufe wurde allerdings durch die externe Einflußnahme erreicht: durch die sowjetische Intervention und die US-amerikanische Geheimdienstoperation, die zur umfangreichsten in der Geschichte der USA wurde. Afghanistan wurde zum wichtigen Schlachtfeld des zweiten Kalten Krieges der achtziger Jahre. Beide Supermächte und ihre Verbündeten pumpten riesige Mengen an Waffen, Material und Geld ins Land, das einerseits den Krieg auf eine viel blutigere Ebene hob, ihm aber zugleich eine neue Dimension hinzufügte: eine Ökonomie des Krieges, die von den politischen und militärischen Eliten bis an die soziale Basis ein Interesse an seiner Fortsetzung schuf. In dieser Phase wurden Pakistan, die USA und eine Reihe islamistischer Organisationen aus dem Nahen und Mittleren Osten, wie auch westliche Hilfsorganisationen praktisch zu Kriegsparteien.
Die traditionellen Machtbeziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen und innerhalb der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen waren zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen zerstört, wie auch das diffizile Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft. Die allseitige Verfügbarkeit von Waffen führte zu zusätzlicher Fragmentierung und der gewaltsamen Zuspitzung alter und neuer Konflikte, die man ansonsten auf friedliche Weise hätte beilegen können. Insbesondere die geheime Infrastruktur zur Unterstützung der Mudschahedin durch diese selbst, das pakistanische ISI und die CIA wurde zunehmend mit einer mafiotischen verknüpft, deren Kernelement im Drogenschmuggel bestand. In der Schlußphase der sowjetischen Militärpräsenz duplizierte sich ähnliches auch auf der Seite der Kabuler Regierung und bei den abziehenden sowjetischen Truppen. Der sowjetische Rückzug und die resultierende Verminderung des US-Engagements bedeuteten, daß der Konflikt von der Dimension des Stellvertreterkrieges zwischen den damaligen Supermächten befreit, und daß seine externe Finanzierung drastisch vermindert wurde. An ihre Stelle traten allerdings eine verstärkte Betonung persönlicher, krimineller und ethnischer Konkurrenzen, die für eine historische Phase in der Konstellation zwischen Präsident Rabbani und seinem Verteidigungsminister Masud einerseits (beide Tadschiken), dem paschtunischen Ministerpräsidenten Hekmatyar als Führer der stärksten Drogenmafia und zugleich der islamistischen Kaderpartei Hisb-i-Islami, und dem Usbekenwarlord Dostum verkörpert wurden.
Der Bürgerkrieg zwischen diesen Akteuren (unter Beteiligung der schiitischen Wahdat) hatte nichts mehr mit dem Kampf gegen externe Besatzer und ebensowenig mit religiösem Übereifer zu tun, wenn letzteres auch aus Legitimationsgründen weiter behauptet wurde. Er war kaum etwas anderes, als ein Kampf um persönliche Macht, der mit dem Streben nach Hegemonie der eigenen ethnischen Gruppe verknüpft war.
Genau aus dieser Tatsache bezogen die Taliban ihre Stärke, die ihnen bis zum Frühjahr 1997 einen kometenhaften Aufstieg ermöglichte. Der Überdruß der Bevölkerung an der Fortsetzung eines sinnlosen Krieges, das Prestige der frühen Talibanbewegung als neu, unverbraucht, über den diskreditierten Mudschahedinparteien stehend und tatsächlich moralisch (nämlich religiös) motiviert gaben den Taliban einen unschätzbaren politischen Wettbewerbsvorteil. Nicht ihre militärische Stärke, sondern die völlige Diskreditierung, der moralische und politische Bankrott ihrer Gegner waren für ihren Aufstieg verantwortlich. Erst durch ihre politisch-religiöse Rigorosität und den ethnischen Faktor kam ihr Vormarsch ins Stocken: Nachdem sie in kurzer Zeit die paschtunischen Siedlungsgebiete und die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht hatten, gelang ihnen jedes weitere Vordringen nur unter großen Schwierigkeiten und mit dramatischen Rückschlägen. Dies galt für ihre Versuche, nördlich von Kabul auf die Hochburg des tadschikischen Ahmed Shah Masud zu marschieren, und vor allem für ihre politisch-militärische Katastrophe im Norden, in Mazar-i-Sharif. In beiden Fällen trafen sie auf eine skeptische, nicht-paschtunische Bevölkerung, deren Vorbehalte oder Widerstand mit Zwang, Gewalt und schließlich ethnischen Säuberungen überwunden werden sollten. Damit wurden die ethnischen Aversionen aber nur vertieft und die Basis für einen Erfolg der Taliban im Norden untergraben oder gar verspielt.
