Das Ende der Menschlichkeit
Der Weg in den Krieg und zum Genozid 
 
Von Prof. Dr. Dietrich Eichholtz 
 
Es gibt Historiker, deutsche und ausländische, die behaupten, die Hitler-Regierung sei bis zum Krieg, jedenfalls bis 1938, eine normale europäische Regierung gewesen; sie habe Deutschland mit durchaus zu akzeptierenden Mitteln »national befreien« (Ernst Nolte) und wieder zu Größe und Ansehen führen wollen. Was für eine Fehlleistung, was für eine schändliche Täuschung des Publikums!
Seit dem 30. Januar 1933 fiel diese Regierung – ganz abgesehen von der rassistischen Verfolgung von Juden – mit blutigem Terror über Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Pazifisten, alle Antifaschisten her. Vom ersten Tage an bereitete sie jenen Revanche- und Eroberungskrieg großen Maßstabs vor, über den Hitler schon oft genug mit aller wünschenswerten Offenheit geredet und geschrieben hatte. Der »Führer« war sich hierin einig nicht nur mit dem engeren Kreis seiner Paladine, willigen und skrupellosen Erfüllungsgehilfen, sondern vor allem auch mit der Crème der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten. Ihre schon früh gestellten Forderungen waren jetzt Regierungsprogramm: Beseitigung der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften und der von ihnen erkämpften sozialen und demokratischen Errungenschaften, Auslöschung der Niederlage im Weltkrieg 1914-1918, Vorbereitung eines erneuten »Griffs nach der Weltmacht«.
Am 3. Februar 1933, vier Tage nach seiner Ernennung, legte der neue Reichskanzler vor der Reichswehrgeneralität die Marschroute für die künftige rabiate Aufrüstungs- und Außenpolitik dar: Erst die »Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel« und der »Aufbau der Wehrmacht«, dann die »Eroberung neuen Lebensraumes im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung«. Im »Ostraum«, aber auch im übrigen Europa und in einem erweiterten deutschen Kolonialreich hatten die Militärs und die Wirtschaftsbosse schon seit langem die Ziele eines neuen Krieges ausgemacht. Sie wussten allerdings, besser als Hitler, dass Deutschland vorläufig für einen modernen Krieg selbst nur begrenzten Umfangs nicht gerüstet war. Aber die Diktatur machte ihnen außen- und innenpolitisch den Weg zur Hochrüstung frei. So entstand in wenigen Jahren ein stark motorisiertes Massenheer, fast aus dem Nichts eine bedrohliche Luftwaffe und eine Über- und Unterwasserstreitmacht, die der britischen Flotte standhalten sollte.
Der Eindruck, der später aufkam, nämlich dass ganz Deutschland begeistert Hitler in den verbrecherischen Krieg gefolgt sei, ist falsch. Was die Masse der arbeitenden Bevölkerung betraf, so war sie freilich gefügig gemacht worden. Ein erheblicher Teil hing sogar gläubig dem falschen Führer und Propheten an. Nicht nur der Terror hatte sie eingefangen, der jeden Nichtangepassten bedrohte. Es war der wirtschaftliche Aufschwung, das heißt die Rüstungskonjunktur, die die Arbeitslosen zur Arbeit oder in die Armee holte; es waren die außenpolitischen Erfolge des von kurzsichtigen ausländischen Politikern geförderten Hitler; es war die gefährliche Propaganda, das Geschrei von der »Volksgemeinschaft« und von dem deutschen Anspruch auf »Weltgeltung«, das zugleich Feindbilder prägte: Juden, »Bolschewiken«, »Plutokraten«. Ungezählte Handlanger, Denunzianten, Mordgehilfen rekrutierte der Faschismus aus dem Bodensatz der Gesellschaft. Verblendung, Dummheit und Verrohung nahmen schrecklich zu. Aber falsch bleibt es zu glauben, dass die breite Bevölkerung auch nur die geringste Lust auf Krieg hatte, geschweige denn auf einen großen, risikoreichen.
Das war ganz anders bei jenen, die Hitler die Mittel zum Kriegführen schufen: die Militärs, das große Kapital und die Diplomatie. Seit 1938, nach der Annexion Österreichs und des Sudetengebiets, als die letzten Skeptiker in diesen Kreisen verstummt oder kaltgestellt worden waren, beschäftigten sich alle mit Kriegszielen: mit dem Erdöl Galiziens und des Kaukasus, der Kornkammer der Ukraine, mit einem riesigen subsaharischen Kolonialreich, mit der Zwangsarbeit fremder Völker im »Großwirtschaftsraum«. Nicht einmal sehr geheim ging es dabei zu, so dass auch ein Ausländer wie der prominente Schweizer Diplomat Carl J. Burckhardt in Berlin interessante Unterhaltungen hatte (Dezember 1938): »Beiläufig, aber wiederholt sprach man von der Ukraine, sogar von Baku! was mir vom geographischen Standpunkt aus ziemlich verwegen erscheint...« Und 1940, nach dem Sieg in Westeuropa, tauchten dann auf einmal jene monströsen »Neuordnungs«- und Weltherrschaftspläne der Großkonzerne und der großen Industrieverbände auf, die offenbar schon seit den Jahren des Ersten Weltkrieges in den Schubladen geschmort hatten und jetzt in Eile auf den neuesten Stand gebracht worden waren.
Rassismus und Antisemitismus gehörten zur geistigen Aufrüstung und zur psychologischen Kriegführung ebenso wie Antikommunismus und Antibolschewismus. Aus dem Wust dieser und anderer reaktionärer Ideenkonstrukte und Konzepte hatten Hitler und seine Ko-Ideologen ihre Völkermordkonzeption destilliert. Der »Kampf gegen die jüdische Weltbolschewisierung« und die Verdrängung und Vernichtung von »minderwertigen Rassen« und Völkern waren bei Hitler stets verschränkt mit der Gewinnung von »Lebensraum«, mit dem Kampf um »Ölfelder, Gummi, Erdschätze usw.« (23. 11. 1939).
Die »Rassenkriegs«ideologie hatte also den Effekt, das Volk für den Krieg um »Lebensraum«, das heißt für imperialistische Ziele, reifzumachen und zu disziplinieren. Auch für ihre Urheber selbst begründete sie den höheren Sinn des Krieges und der Kriegsverbrechen als Kampf der überlegenen »Herrenrasse« gegen »niedere Rassen«. Rassenideologie und Vernichtungspolitik hatten ferner einen durchaus rationalen Kern: die dauernde »Sicherung« (ein Lieblingsbegriff der NS- und militärischen Führung) der zu erobernden Herrschaftsgebiete gegen jeglichen realen oder potenziellen Widerstand der Unterdrückten. Und so sah das Endresultat jenes 30. Januar 1933 zwölf Jahre später aus: Fast vierzig Millionen Tote in Europa (ohne Vermisste), Brand- und Schädelstätten tausendfach; allein zehn Millionen wehrlose Ermordete, darunter ganze Völker und »Rassen« mitsamt Frauen und Kindern. Niemand wird je die Zahl der Umgebrachten exakt bestimmen können.
Aber von den größten Verbrechen sind Zahlen bekannt: Fünf bis sechs Millionen Juden sind umgebracht worden, davon die Hälfte in den Vernichtungslagern, über eine Million in der UdSSR, eine Million in den Konzentrationslagern und bei der Zwangsarbeit, 700000 in fahrbaren Gaswagen. Sinti und Roma wurden in Deutschland und im ganzen besetzten Europa systematisch umgebracht. Ihre Gesamtzahl ist unsicher, liegt wahrscheinlich über 500000. Von insgesamt 5,6 bis 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind 3,3 Millionen in deutschen Kriegsgefangenenlagern, KZ- und Arbeitslagern umgekommen, wenn nicht direkt ermordet, dann durch Hunger und Krankheit. Schwer zu beziffern sind die Morde an jenen sowjetischen Zivilisten, die SS und Wehrmacht bei ihren Vernichtungsaktionen gegen die Partisanen umgebracht haben. Jedenfalls geht ihre Zahl in die Hunderttausende. Himmlers oberster »Banden«bekämpfer, SS-Obergruppenführer von dem Bach, erklärte später vor Gericht, »dass der Kampf gegen die Partisanenbewegung ein Vorwand für die Ausrottung der slawischen und jüdischen Bevölkerung war«. Die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht forderte etwa 700000 zivile Opfer in der Stadt, die an Hunger und Kälte zu Grunde gingen. Die Bevölkerung der sowjetischen Millionenstädte auszuhungern oder anders zu vernichten, war ein Grundbestandteil der Strategie Hitlers und der Wehrmachtsführung. Ihre Liquidierung sollte, so Hitler, eine »Volkskatastrophe« auslösen, »die nicht nur den Bolschewismus, sondern auch das Moskowitertum der Zentren beraubt«. In Stalingrad wäre, nach Einnahme der Stadt, »die gesamte männliche Bevölkerung beseitigt«, die übrige zur Zwangsarbeit abtransportiert worden. Hinzu kommen die »Euthanasie«-Opfer, in Deutschland etwa 190000, wahrscheinlich einige hunderttausend erschossener Widerstandskämpfer und Geiseln im besetzten Europa, die »Sühne«morde an ganzen Dorfeinwohnerschaften in Griechenland, Frankreich und anderswo – und nicht zuletzt die deutschen Nazigegner, die unter den allerersten und unter den letzten Opfern waren