Gegenwärtig existieren für die zukünftige Entwicklung des Landes folgende Alternativen:
a) Eine Einnahme des Nordens durch die Taliban auf militärischem oder politischem Wege, und damit die Einigung des Landes unter ihrer Führung. In diesem Falle sind mittelfristig eine Differenzierung und möglicherweise Fragmentierung der Taliban sehr wahrscheinlich, ebenso wie dauerhafter Widerstand gegen ihre Herrschaft, der sich am stärksten in den nicht-paschtunischen Siedlungsgebieten ausprägen dürfte.
b) Gegenwärtig unwahrscheinlich, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen ist die Bildung einer Koalitionsregierung der jetzigen Kriegsgegner, falls sich keine der beiden Seiten durchzusetzen vermag. Das so entstehende Gleichgewicht wäre allerdings sehr fragil und würde nur funktionieren, wenn die Zentralregierung den nicht-paschtunischen Ethnien eine weitgehende Autonomie zugestände.
c) Schließlich ist unter der Voraussetzung, daß keine Seite zum Sieg fähig ist, auch eine Teilung des Landes in zwei oder mehr kleinere Staaten möglich: etwa die Bildung eines usbekischen oder usbekisch-tadschikischen Staates im Norden und eines paschtunischen im Rest des Landes – wobei die Stellung der schiitischen Hazara und anderer Minderheiten ungeklärt bliebe. Dieses Szenario entspräche in gewissem Sinne der Formalisierung der gegenwärtigen Realitäten, und scheint damit realistischer als die beiden anderen.
In allen Fällen wird die zukünftige Entwicklung allerdings zum großen Teil davon abhängen, ob und in welchem Maße es den Taliban gelingen wird, ihre doktrinäre Ideologie und rigide und brutale Praxis zu mäßigen, und sich auf diese Weise wieder eine breitere soziale Basis zu verschaffen. Sie haben bereits bei einem großen Teil der Bevölkerung – auch der paschtunischen – ihren politischen Kredit verspielt, und damit ihrer Herrschaft einen Teil der Legitimation entzogen. Falls sie nicht einen integrativeren Kurs einschlagen werden, sind interne Auseinandersetzungen und Widerstand auch der Paschtunen bereits vorprogrammiert.
© Jochen Hippler
Afghanistan: Von der "Volksdemokratie" zur Herrschaft der Taliban,
in: Betz, Joachim / Brüne, Stefan (Hrsg.), Jahrbuch Dritte Welt 1998, München 1997, S. 165-184
siehe auch:
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Problems of Democracy and Nation-Building in Pakistan
Die “Kalaschnikow-Kultur” in Karachi
Kampf gegen Kinderarbeit in Pakistan mißbraucht: Der Fall Iqbal Masih
Karachi - Städtemoloch in Pakistan
und andere Texte zum Nahen und Mittleren Osten bzw. Islam
Jochen Hippler „Bis zum letzten Afghanen“ Hintergründe der USA-Politik gegenüber Afghanistan – geschrieben 1989 Mitte Februar 1989 sind die sowjetischen Truppen vereinbarungsgemäß und pünktlich aus Afghanistan abgezogen. Die völlige Fixierung der westlichen Medien auf die sowjetische Rolle im afghanischen Krieg hat für diesen Zeitpunkt zwei sehr irreführende Erwartungen erweckt: die Überzeugung, daß die Probleme des Landes und der Krieg hauptsächlich durch die sowjetische Intervention verursacht worden seien, legte den Schluß nahe, daß sie mit dem Abzug des sowjetischen Militärs nun im wesentlichen gelöst wären. Und die Behauptung, die Regierung in Kabul sei ausschließlich von der Sowjetunion militärisch an der Macht gehalten worden, implizierte, daß sie nun in allerkürzester Zeit zusammenbrechen müsse. Dementsprechend vertraten die Mudjahedin und die US-Regierung öffentlich auch immer wieder: Der Sturz der Regierung (auf Gesinnungsdeutsch: des »Regimes«) sei nur eine Frage von Tagen, höchstens Wochen. Das aber ist zu bezweifeln.
Der Krieg in Afghanistan hat ein doppeltes Gesicht: Es handelt sich um einen Konflikt, der seine Dynamik aus der afghanischen Geschichte und Innenpolitik bezieht, und zwar nicht nur aus den Entwicklungen des letzten Jahrzehnts. Der Kampf lokaler, stammesförmiger und politischökonomischer Interessen gegen Versuche einer staatlichen Zentralgewalt, das Land tatsächlich zu »regieren« und gar zu modernisieren, reicht lange zurück. Und er war fast immer erfolgreich. Dieser Widerstand gegen die Modernisierung und staatliche Durchorganisation des Landes beides genuin innerafghanische politische Strömungen, die weder in Moskau, noch in Washington erfunden werden mußten hat eine westliche (oder östliche) Modernisierung zwar verhindert, zugleich aber keine eigene, positive Perspektive oder Entwicklung hervorgebracht. Der innerafghanische Konflikt hatte schon gewaltsame Formen angenommen, lange bevor von »Sozialismus« in Afghanistan ernstlich geredet werden konnte. Die Versuche der Volksdemokratischen Partei Afghanistans (DVPA) seit dem April 1978, eine Modernisierung des Landes unter sozialistischen Vorzeichen nunmehr mit Zwang und Gewalt durchzusetzen, spitzten ihn schließlich dramatisch zu.
Gleichzeitig bietet Afghanistan ein Terrain für die Auseinandersetzung zwischen den Weltmächten USA und Sowjetunion, ein Terrain, auf dem eine sogenannte Regionalkrise forciert wird, in der das Land selbst nur eine Statistenrolle spielt. Und vor diesem Hintergrund ist in letzter Zeit oft behauptet worden, der sowjetische Truppenabzug als Folge der Genfer Verträge sei ein »Modell für die Beilegung anderer Regionalkrisen«. Nichts wäre weiter von der Realität entfernt.
Die sowjetische Intervention in Afghanistan war für das Land und für die Sowjetunion selbst eine Katastrophe. Sie hatte etwa 15.000 tote SowjetSoldaten zur Folge und ein Mehrfaches an Verletzten und dauerhaft Verkrüppelten. Der Unterhalt von 108.000 Soldaten über mehr als neun Jahre unter schwierigen logistischen und topographischen Bedingungen erwies sich als eine schwere militärische und vor allem auch wirtschaftliche Bürde, die die ökonomische Krise der Sowjetunion verstärkte. So wurde die dauerhafte Präsenz in Afghanistan zu einem politischen Problem, und zwar um so mehr, je deutlicher sich die Artikulationsmöglichkeiten für abweichende Meinungen ausweiteten. Je erfolgreicher Glasnost war, desto schwieriger wurde es, die Präsenz des sowjetischen Militärs in Afghanistan zu legitimieren.
Schließlich waren die außenpolitischen Kosten der Intervention beträchtlich:
Die Position der UdSSR in der Dritten Welt war auf Dauer geschwächt, insbesondere verschlechterten sich die Beziehungen zu den islamischen Staaten. Jedes Jahr verabschiedete die UN-Vollversammlung mit überwältigender Mehrheit Resolutionen (ca. 120 Länder stimmten zu), die die Intervention verurteilten und den Abzug der Truppen forderten. Eine Belastung der ökonomischpolitischen Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten Westeuropas und Nordamerikas kam hinzu. Da ein militärischer Sieg oder ein Erfolg nach dem Muster klassischer Counterinsurgency aussichtslos erschien, geriet die Sowjetunion zunehmend in den Zwang, sich aus dieser Lage lösen und nach Wegen eines Truppenabzugs suchen zu müssen, die den Schaden begrenzen würden.
Spätestens seit 1983, verstärkt nach dem Amtsantritt Gorbatschows, hat sich die Sowjetunion bemüht, sich mit den USA dahingehend zu verständigen, daß ein Truppenabzug dann erfolgen könnte, wenn die USA auf eine militärische Unterstützung der Mudjahedin verzichten würden. Zunächst sollten diese Offerten noch an eine Anerkennung und Bestandsgarantie der afghanischen Regierung gekoppelt werden, eine Bedingung, die bald aber nicht mehr ernsthaft gestellt wurde.
Die US-Regierung war sich bezüglich Afghanistans alles andere als einig: Eine Fraktion, die den Abzug der sowjetischen Truppen erreichen wollte, war bereit, gewisse Zugeständnisse zu machen, um ihrem Ziel näher zu kommen. Eine militantere Fraktion, die stärker im Pentagon und in der CIA als im Außenministerum verankert war, hatte anderes im Sinn: Ihr ging es darum, die Sowjetunion in Afghanistan »ausbluten« zu lassen. Noch 1986 wurde mir von einem hochrangigen Gesprächspartner aus dem Pentagon erklärt, die US-Regierung wolle gar keinen Truppenabzug der Sowjetunion. Die Sowjets hätten sich in eine unhaltbare und politisch wie militärisch kostspielige Lage gebracht, und es läge nicht im amerikanischen Interesse, sie daraus zu befreien. »Wir werden die Sowjets in Afghanistan festnageln und ausbluten lassen« und »Wir kämpfen bis zum letzten Afghanen« waren Formulierungen, die ebenso zynisch wie treffend die Politik der US-Administration beschrieben. Die militante Fraktion hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen durchgesetzt, und erst im Zuge der Verbesserung des Verhältnisses zwischen USA und Sowjetunion und dem Ausscheiden wichtiger »Falken« aus der Regierung (Casey, Weinberger, Perle, Ikle, u.a.) wurde sie wieder in den Hintergrund gedrängt.
Die USA betrieben und betreiben in Afghanistan eine der größten CIA-Operationen ihrer Geschichte. Sie ist auf jeden Fall die umfangreichste seit dem Vietnamkrieg, möglicherweise noch umfassender. Die Unterstützung der Contras gegen Nicaragua war dagegen eine relativ bescheidene Angelegenheit. Wichtiger Bestandteil der Operation bildete von Anfang an die psychologische Kriegführung (PSYOP), die die Wahrnehmung des Krieges in der Weltöffentlichkeit beeinflussen sollte und dies auch erfolgreich getan hat. Ziel war, den Krieg in Afghanistan als einen »guten Krieg« (in den Worten eines hohen Beamten der US-Regierung) zu verkaufen, in dem eine »Befreiungsbewegung« (die Mudjahedin) gegen fremde sowjetische Invasionstruppen kämpfte, um die Unabhängigkeit ihres Landes zurückzuerlangen. Die völkerrechtswidrige Intervention, die Bombardierungen aus der Luft und andere Praktiken des sowjetischen Militärs erleichterten diesen Versuch, den Krieg zum Kampf des Guten gegen das Böse zu stilisieren. Wie die Contras wurden auch die Mudjahedin zu »Freiheitskärnpfern« zurechtdefiniert. In Afghanistan ist es allerdings etwas schwerer, diese Darstellung als Propaganda zu erkennen. War es in Nicaragua von vornherein klar, daß es sich bei den Contras um eine von den USA kontrollierte Söldnertruppe ohne nennenswerte soziale Basis im Land handelte, so traf das auf die Mudjahedin nicht zu: Unabhängig von ihrer massiven Unterstützung durch die US-Regierung waren sie in Afghanistan verankert und ein Produkt innerafghanischer Widersprüche. In Afghanistan existierte also ein genuiner Widerstand gegen eine linke Regierung, und daneben gab und gibt es Gruppen, Organisationen und Parteien mit Söldnercharakter und einer entsprechenden Mentalität.