 

 

 

In Neonazikreisen versucht man häufig, viele Verbrechen der SS und der Wehrmacht mit der "Haager Landkriegsordnung" zu rechtfertigen. Man sagt dort z.B.: Einzelmorde, Massaker und massenhafte Geiselerschiessungen von Unschuldigen, von Verdächtigen und von Kriegsgefangenen wären durch Verstöße des Gegners gegen die Haager Landkriegsordnung gerechtfertigt. Man unterschlägt dabei jedoch, daß die Sowjetunion die Haager Landkriegsordnung nicht unterzeichnet hatte und die Nazis damit auf dem Gebiet der Sowjetunion zu keinen solchen Praktiken wie Geiselerschiessungen, Abschreckungsmassnahmen, usw. hätten greifen dürfen und die Nazis selbst häufig die Landkriegsordnung verstießen, auf die sie sich beriefen. Völlig willkürlich und selektiv handhabten die Nazis das damalige Kriegsrecht, ebenso willkürlich mißbrauchen es die Neonazis für Rechtfertigungen der Kriegsverbrechen. Für eine andere Art der Rechtfertigung nutzen die Neonazis gerade den Fakt, daß die UdSSR der Haager Landkriegsordnung und dem Genfer Abkommen für Kriegsgefangene nicht beigetreten war, wodurch dann als rechtens unterstellt wird, daß Hitlerdeutschland im Krieg gegen die UdSSR zu deren Einhaltung nicht verpflichtet war.

Verfälscht wird dabei, daß der am 1. September 1939 begonnene Krieg auch vor dem 22. Juni 1941 kein völkerrechtskonformer »Normalkrieg« war, sondern bereits am ersten Tag mit Kriegsverbrechen begann, nämlich mit der Bombardierung der offenen Stadt Warschau. Verschwiegen wird, daß die UdSSR-Regierung erklärte, sie wollte sich, obwohl den genannten Abkommen bisher nicht beigetreten, sehr wohl an sie halten.

Auch in den übrigen besetzten Ländern, die diese Landkriegsordnung unterzeichnet hatten, gingen die Verstöße gegen diese und andere Ordnungen und Gesetze zuerst immer von der SS und Wehrmacht aus.