Die Mudjahedin als Organisation wurden nach Aussage des daran leitend beteiligten pakistanischen Generals Nasirullah Babar - 1973 von der pakistanischen Armee gegründet. Kurz zuvor hatte Pakistan den Krieg gegen Indien verloren (und in der Folge seine östliche Staatshälfte), in den Nachbarländern VR China und Sowjetunion schienen Veränderungen bevorzustehen, deren Auswirkungen man noch nicht absehen konnte. In dieser Situation sei dann auch noch König Zahir Shah im Nachbarland Afghanistan gestürzt worden, so daß dort eine längere Periode politischer Instabilität zu erwarten war. Aus strategischen Gründen, so der General im November letzten Jahres [das Gespräch fand im November 1988 in Peshawar statt; JH 2001], habe die pakistanische Armee daher entschieden, in allen Provinzen Afghanistans »eine militärische Option aufzubauen« nicht, um sofort Krieg zu führen, aber um für die Zukunft den eigenen Spielraum auszuweiten. So seien die Mudjahedin als organisierte und militärische Kraft entstanden, damals geführt von Rabbani, unter Mitarbeit von Hekmatyar, die beide noch heute eine führende Rolle spielen. Diese Organisation wurde vom pakistanischen Militär finanziert und bewaffnet »und funktionierte bis 1977 als Unterorganisation des (pakistanischen) militärischen Geheirndienstes«.
Mit dem Putsch General Zia Ul-Haqs wurde die Operation abgebrochen, »weil dieser den strategischen Charakter nicht verstanden« habe. Daraufhin spaltete sich die Organisation, da ihre unterschiedlichen Flügel nun zu verschiedenen Ländern und Geldgebern gingen, um sich zu finanzieren das Ergebnis sind die sieben Parteien, die heute in Peshawar residieren. Erst im Juli 1979 sei die Operation wieder systematisch aufgenommen worden, und zwar auf Drängen der CIA. Die CIA hat sich damals an die pakistanischen Militärs gewandt, um sich Beratung, Unterstützung und Kontakte zu verschaffen, die eine Fortsetzung der Mudjahedinoperationen erlauben würden. Diese CIA-gesteuerten Aktivitäten begannen (nach ersten, noch zaghaften Versuchen 1978) in der zweiten Jahreshälfte 1979 und wurden hinter dem Rücken des eigenen Außenministeriums durchgeführt. Im Verlauf der nächsten zwei oder drei Jahre ging der pakistanische Einfluß langsam zurück, im gleichen Maße, in dem sich das CIA-Engagement vergrößerte. Der Umfang der Unterstützung wuchs beträchtlich: Allein 1987 lag der Wert der Waffenlieferungen bei rund 700 Millionen Dollar, dazu kamen »zivile, humanitäre« Hilfe, gefälschte Banknoten, die den Mudjahedin einerseits lokale Währung verschafften und zugleich die afghanische Wirtschaft untergruben.
Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, in welchem Maße es den USA gelang, die Mudjahedin und insbesondere die Siebenerallianz in Peshawar als rundum positive »Freiheitskämpfer« zu verkaufen, die nur ihr Land von den sowjetischen Truppen befreien wollten. Schließlich hatten sie bereits vor der sowjetischen Intervention, Teile der Mudjahedin bereits vor der Regierungsübernahme durch die DVPA, einige Vorläufer sogar schon unter König Zahir Shah gekämpft, als weder der Antikommunismus, noch die Intervention als Legitimation zur Verfügung standen. Auch das entscheidende Engagement des pakistanischen Geheimdienstes und der CIA hinderten die amerikanische Administration und ihre Medien nicht, diese Kräfte zur »Nationalen Befreiungsbewegung« zu ernennen. Regelmäßige Massaker gerade jener Gruppen, die am massivsten mit US-Waffen und CIA-Geld ausgestattet wurden, waren nicht einmal ein ernstes Public-Relations-Problem. Massaker an Zivilisten, Häutung von Gefangenen, Vergewaltigungen, alle möglichen Arten von Greueltaten, beispielsweise bei der vorübergehenden Einnahme der Stadt Kunduz im letzten Sommer, konnten das glänzende Image der Mudjahedin und der Siebenerallianz nicht ankratzen. So war die massive Unterstützung dieser »Befreiungsbewegung« im Gegensatz etwa zur Unterstützung der nicaraguanischen Contras in der US- oder der Weltöffentlichkeit nie ein Problem. Der Kongreß bewilligte mehr als einmal mehr Geld für die Operation, als die CIA überhaupt wollte oder sinnvoll ausgeben konnte und die Regierung beantragt hatte. (Daß 60-70 Prozent der Gelder dann in dunklen Kanälen verschwanden oder viele Waffen gleich auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden, war nicht weiter bedeutsam.) Es wurde tatsächlich der »gute Krieg«, den man sich seit Vietnam gewünscht hatte.