Der Bruch von nationalen und internationalen Gesetzen und Verträgen durch Hitlerdeutschland begann schon lange vor dem Bruch des Nichtangriffsvertrages mit der UdSSR ,lange vor 1941. Beispiele sind:

++ der vielfache Bruch des Versailler Vertrages,
++Anzünden des Reichstages und der darauffolgende Terror durch die SA und
NSDAP
++ der Bruch des Münchner Abkommens (durch die Annexion der gesamten
Tschecheslowakei,
++Annexion Österreichs,
++Bombardierung von Warschau, seit 1939 bis 1945 wurden dann 20 % bis 25 %
der polnischen Bevölkerung umgebracht
++ethnische Säuberungen in ganz Europa,
++ alle europäischen Kriege zwischen 1914 und 1945 sind von Deutschland,
Österreich und Italien ausgegangen und stellen schon an sich einen Bruch
internationalen Rechts dar,
++ der Bruch der Haager Landkriegsordnung durch Bombenterror zuerst auf
die spanische Republik (Guernica) und später auf andere Länder (Coventry,London,Warschau, u.a.),
++ der Bruch der Haager Landkriegsordnung und anderer Verträge und Gesetze
durch Massenmorde, unmenschliche Maßnahmen und Massaker innerhalb und
ausserhalb von Deutschland an politisch Andersdenkenden, Kriegsgegnern ,
Kriegsdienstverweigerern, SPD und KPD-Mitgliedern, Gewerkschaftern,
politischen Funktionären, an der geistigen Führungsschicht annektierter Länder, an Kranken, Behinderten, an Homosexuellen, an Sinti, Roma, Juden, an rassisch Verfemten und "nichtarischen" Völkern ("Untermenschen"), an Kriegsgefangenen usw. ,
++Landfriedensbruch gegen die annektierten Länder,
++der völkerrechtswidrige Barbarossa-Befehl Hitler, der
völkerrechtswidrige und kriegsrechtswidrige Kommissarsbefehl
(Kommunistenbefehl) Hitlers,
++völkerrechtswidrige Verordnungen,Weisungen z.B. gibt es einen Vermerk
über Ausführungen des Reichsmarschalls Göring vom 24. September 1942, nach
denen die"Ostlegionäre"(Einheiten aus Kollaborateuren) in den ihnen
zugewiesenen Gebieten morden, brennen und schänden durften;
++millionenfacher Hausfriedensbruch in den annektierten Ländern,
++Bruch zahlreicher Landesgesetze in den annektierten Staaten (z.B.
Entführung, Verschleppung, Geiselnahme, Zwangsarbeit, Enteignungen,
absichtliches Verhungernlassen von Städten und Dörfern, Diebstahl, Raub
("Requirieren", "Beschlagnahme"), massenhafte Sachbeschädigung, "verbrannte
Erde", Plünderungen, Folterung, biologische Experimente, Verstümmelung,
grausame und unmenschliche Behandlung, Morde, Massenmord, Vergewaltigungen,
Vertreibungen ("Umsiedlungen",Deportation,Ghettos)),
++zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht in
den KZs;
++Die Haager Landkriegsordnung verbot kategorisch den
Zwangsarbeitereinsatz von Zivilpersonen aus eroberten Gebieten. Die
Zwangarbeit durch die Hitlerfaschisten war systematisches Unrecht, die
Anschläge auf das Leben der Zwangsarbeiter ein Verbrechen
(Allein aus der Ukraine wurden über zwei Millionen Menschen als
Zwangsarbeiter ins Reich transportiert.);
++Zwangsabtreibungen bei Zwangsarbeitern, Trennung der Kinder von ihren
Eltern, zwangsweise Kinderarbeit, Massenmorde an Kindern und Frauen in
KZs und ausserhalb in den annektierten Staaten und in Deutschland;
++Bruch aller Religionsgesetze der katholischen und evangelischen und
orthodoxen Kirchen;
....

Man sieht, wer mit unzähligen Gesetzesbrüchen und Vertragsbrüchen begonnen und gewütet hat- die Hitlerfaschisten, in allen Ländern in denen sie waren und nicht zuletzt auch in Deutschland selbst, wo sie mit ihren Gesetzesbrüchen begannen

Ebenso hat ja auch die BRD nach 1990 zahlreiche Verträge, Abkommen und Gesetze gebrochen beim Krieg gegen

Jugoslawien, Afghanistan, hat den Einigungsvertrag und den 2+4 Vertrag mehrfach gebrochen(z.B."von deutschem Boden geht kein Krieg mehr aus"), den

UNO-Vertrag, die Genfer Konvention, das Potsdamer Abkommen, den NATO-Vertrag, das Völkerrecht, das eigene Grundgesetz und Strafgesetz, und nicht zuletzt die Haager Landkriegsordnung (z.B. in Jugoslawien durch

Bombenterror auf Zivilisten und Städte und zivile Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Kraftwerke, Wasserversorgung, Stromversorgung, zivile Radio- und Fernsehstationen, Unterstützung von Terroristen, radioaktive Geschosse("schmutzige Bomben"),Streubomben, Splitterbomben, ...; in Afghanistan durch die KSK-Todeskommandos, ...).

 

Aktennotiz über eine Besprechung der Hitlerschen Staatssekretäre vom 2.5.1941
1. Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird.
2. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.
3. Am wichtigsten ist die Bergung und Abtransport von Ölsaaten, Ölkuchen, dann erst Getreide. Das vorhandene Fett und Fleisch wird voraussichtlich die Truppe verbrauchen.
4. Die Beschäftigung der Industrie darf nur auf Mangelgebieten wieder aufgenommen werden, z.B. die Werke für Verkehrsmittel, die Werke für allgemeine Versorgungsanlagen (Eisen), die Werke für Textilien, von Rüstungsbetrieben nur solche, bei denen in Deutschland Engpässe bestehen."

Quelle:
Ueberschär Gerd R. u. Wolfram Wette (Hg.): "Unternehmen Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente. Paderborn 1984, S. 377 (Aktennotiz) u. S. 387 ff. (Richtlinien).

 

Hitlers Vorgaben zum Vernichtungskrieg

Notizen von Generaloberst Halder aus Hitlers Ansprache vom 30.3.1941 vor 250 Generälen und hohen Offizieren:
"Unsere Aufgaben gegenüber Rußland: Wehrmacht zerschlagen, Staat auflösen (...) Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf (...) Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz."

Quelle:
Halder, Generaloberst (Franz): Kriegstagebuch. Tägliche Aufzeichnungen des Chefs des Generalstabes des Heeres 1939-1942.
Bd. 1-3, Stuttgart 1962-64, hier Bd. 2, S. 335 ff.

 
"Lebensraum" im Osten

Hitler in "Mein Kampf" 1925/26:
"Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Zur Weltmacht aber braucht es jene Größe, die ihm in der heutigen Zeit die notwendige Bedeutung und seinen Bürgern das Leben gibt. Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Rußland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volk jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte."
Quelle:
Hitler, Adolf: Mein Kampf. Bd. 2. 25./26. Aufl. München 1933, S. 742. - Hitler hat den 1. Band von "Mein Kampf" während seiner Landsberger Haft (1924) geschrieben und den 2. Band 1926 abgeschlossen.

 

Wirtschafts- und Hungerpolitik


Aus Görings wirtschaftspolitischen Richtlinien vom 8.11.1941:
"Auf lange Sicht gesehen werden die neubesetzten Ostgebiete unter kolonialen Gesichtspunkten und mit kolonialen Methoden wirtschaftlich ausgenutzt. Das Schwergewicht aller wirtschaftlichen Arbeit liegt bei der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion. Durch billige Produktion unter Aufrechterhaltung des niedrigen Lebensstandards der einheimischen Bevölkerung sind möglichst hohe Produktionsüberschüsse zur Versorgung des Reiches und der übrigen europäischen Länder zu erzielen. Auf diese Weise soll neben möglichst weitgehender Deckung des europäischen Nahrungsmittel- und Rohstoffbedarfs gleichzeitig für das Reich eine Einnahmequelle erschlossen werden, die es ermöglicht, einen wesentlichen Teil der zur Finanzierung des Krieges aufgenommenen Schulden unter möglichster Schonung des deutschen Steuerzahlers in wenigen Jahrzehnten abzudecken (...) Versorgung der Bevölkerung: (...) Die städtische Bevölkerung kann nur ganz geringfügige Lebensmittelmengen erhalten. Für die Großstädte (Moskau, Leningrad, Kiew) kann einstweilen überhaupt nichts getan werden. Die sich hieraus ergebenden Folgen sind hart, aber unvermeidlich (...) Die in unmittelbarem deutschen Interesse arbeitenden Menschen sind durch unmittelbare Nahrungsmittelzuteilungen in den Betrieben so zu ernähren, daß ihre Arbeitskraft einigermaßen erhalten bleibt (...) Gewerbliche Wirtschaft (...) In erster Linie steht das Erdöl (...)".
Quelle:
Ueberschär Gerd R. u. Wolfram Wette (Hg.): "Unternehmen Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente. Paderborn 1984, S. 377 (Aktennotiz) u. S. 387 ff. (Richtlinien).

 
Verbrecherische Befehle


Aus den Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare vom 6.6.1941:
"Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten (...) Die Urheber barbarisch-asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muß daher sofort und mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen (...) Politische Kommissare als Organe der feindlichen Truppe sind kenntlich an besonderen Abzeichen - roter Stern mit goldenem eingewebtem Hammer und Sichel auf den Ärmeln (...) Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, d.h. noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. Dies ist notwendig, um ihnen jede Einflußmöglichkeit auf die gefangenen Soldaten zu nehmen. Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für Kriegsgefangene völkerrechtliche Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen."

Aus dem Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet "Barbarossa" vom 13.5.1941:
"Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen:
1. Straftaten feindlicher Zivilpersonen sind der Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte bis auf weiteres entzogen.
2. Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen.
3. Auch alle anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht, ihre Angehörigen und das Gefolge sind von der Truppe auf der Stelle mit den äußersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niederzukämpfen (...)
Behandlung der Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner:
1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist (...)".

Erinnerungen des Theologen Helmut Gollwitzer an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22.6.1941:
"Bis zum Beginn des Rußlandfeldzuges war auf der Innenseite des Umschlags unseres Soldbuches ein Blatt eingeklebt: ,Zehn Gebote für den deutschen Soldaten'. Darin waren aufgezählt die Vorschriften der internationalen Konvention zur Bändigung der Kriegsbestie: Schonung des entwaffneten und gefangenen gegnerischen Soldaten, Schonung der Zivilbevölkerung, Verbot von Plünderung und Vergewaltigung. Mit Beginn des Rußlandfeldzuges wurde dieses Blatt aus den Soldbüchern entfernt - und jeder konnte wissen, daß nun die Barbarei unter Zustimmung der Wehrmachtsführung gesiegt hatte."
Quellen:
Ueberschär, Gerd R. u. Wolfram Wette (Hg.): a.a.O., S. 313 f. (Kommissarbefehl) u. S. 306 f. (Kriegsgerichtsbarkeitserlaß); Gollwitzer, Helmut: Der Überfall. In: Zeit-Magazin, 23.3.1998 ;S. 30 ff.

Der ehemalige Soldat Helmut Gollwitzer nennt die Vorschriften, die beim Überfall auf die Sowjetunion aus den Soldbüchern entfernt wurden. Welchen Eindruck mußten die Soldaten von der beabsichtigten Kriegführung gewinnen?

 

Militanter Antibolschewismus als ideologische Grundlage


Telegramm des Geistlichen Vetrauensrates der Deutschen Evangelischen Kirche an den "Führer" am 30.6.1941:
"Sie haben, mein Führer, die bolschewistische Gefahr im eigenen Land gebannt und rufen nun unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengange gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur auf. Das deutsche Volk und mit ihm all seine christlichen Glieder danken Ihnen für diese Tat (...) Die Deutsche Evangelische Kirche (...) ist mit allen Ihren Gebeten bei Ihnen und unseren unvergleichlichen Soldaten, die mit so gewaltigen Schlägen darangehen, den Pestherd zu beseitigen, damit in ganz Europa unter Ihrer Führung eine neue Ordnung entstehe und aller inneren Zersetzung, aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde?"