Dieser wurde zunächst verdeckt, schrittweise aber immer offener geführt, insbesondere nachdem CIA-Direktor Casey im März 1981 die Ausdehnung der Operation angeordnet hatte. Dabei mußten Widerstände der pakistanischen Regierung überwunden werden. Die Rekrutierung hoher Militärs für die CIA etwa des Generals und Chefs der Militärischen Operationen, Mian Mohammad Afzal oder ein umfangreiches Paket militärischer und wirtschaftlicher Hilfe 3,2 Milliarden Dollar über 6 Jahre erwiesen sich hier als hilfreich, die von Reagan angebotene Stationierung US-amerikanischer Truppen in Pakistan lehnte Präsident und General Haq dagegen freundlich und bestimmt ab. Die daraufhin im Herbst 1981 zwischen Pakistan und den USA getroffene Übereinkunft legte Pakistan auf eine dauerhafte und nachdrückliche Unterstützung der Mudjahedin fest. Zugleich wurde eine detaillierte Absprache über die Logistik des Waffennachschubs getroffen: Die CIA transportierte ihr Arsenal nach Pakistan, den größten Teil per Schiff nach Karachi, die sensibleren Waffen per Flugzeug nach Peshawar. Dort übernahm die National Logistics Cell (NLC) des pakistanischen Geheimdienstes ISID (Interservice Intelligence Directorate). Die NLC war dann dafür zuständig, die Waffen ggf. nach Quetta oder Peshawar weiterzutransportieren und dort, unter Aufsicht der CIA, an die sieben lizensierten Mudjahedinparteien zu verteilen. Dabei wurden rund zwei Drittel an die fundamentalistische HisbiIslami des Islamistenführers Hekmatyar geliefert, deren militärische Kampfkraft die USA am höchsten einschätzten und die die pakistanische Regierung aus politischIdeologischen Gründen bevorzugte. (In letzter Zeit gibt es Hinweise dafür, daß die USA bestimmte interne Kommandanten stärker berücksichtigen möchten.) Ein Teil des Nachschubs wurde von der CIA vermutlich ohne Kenntnis der Bundesregierung über die BRD abgewickelt, insbesondere die sensibleren Güter, wie beispielsweise die technisch hochentwickelten StingerFlugabwehrraketen. C5 Transportflugzeuge aus den USA machten zu diesem Zweck nicht selten Stop im Rhein-Main-Gebiet, andere Waffen, etwa Tellerminen, wurden aus CIAEinrichtungen bei Stuttgart in den Oman geflogen und von dort per Schiff nach Karachi gebracht.
Die Regierungen Afghanistans, Pakistans, der Sowjetunion und der USA einigten sich darüber, daß 1. die sowjetischen Truppen innerhalb von neun Monaten aus Afghanistan abgezogen werden müßten, daß 2. die Unterstützung der Mudjahedin oder jede Politik, die als Unterstützung aufgefaßt werden könnte, sowie jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans oder Pakistans einzustellen seien, und daß 3. die Rückführung und Wiederansiedlung der Millionen Flüchtlinge gemeinsam in Angriff genommen werden sollte. Außerhalb der offiziellen VertragsVereinbarungen kam es zu einem informellen Gentlemen's Agreement zwischen den USA und der UdSSR, das eine Politik »positiver Symmetrie« beinhaltete, also das »Recht« der USA, die Mudjahedin weiter in dem Maße zu beliefern, in dem die Sowjetunion die afghanische Regierung unterstützte.
Die Reagan-Administration hatte seit Jahren erfolgreich versucht, ein derartiges Vertragspaket zu verhindern. Bereits 1982/83 und 1985/86 wären entsprechende Vereinbarungen und damit ein Abzug der sowjetischen Truppen möglich gewesen wie aus UNO-Vermittlerkreisen verlautete , wurden aber durch die US-Regierung torpediert, mal durch massiven Druck auf Pakistan, mal durch militante Erklärungen und eine Ausweitung eigener Waffenlieferungen. Erst die allmähliche Schwächung der »Ausbluter«-Fraktion in Washington und die allgemein sich entspannende internationale Lage im Zusammenhang mit den INF-Vertragsverhandlungen erlaubten es, 1988 doch einen entsprechenden Vertrag zu schließen. Allerdings: Eine grundsätzliche Umkehr der US-amerikanischen Politik war damit nicht verbunden. Außenminister Shultz erklärte anläßlich der Unterzeichnung der Genfer Abkommen, daß die USA natürlich auch weiterhin das »Recht« hätten, die Mudjahedin zu unterstützen und dies auch tun würden. Tatsächlich konnte von einer politischen Lösung des Konfliktes keine Rede sein, die Kämpfe flauten nicht ab, Waffenlieferungen wuchsen, statt sich zu verringern. Die CIA-Lieferungen an die Mudjahedin dürften 1988, im Vorgriff und als Reaktion auf die Genfer Abkommen, bei etwa 1,5 Milliarden Dollar gelegen haben, vermutlich eher noch darüber. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres wurden in aller Hast für rund 500 Millionen Dollar Waffen geliefert, aufgrund der Eile vermehrt über Frankfurt und Wiesbaden.