Denkschrift aller katholischen Bischöfe am 10.12.1941 an die Reichsregierung:
"Wir begleiten unsere Soldaten mit unseren Gebeten und gedenken in dankbarer Liebe der Toten, die ihr Leben für ihr Vaterland hingaben. Wir haben immer wieder und noch im Hirtenbrief des Sommers unsere Gläubigen zu treuer Pflichterfüllung, zu tapferem Ausharren, opferbereitem Arbeiten und Kämpfen im Dienste unseres Volkes in schwerster Kriegszeit eindringlich aufgerufen. Mit Genugtuung verfolgen wir den Kampf gegen die Macht des Bolschewismus, vor dem wir deutschen Bischöfe in zahlreichen Hirtenbriefen vom Jahre 1921 bis 1936 die Katholiken Deutschlands gewarnt und zur Wachsamkeit aufgerufen haben, wie der Reichsregierung bekannt ist (...)."

Befehl des Befehlshabers der Panzergruppe 4, Generaloberst Hoepner, zur bevorstehenden Kampfführung im Osten vom 2.5.1941:
"Der Krieg gegen Rußland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muß die Zertrümmerung des heutigen Rußland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muß in Anlage und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen, völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein. Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger der heutigen russisch-bolschewistischen Systems (...)".
Quellen:
Niemöller, Wilhelm: Die evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfes. Bielefeld 1956, S. 393 (Telegramm Evangelische Kirche); Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945. V. 1940-42. Bearbeitet v. Ludwig Volk. Mainz 1983 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern, Bd. .34), S. 651 ff. (Denkschrift katholische Bischöfe); Ueberschär, Gerd R. u. Wolfram Wette (Hg: a.a.O., S. 305 (Befehl General Hoepner)

General Hoepner war maßgeblich am Aufstand des 20. Juli 1944 beteiligt und wurde nach dessen Scheitern hingerichtet. Er erließ seinen Befehl sechs Wochen vor(!) Beginn des Überfalls auf eigene Initiative. Welche Auffassung konnte einen Mann des militärischen Widerstandes dazu bringen, solche Worte für die Kriegführung im Osten zu wählen?


Bei den Vorbereitungen für den Rußlandfeldzug traf Hitler als oberster Gerichtsherr des Deutschen Reiches Bestimmungen, die weder mit dem Völkerrechts noch mit dem innerstaatlichen Recht (MStGB, KSSVO) übereinstimmten und von der Wehrmacht neue Verhaltensweisen verlangten. Zum einen beseitigte der Barbarossa-Befehl vom 13.5.1941 den Verfolgungszwang bei Straftaten von Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung, ein Rückfall in die Barbarei. Zum zweiten standen auf dem Boden der Sowjetunion keine Zivilisten vor deutschen Wehrmachtgerichten. Bei Verstößen gegen die von der Besatzungsmacht festgelegte Ordnung übernahm die Truppe die Bestrafung. Die Militärgerichte hatten ihre Zuständigkeit für Zivilisten, Partisanen, Partisanenhelfer usw. verloren. Deren Schicksal lag in Zukunft in der Hand von deutschen Offizieren. Nach den Weisungen des für das Rechtswesen des Kriegsheeres zuständigen Generals Eugen Müller war der Begriff des Partisanen großzügig auszulegen. In Zweifelsfällen über die Täterschaft sollte der Verdacht genügen. Auch bloße Tatverdächtige durften auf Befehl eines Offiziers, gleich welchen Dienstgrades, erschossen werden, damit war der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Der Krieg gegen die Sowjetunion unterschied sich grundsätzlich vom Krieg im Westen, nur er wurde als Vernichtungskrieg geplant und geführt. Er war auf verbrecherische Ziele gerichtet und bediente sich verbrecherischer Mittel. Die meisten und die schlimmsten Verbrechen beging die Wehrmacht nicht bei Kampfhandlungen, sondern als Besatzungsmacht: mit dem Verhungernlassen der Kriegsgefangenen, den Massenrepressalien gegen die Zivilbevölkerung, der oft mörderischen Zwangsarbeit, den Judentransporten und dem Völkermord an den Juden. Mit der Dauer des Krieges wuchsen Zahl und Intensität der Verbrechen und der daran beteiligten Soldaten.

Martenssche Klausel in der Präambel der Haager Landkriegsordnung : "Solange, bis ein vollständiges Kriegsgesetzbuch festgestellt werden kann, halten es die hohen vertragschließenden Parteien für zweckmäßig, festzusetzen, daß in den Fällen, die in den Bestimmungen der von ihnen angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens". Damit waren Folter, Heckenschützentum, Nichtversorgung von Verwundeten und Zwangsmaßnahmen gegen Frauen und Kinder grundsätzlich in Acht und Bann.

    "Das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienst,
    der Wohltätigkeit, dem Unterricht, der Kunst und der Wissenschaft
    gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staat gehören,
    ist als Preivateigentum zu behandeln.
    Jede Beschlagnahmung, jede absichtliche Zerstörung oder
    Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern
    oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt
    und soll geahndet werden." Artikel 56 des Abkommens betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, Den Haag, 1907

 

 

 

An ihren Taten werdet ihr sie erkennen!

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Im August wurde eines unserer Mitglieder von SJD – Die Falken als Referent zum Thema “Antikriegstag – Der Beginn des Zweiten Weltkriegs” eingeladen. Wir dokumentieren Teile des Referats aus aktuellem Anlaß: Kriegsvorbereitungen heute...

Sie reden vom Frieden und rüsten zum Krieg!

(...)

Die Empfänglichkeit der Bevölkerung für soziale Phrasen brachte die Faschisten dazu, sich als Sozialisten zu tarnen – jedoch mit der Volksgemeinschaft gegen den Rest der Welt als Ziel. Diese Tarnung ermöglichte u.a. den rechten Sozialdemokraten die Verbreitung der Totalitarismusdoktrin. Unter der Parole “Rechts gleich Links” wurden linke Sozialdemokraten und Kommunisten verfolgt, unter dem Vorwand der wehrhaften Demokratie wurde der Abbau der selbigen vorangetrieben. So war die Antwort der Ebert-Regierung auf den faschistischen Putschversuch am 9. November 1923 zwei Wochen später das Verbot der KPD.

Doch wer als Demokrat nichts gegen die Kommunistenverfolgung sagte, half sich nicht damit. Nach der Machtübergabe am 30. Januar 1933 sahen sich nach und nach immer größere Teile der Bevölkerung dem Staatsterror gegenüber – demagogisch verbrämt, wie z.B. die faschistische Polizei als “Freund und Helfer”. Am 27. Februar ließ Göring den Reichstag anzünden und bedauerte noch im kleinen Kreis, dass nicht „die ganze Bude niedergebrannt“ sei. 1. Der Brand diente als Vorwand für das Verbot der KPD und die Notverordnung “Zum Schutz von Volk und Staat”, welche beinhaltete: die Abschaffung der persönlichen Freiheit, der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis und beliebige Hausdurchsuchungen sowie die Todesstrafe auf antifaschistische Tätigkeit. In Dachau wurde noch im selben Jahr mit großem Pomp das erste KZ errichtet.

Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften zerschlagen. Am 10. Mai folgte die Bücherverbrennung – über 4000 Bücher wurden verboten. Selbst jetzt noch gab es Arbeiter und Arbeitervertreter, die glaubten, mit der Bourgeoisie Kompromisse schließen zu können: “Die Sozialdemokraten stimmten einmütig gegen das Ermächtigungsgesetz, sehr zu ihrer Ehre. Einige Wochen später billigten sie mit gleicher Aufrichtigkeit die Unterstützung der Hitlerschen Außenpolitik.” 2 Man kannte wie schon 1914 keine Parteien mehr, nur noch Deutsche, und es erhob sich am 17. Mai 1933 ein von der KPD gesäuberter Reichstag zum gemeinsamen Absingen des Deutschlandliedes – ein Ereignis, welches sich erst am 9. November 1989 wiederholen sollte. Es nutzte nichts, die SPD wurde am 22. Juni verboten.

Schließlich wurde auch die konservative und faschistische Konkurrenz (Zentrum, Stahlhelm, Anthroposophen, Burschenschaften etc.) gleichgeschaltet oder verboten. Auch in der NSDAP selbst herrschte der Terror – am 30. Juni 1934 (“Röhmputsch”) wurden allein in Stadelheim 122 Faschisten von ihresgleichen ermordet. Als 1935 die Unterstützung durch den Vatikan gesichert war, gab es auch keine Gnade mehr für antifaschistische Priester und Christen. Nicht zu vergessen: die antisemitische Hetze – allein bis Ende 1935 wurden 100.000 Menschen, die durch das Regime als “Juden” verfolgt wurden, unter Raub ihres Eigentums vertrieben oder deportiert. Aufhetzen eines Teils der Einwohner Deutschlands gegen einen anderen dient letztlich der Kriegsvorbereitung: wer zuhause Jagd auf In- und Ausländer macht, tut dies auch mit dem Gewehr in der Hand außerhalb der deutschen Grenzen.

Beschwert wurde sich lautstark über mangelnde Demokratie in den Nachbarländern, so hatte es z.B. in der Tschechoslowakei laut Hitler seit Kriegsende keine freien Wahlen mehr gegeben. Der Feind war wie üblich auch hier nur eine Person – “Diktator Benesch” –, nicht die gesamte Bevölkerung, der man ja die “Freiheit” zu bringen predigte.


Die Gleichschaltung der Wirtschaft begann schnell, z.B. mit dem Gesetz zum Reichsnährstand am 13. September 1933, welches die totale Kontrolle der Lebensmittelversorgung zur Folge hatte. Die dadurch mögliche künstliche Verknappung – ebenso wie Streichungen beim Wohnungsbau – gab der Lüge vom “Volk ohne Raum” zusätzlichen Nährboden. Damals brauchte es zwei Jahre Faschismus zur Einführung der Wehrpflicht am 16. März 1935. Im Jahr darauf wurde der Vierjahresplan unter der Devise “Kanonen statt Butter” verkündet, mit dem die deutsche Wirtschaft kriegsfähig gemacht werden sollte. Einer der ersten großen Tests der Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wehrmacht war ab dem 13. November 1936 das “Kriegsspiel” in Dresden.

(...)

Die Bekämpfung der Arbeitslosen

Durch zahlreiche Vergünstigungen, z.B. bei der Verpflegung wurde gerade die Jugend systematisch zur Rüstungsarbeit und zum Morden angelernt: “Zum Teil hoffen die Jungen später in der Wehrmacht ein gutes Fortkommen zu finden. ... wandern gerade Lehrlinge aus Handwerksbetrieben in Industriebetriebe ab, vielfach auch zur Wehrmacht (Feinmechaniker, Elektrotechniker, Kraftwagenschlosser), wo sie sich für längere Dienstzeiten verpflichten.” 3 Die Zuckerchen für den Schützengraben wirkten umso stärker, je schlechter die Lage des Proletariats wurde: steigende Säuglings- und Kindersterblichkeit, steigende Zahl der Arbeitsunfälle, längere Arbeitszeit, v.a. bei Frauen, da sie bei rund 45 Pfennig Stundenlohn nur 2/3 des Männerlohns bekamen, steigende Preise usw. Gesetzliches Maximum war der 16-Stunden-Tag.

Die Arbeiter sahen sich immer strengeren Regelungen ausgesetzt, die in offener Sklaverei endeten. Bereits am 20. Januar 1934 wurden die Betriebsräte abgeschafft. Das am 26. Juni 1935 verabschiedete Gesetz zum Reichsarbeitsdienst verpflichtete außerdem alle Männer zwischen 18 und 25 Jahren zur Zwangsarbeit – außer man war bei Wehrmacht, SA oder SS. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes wurde am 27. November 1936 abgeschafft: eine Kündigung war nur noch mit Erlaubnis des Arbeitsamtes möglich.