Es ist bemerkenswert, daß die US-Regierung auch nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen ihre Unterstützung der Mudjahedin nicht aufgegeben oder vermindert, sondern den Sturz der afghanischen Regierung zum Ziel erklärt hat. Damit wird noch einmal unterstrichen, daß der bloße Abzug der Sowjetunion nicht der Kern US-amerikanischer Afghanistanpolitik gewesen ist. Dies war bereits im August 1979 mit schöner Deutlichkeit in einem geheimen Bericht des US-Außenministeriums formuliert worden. Schon damals hieß es: »Der Sturz der Demokratischen Republik Afghanistan würde dem Rest der Welt zeigen, insbesondere der Dritten Welt, daß die sowjetische Sichtweise eines unvermeidbaren sozialistischen Ganges der Geschichte falsch ist«. Das war tatsächlich das zweite Hauptelement der US-amerikanischen Afghanistanpolitik: nach dem »Festnageln und Ausbluten« der UdSSR nun die Demonstration, daß sich linke Regierungen in der Dritten Welt auch durch ein Bündnis mit der Sowjetunion nicht absichern könnten, und daß die USA über die Mittel und die Entschlossenheit verfügten, unliebsame Revolutionen rückgängig zu machen.
Die Sowjetunion konnte dieser Politik nicht sonderlich viel entgegensetzen. Sie hatte sich in politischer und militärischer Fehleinschätzung der Lage in diese Situation selbst hineinmanöviert. Sie konnte den Krieg nicht gewinnen, und eine politische Stabilisierung der Demokratischen Volkspartei und ihrer Regierung war ihr mißglückt. Interne Auseinandersetzungen bis hin zu Schießereien im Politbüro der DVPA unterstrichen dies. Die Versuche, über eine Politik der Nationalen Aussöhnung oder diskrete Kontakte zu Mudjahedinführern eine breite Koalition zustande zu bringen, hatten daran nichts geändert. Mit dem Beginn des Truppenrückzuges verlor die Sowjetunion zunehmend an Verhandlungsstärke, da sie immer weniger anzubieten hatte. Als Pakistan und die USA offen die Genfer Verträge und sogar die »Politik positiver Symmetrie« verletzten, konnte sie kaum etwas dagegen tun, außer zu protestieren. Ihre Reaktion bestand in hektischer Verhandlungsdiplomatie, die aber zu spät kam, in offensichtlich hilflosen Drohgebärden und in einer zeitlich begrenzten militärischen Eskalation durch Einführung von Scud-Raketen und MiG 27-Bomber, die allerdings militärisch praktisch bedeutungslos waren. Die einzige Alternative wäre ein Abbruch des Truppenrückzugs gewesen, und dieser war weder politisch realistisch, noch bot er irgendeine Perspektive.
In der Tat war die CIA-Operation in Afghanistan nicht nur eine der größten Geheimdienstaktionen der Geschichte, sondern auch eine der erfolgreichsten. Der US-Regierung war es gelungen, die Sowjetunion weit länger und unter höheren Kosten in Afghanistan festzunageln als diese es sich hätte träumen lassen. Der US-Regierung war es gelungen, im Unterschied zu ihrem Engagement in Nicaragua die Politik geheimer Kriegführung in der eigenen Öffentlichkeit und in den westlichen Medien populär und unterstützenswert erscheinen zu lassen. Damit hat sie Dämme gegen weitere »verdeckte Aktionen« in anderen Ländern (etwa Angola) gebrochen. Und der US-Regierung war es schließlich gelungen, die Sowjetunion in eine Position politischer und militärischer Hilflosigkeit hineinzumanövrieren, die praktisch in einem Rückzug um jeden Preis enden mußte.
In der Öffentlichkeit wird der sowjetische Truppenabzug nicht selten als »Modell« für die Lösung weiterer Regionalkrisen begriffen. Das ist entweder Wunschdenken die Sowjetunion wird nicht überall so in die Mangel genommen werden können, daß sie die Kosten begrenzen und aufgeben muß. Oder es ist unsinnig, dann nämlich, wenn man glaubt, »Diplomatie und friedliche Konfliktlösung« hätten den Truppenabzug bewirkt, den Krieg nunmehr beendet, den Konflikt gelöst. Im Zuge des nicht stattfindenden Friedensprozesses ist der Krieg eskaliert worden, und die Supermacht USA hat sich im wesentlichen durchgesetzt vorläufig. Der Krieg ist nicht durch den vorausgesagten »Zusammenbruch des Kabuler Regimes« beendet worden, und wird wohl noch einige Zeit weitergehen. Ein Scheitern der Regierung an ihren inneren Widersprüchen ist nicht auszuschließen, aber ein Zerfall der Mudjahedin-Allianzen und ein Krieg zwischen deren Bestandteilen ebensowenig. Die Libanonisierung Afghanistans ist nicht unwahrscheinlich, weil, unabhängig davon, wie lange der Krieg noch dauern und wer ihn gewinnen wird, keine politische Kraft in der Lage sein dürfte, das ganze Land (oder zumindest seinen größten Teil) zu kontrollieren. Das ist die Folge sowohl der Fragmentierung der afghanischen Gesellschaft als auch der Politiken der Sowjetunion und der USA (von der VR China, Saudi Arabien und dem Iran zu schweigen).
Gegenwärtig müht sich die CIA, eine Vereinheitlichung der Mudjahedin zustande zu bekommen, deren Allianz nur durch den gemeinsamen Kampf gegen die Sowjetunion und durch Pressionen Pakistans und der USA zusammengehalten wurde und noch wird. Zugleich arbeitet sie daran, den erhofften »Übergang« möglichst schnell und problemlos zu organisieren. Ein »Sturm auf Kabul« erscheint momentan weder politisch attraktiv, noch militärisch sonderlich vielversprechend. Daher soll versucht werden, die Regierung von innen zum Einsturz zu bringen, entweder durch die Organisierung von Aufständen der städtischen Bevölkerung in der Hauptstadt, oder durch eine Spaltung der Armee und einen Putsch, in dessen Verlauf einem Teil der Militärs eine Amnestie angeboten werden soll.