Statt Konsumgütern importierte Deutschland Rohstoffe für die Rüstung – Kanonen statt Butter, wie angekündigt. All diese Opfer versuchten die Faschisten zu fordern mit der Behauptung, dies diene der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Doch wer einen Blick auf die Haushaltspläne wirft, der erkennt, wofür die Opfer verlangt wurden: Der Anteil der Rüstungsausgaben am Volkseinkommen stieg von 6% 1933 kontinuierlich auf 34% bei Kriegsbeginn. Nimmt man noch die versteckte Vorbereitung, z.B. den Autobahnbau, kommt man locker auf 50%! Ein Staat, der ein Drittel des Volkseinkommens für die Rüstung ausgibt, bereitet sich auf den Krieg vor – die einzige kapitalistische Lösung der Arbeitslosenfrage: “Die ‚Beseitigung der Arbeitslosigkeit‘, das war der Reklameschlager, mit dem es der Nazipartei gelang, auch einen Teil der Arbeiter irrezuführen.” 4 “Manch junger Arbeiter in Deutschland konnte lange nicht verstehen, welcher Zusammenhang zwischen Hitlers ‚Arbeitsbeschaffung‘ von 1933 und dem Kriegsbeginn im Jahre 1939 besteht” “Jetzt, zwölf Jahre später, sieht das deutsche Volk die Ergebnisse von Hitlers ‚Arbeitsbeschaffung‘. Statt sechs Millionen Arbeitslose – weit über sechs Millionen Tote und Krüppel!”


Der Preis war weitaus höher als sechs Millionen: ebenso viele Opfer hatte Polen zu beklagen, die Sowjetunion mehr als das dreifache, Spanien, Österreich, Frankreich, Jugoslawien, Griechenland... Dafür gab es dann nach dem großen Schlachten die ab 1944 von Ludwig Erhardt geplante “soziale Marktwirtschaft” plus “Wirtschaftswunder”.


(...)

Friedliche Wiedervereinigungen & friedensschaffende Maßnahmen

Der Faschismus kennt nur eine Verfassung: den Ausnahmezustand. Der Faschismus kennt nur einen Frieden: den Siegfrieden. Als Deutschland wieder frech geworden, begann es als erstes damit, die “Rückgabe” des Saarlands zu fordern – was es im März 1935 auch bekam und dadurch seine Rüstungsproduktion um 10% steigern konnte. Am 7. März 1936 versuchte man es mit der Besetzung des Rheinlandes. Der Befehl lautete, sich beim ersten Schuß zurückzuziehen – Frankreich schoß nicht.


Am 18. Juli 1936 erfolgte der Putsch der Franco-Faschisten in Spanien 5, in der deutschen Presse war vom “Freiheitskampf des spanischen Volkes gegen den Bolschewismus” u.a. zu lesen. Die Unterstützung Deutschlands und Italiens machte den Sieg der Putschisten möglich und die Verteidigung deutscher “Freiheit”: Die IG-Farben beherrschte die spanische Farbstoffproduktion, Siemens und AEG produzierten in Spanien, Krupp war an der Erz- und Hüttenindustrie und dem Schiffbau beteiligt, Deutsche und Dresdner Bank hatten Filialen... Verteidigt wurde auch die Freiheit der Europäischen (deutsch-spanischen) Pyritgesellschaft, als Francotruppen die Betriebsräte in ihrem spanischen Ableger Rio Tinto erschossen. Der Bruder eines Aufsichtsrates dieser Gesellschaft durfte sogar die “Legion Condor” kommandieren – womit wir beim zweiten Zweck sind: die deutschen Truppen hatten ein Übungsfeld.


Aus dem Wirtschaftsstandort wurde ein militärischer. Die Piloten der “Condor” schrieben Geschichte: sie legten als erste eine komplette Stadt in Schutt und Asche – von dem Blutgeld für die Zerstörung Guernicas wurde die Fluggesellschaft “Condor” gegründet. Österreich wurde gedroht, es werde zu einem “zweiten Spanien”, aber dann kam ja im März 1938 die “friedliche Wiedervereinigung”. Die Industrie wurde erhalten, weil man sie für den Krieg brauchte. Durch Claqueure am Straßenrand wurde mancher deutsche Soldat, der sich den Kittel des Räubers angezogen hatte, in seinem Glauben etwas Gutes zu tun bestätigt. Und natürlich sollte eben diese Forderung Deutschlands die letzte sein – so versprach es Hitler immer wieder.

(...)


Der Frieden der Mörder

Tunlichst wurde 1939 auf Anweisung Goebbels von der deutschen Presse das Wörtchen “Krieg” vermieden – man “verteidigte” sich, man “rächte” sich, man “schützte die deutschen Volksgenossen”, man wollte eigentlich nur “Frieden” und war durch den “niederträchtigen Überfall” zur “Notwehr” gezwungen. Zudem wurde der Krieg zu Hause auch nicht als einschneidende Veränderung wahrgenommen: das Land befand sich seit 1933 im Ausnahmezustand, jeder zweite arbeitete direkt oder indirekt bereits zur Friedenszeit für den Krieg, eine große Mobilmachung blieb vorerst aus, die Lebenslage war bereits miserabel und auf Berlin fielen noch keine Bomben.


Später, als mit den ersten Siegen die Begeisterung für den Krieg wuchs, wechselte man den Ton. Mit einer Ausnahme: “Der verlogenste aller Feinde der Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 sein räuberisches Zerstörungswerk begann, fand zur Zeit seiner Niederlage im Winter 1941-1942, als er die Notwendigkeit verspürte, wenigstens nachträglich einen Kriegs“grund” auszudenken, nichts Gescheiteres, als dem deutschen Volke aufzutischen, die Sowjetunion hätte ‚im Sinne gehabt‘, Deutschland zu erobern. Selbst Goebbels, der an schamloseste Lügen gewöhnt war, begnügte sich in diesem Falle mit dem Nachdruck der Rede des Führers, der sich schon gar zu sehr verstiegen hatte, und enthielt sich jeden Kommentars.” 6 Dies überließ er so manchem Nachkriegs“historiker”.