Quelle:
„Bis zum letzten Afghanen ..." siehe auch:
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US-Völkerrechtler
"Dieser Krieg ist illegal"
Der renommierte amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle wirft der US-Regierung vor, mit den Angriffen auf
Afghanistan gegen die
Resolution des Uno-Sicherheitsrates zu verstoßen. Selbst wenn es Beweise für Bin Ladens Schuld gäbe, müsste
Bush nach dem
Völkerrecht mit den Taliban über eine Auslieferung verhandeln, sagt Boyle im Interview mit SPIEGEL ONLINE.
SPIEGEL ONLINE: Herr Boyle, ist das bestehende Völkerrecht überhaupt in der Lage, Anschläge wie die auf
New York und
Washington zu beurteilen?
Boyle: Auf jeden Fall. Die Angriffe haben eindeutig die Montreal-Konvention von 1971 zur Bekämpfung
widerrechtlicher
Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt verletzt, die sowohl die USA als auch Afghanistan sowie
über 150 andere
Staaten unterzeichnet haben. Dieses Abkommen bietet einen exzellenten juristischen Rahmen, um auf diese
Anschläge zu
reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Verträge klingen immer gut. Aber brauchen wir nicht - angesichts dieser
neuen Dimension des Terrors - eine internationale Organisation zu Bekämpfung des Terrorismus?
Boyle: Ich würde nicht von einer neuen Dimension sprechen. Dieses Problem gibt es seit den
sechziger Jahren. Neu ist nur die große Zahl der Opfer in den USA. Diese Zahl ist ohne Zweifel
schrecklich. Aber das Völkerrecht kommt mit solchen Anschlägen zurecht - vorausgesetzt die
Regierungen stufen sie als terroristische Aktionen ein. Wenn wir sie dagegen als Kriegsakt
bezeichnen, geben wir Kriminellen eine Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde.
SPIEGEL ONLINE: US-Präsident George W. Bush hat die Anschläge als "Akt des Krieges" bezeichnet und nicht
als Terror-Aktion.
Boyle: Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im amerikanischen Gesetz definiert sind.
SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die Definition eines terroristischen Aktes?
Boyle: Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt gegen zivile Objekte oder gegen Zivilisten
ausüben mit der
Absicht, die Bevölkerung oder die Regierung in Angst zu versetzen.
SPIEGEL ONLINE: Aber im Völkerrecht gibt es eine solche Definition nicht.
Boyle: Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber die internationale Gemeinschaft hat sich darauf
verständigt,
dass terroristische Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen eingestuft werden sollen. Neben der
Montreal-Konvention
gibt es zum Beispiel das "Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus" von 1999 und die
"Konvention gegen
Geiselnahme" aus dem Jahr 1979.
Ist die Vergeltung in dieser Form gerechtfertigt? Diskutieren Sie mit anderen SPIEGEL-ONLINE-Usern!
SPIEGEL ONLINE: Warum hat Bush die Anschläge dann als kriegerischen Akt gewertet?
Boyle: Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch terroristische Akte. Dadurch unterlägen
sie der Durchsetzung
nationalen und internationalen Rechts. So wurde auch der Anschlag in Oklahoma behandelt, den
Timothy McVeigh 1995
verübte. Genauso eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US- Botschaften in Kenia
und Tansania. Aber
nach Beratung mit Außenminister Powell entschied Bush, die Anschläge einen "Act of War" zu
nennen und mit militärischen
Mitteln zu reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Aber der amerikanische Kongress hat dem zugestimmt!
Boyle: Ja, leider. Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die Anschläge mit dem japanischen
Angriff auf Pearl Harbor
im Jahre 1941 gleichgesetzt hatte, schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und autorisierte
ihn, militärische Mittel
einzusetzen. Diese Resolution war sogar schlimmer als die Tonkin Gulf Resolution, die Präsident
Johnson 1964 erwirkte, um
den Krieg in Vietnam zu führen.
SPIEGEL ONLINE: Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat Bush freie Hand gegeben.
Boyle: Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats vom 12. September sprach von einem
terroristischen
Anschlag. Es war nie die Rede von einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel 51 der Uno-Charta zum
Tragen
gekommen...
SPIEGEL ONLINE: ...der jedem Staat das Recht auf Selbstverteidigung einräumt.
Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für militärische Gewalt zu bekommen und scheiterte. Er wollte vom
Sicherheitsrat
eine ähnliche Resolution bekommen wie sein Vater im Golfkrieg. Bush senior wurde damals ermächtigt, zur
Vertreibung
des Iraks aus Kuweit "alle notwendigen Mittel" zu benutzen. Am 28. September scheiterte Bush erneut. Am 7.
Oktober
schickte dann der amerikanische Botschafter bei der Uno, John Negroponte, einen Brief an den Sicherheitsrat,
der
mitteilte, dass die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig kein
Fall von
Selbstverteidigung. Nach den Regeln des Völkerrechts ist dieser Krieg illegal.
SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?
Boyle: Es gibt keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan die Anschläge in New York autorisierte
oder billigte. Die
Angriffe auf Afghanistan sind bestenfalls Vergeltung.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch wohl Beweise, dass Bin Laden die Anschläge in Auftrag gegeben hat. Und
er handelte
schließlich von afghanischem Territorium aus.
Boyle: Dafür gibt es keinen Beleg. Außenminister Powell versprach ein so genanntes "White Paper", in dem er die Beweise
darlegen würde. Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der "New York Times" sagte Powell, dass
es gegen Bin
Laden nicht einmal Indizien gebe. Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen Strafgericht
standhalten würde.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Nato-Staaten haben die Unterrichtung durch den Sondergesandten Taylor als
Beweis akzeptiert.
Boyle: Nach Aussage eines westlichen Diplomaten legte Taylor in der Sitzung des Nato-Rates keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die Anschläge anordnete oder die Taliban davon wussten. Beweise waren auch nicht wichtig, weil sich
Bush ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber spielt das denn eine Rolle? Der Nato-Rat akzeptierte den US-Bericht und rief den
Bündnisfall aus.
Boyle: Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die Allianz wurde gegründet, um Europa
gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen. Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war die Existenzgrundlage der Nato
verschwunden. Bush senior brachte den Nato-Rat dazu, zwei neuen Legitimationsgründen für die
Nato zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine Art Polizei in Osteuropa dienen. Andererseits sollte sie als
Interventions-Truppe im Nahen Ostenfungieren, um Ölreserven zu schützen.
SPIEGEL ONLINE: Aber beim Washingtoner Gipfel 1999 schlossen die Nato-Mitgliedsländer auch den Kampf gegen den Terrorismus in ihre Ziele ein.
Boyle: Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der Vertrag wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta geschlossen. Also kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines bewaffneten
Angriffs eines Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb hatte die Nato auch kein Recht, Jugoslawien zu bombardieren, weil Serbien die Nato vorher nicht angegriffen hatte.
SPIEGEL ONLINE: Wie hätte denn die US-Regierung reagieren sollen?
Boyle: Sie hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen im
Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch mit den Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen der
Anschläge auf die US-Botschaften in Afrika und wegen der inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter. Die Taliban waren damals bereit, Bin Laden an ein
islamisches Land auszuliefern und auf Basis der islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten sie weitere Konzessionen: Bin
Laden könnte an ein neutrales Land ausgeliefert werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem islamischen
Gerichtsverfahren, forderten aber
Beweise. Die Taliban haben sich an die Anforderungen des internationalen Rechts gehalten, Bush leider nicht.
SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Angebote der Taliban ernst gemeint waren?
Boyle: Wie gesagt: Vor dem 11. September haben die USA auch mit den Taliban verhandelt. Und 1996 schickte
Präsident Bill
Clinton einen Diplomaten nach Afghanistan um über die Anerkennung der Taliban-Regierung zu verhandeln.
SPIEGEL ONLINE: Wenn das Völkerrecht so eindeutig ist - warum ignorieren die Vereinigten Staaten es dann?
Boyle: Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11. September für einen Krieg gegen Afghanistan
entschieden
hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber mit welchem Ziel?
Boyle: Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die zweitgrößten nach denen im Persischen Golf. Nach
dem Kollaps der
Sowjetunion nahm die US-Regierung sofort diplomatische Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten auf.
Politiker wie der
ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten, dass die Ölfelder Zentralasiens zum vitalen
Interesse der
Vereinigten Staaten gehören...
SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische Ölgesellschaft Unocal verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline
aus
Zentralasien durch Afghanistan nach Pakistan...
Boyle: Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch Russland oder Iran laufen würde. Die
billigste und einfachste Route läuft durch
Afghanistan. Außerdem gibt es dort selbst auch Ölreserven. Öl und Gas sind die wahren Interessen der
US-Regierung, nicht Bin Laden.
Das Interview führte Christoph Schult.
In SPIEGEL ONLINE:
Essay von Arundhati Roy: Krieg ist Frieden
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,165236,00.html
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Dubai: CIA-Agent soll Bin Laden im Juli getroffen haben
http://www.spiegel.de/politik/europa/0,1518,165351,00.html
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Terror-Prävention: Flugraum über Atomkraftwerken in den USA gesperrt
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,165339,00.html
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US-Regierung: Bin Laden plant weiteren Anschlag
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,165307,00.html
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SPIEGEL-ONLINE-Debatte: Wohin führt dieser Krieg?
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,162897,00.html
Im Internet:
Die UNO-Abkommen gegen den Terrorismus
http://www.uno.de/frieden/terrorismus/flyer.htm
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Die Charta der Uno (Artikel 51)
http://www.uno.de/charta/charta.htm#7
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Die Uno-Resolution vom 12. September 2001 (pdf-Datei)
http://www.un.org/Docs/scres/2001/res1368e.pdf
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Die Uno-Resolution vom 28. September 2001 (pdf-Datei)
http://www.un.org/Docs/scres/2001/res1373e.pdf
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Die Uno-Resolution gegen den Irak 1990 (pdf-Datei)
http://www.un.org/Docs/scres/1990/660e.pdf
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Vietnam: Die Kriegsresolution im Original
http://www.congresslink.org/lessonplans/Gulf.jpg
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Homepage von Francis Boyle
http://194.109.221.180/francisboyle/