Arisiertes Eigentum wurde zu Schleuderpreisen versteigert, die Nachbarn beteiligten sich an der Plünderung der Wohnungen von Juden und Antifaschisten, denunzierten sie sogar extra zu diesem Zweck. Soldaten schickten Raubgut per Post nach Hause. Ein Volk wurde korrumpiert. Die Parteimitglieder kannten die Untaten ihrer “Kameraden”, was jeden zum Schweigen verdammte, wollte er nicht selbst Ärger mit der Justiz. Es wurden sogar Akten über Schwächen angelegt: Bestechlichkeit, sexuelle Vorlieben, Verbrechen, verwöhnte Ehefrauen und Liebchen.

Die Volksgemeinschaft war die Gemeinschaft der Räuber, und trotz der Bestechung, der Lügen und dem Terror gab es Widerstand: Selbst zur Hochzeit des Faschismus 1941 wurden allein in Deutschland monatlich rund 10.000 Verhaftungen vorgenommen – monatlich 10.000 Kommunisten, aufrechte Sozialdemokraten und Menschen, die es ernst meinten mit ihrem Humanismus und ihrem Christentum. 10.000 Menschen, die erkannt hatten, daß es nicht reicht, selbst kein Unrecht zu tun – man darf es nicht mal dulden!


Der Schoß ist fruchtbar noch...

Auch nach 1945 fanden sich im Ausland Menschen, die den deutschen Imperialismus zu verteidigen suchten. H.L. Bretton schrieb: “Er wollte lediglich ein Minimum an Revision erreichen. Wären ihm die Alliierten nur mit einigen Zugeständnissen entgegengekommen, hätten sie ihn in anderen Bereichen zugänglicher gefunden. Da er aber die gewünschten Zugeständnisse nicht rechtzeitig errang, konnte die nationalistische Opposition so weit anschwellen, daß Pazifismus und Demokratie beiseite geschwemmt wurden.” 7 Wirklich? Wenn es doch “Heute Deutschland und morgen die Welt” sein soll, die unsere Herren als Zugeständnis wünschen?

Lassen wir uns nicht täuschen! Vielleicht hätte dann schon 50 Jahre früher eine konservative Regierung eine “Wiedervereinigung” feiern können, vielleicht hätte schon 60 Jahre früher eine SPD-Regierung einen Krieg geführt. Denn die Krise hätte auch eine andere Regierung nicht verhindern können: “Die wirtschaftlichen Probleme müssen gelöst werden ... Ohne Einbruch in fremde Staaten oder Angreifen fremden Eigentums ist dies nicht möglich.” (Adolf Hitler)8

Die dritte Möglichkeit, welche die von Krise und Arbeitslosigkeit unberührte Sowjetunion aufzeigte, erwähnte Hitler, erwägt das deutsche Kapital lieber nicht. Für diese dritte Möglichkeit – Sozialismus statt Barbarei – entschied sich nach 1945 immerhin ein Drittel der Menschheit.


Stephan






Anmerkungen

1 Aus: Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, 1937, zitiert nach: Der Widerspruch Nr. 6, Berlin 1976, S. 81

2 Deutschland, einig Vaterland?, München 1993, S. 14

3 Nach: Jürgen Kuczynski: Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis in die Gegenwart; Band II, Erster Teil, 1933 bis Mai 1945, Berlin 1953, S. 178f

4 Dieses und die folgenden Zitate aus: Walter Ulbricht: Die Legende vom “Deutschen Sozialismus”, Berlin 1946, S. 28

5 Zu Spanien: Albert Norden: So werden Kriege gemacht!, Berlin 1968, S. 78ff und: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966, Band 5, S. 149ff

6 E.W. Tarlé: Über die Arbeitsweise der bürgerlichen Diplomatie, zitiert nach Der Widerspruch Nr. 6, Berlin 1976, S. 73

7 Zitiert nach: Kühnl, Schönwälder (Hrsg.): Sie reden vom Frieden und rüsten zum Krieg, Köln 1986, S. 113

8 Zitiert nach: Albert Norden: So werden Kriege gemacht!, Berlin 1968, S. 101f



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Krieg gegen die Tschecheslowakei: 340.000 Morde der Nazis

 

Quelle:   http://www.ekd.de/EKD-Texte/2110_tschechen_1998_tschechen1.html

  

... Überall, wo die deutschen Armeen hinkamen, ergoß sich eine Flut

                               von schrecklichen Gewalttaten über die Bevölkerung. Vor allem die

                               Juden, aber nicht nur sie, wurden verhaftet und ermordet. Auch in

                               den böhmischen Ländern wurden unmittelbar nach der Besetzung

                               Demokraten und andere Gegner des Nazismus verhaftet. Im Herbst

                               1939 wurden die tschechischen Hochschulen geschlossen und

                               Studentenvertreter hingerichtet. Ganze Jahrgänge junger Leute

                               mußten Zwangsarbeiten im Reich leisten. Zu Opfern der deutschen

                               Okkupation wurden auch hier hauptsächlich Juden und neben ihnen

                               vorwiegend Angehörige der tschechischen Intelligenz wie

                               Universitätsprofessoren, Lehrer, Schriftsteller, Leiter der

                               Jugendorganisationen u.a. Dieses Vorgehen stand im Einklang mit

                               den deutschen Absichten, die allerdings erst nach dem Krieg

                               vollständig offengelegt werden konnten: der am wenigsten

                               "verläßliche" Bestandteil des Volkes, die Intelligenz, sollte liquidiert

                               werden; von den anderen sollte der "gutrassige" Teil

                               eingedeutscht, der Rest in Räume von geringerem Interesse für

                               Deutschland, so z.B. auf die Krim, abgeschoben werden(24).

                               In der Ablehnung der Besetzung und des Protektorats sowie unter

                               dem Eindruck des Besatzerterrors vereinigte sich allmählich die

                               Mehrheit der Tschechen in Verweigerung und Widerstand. Nach dem

                               Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard

                               Heydrich im Mai 1942 nahm der Terror massiv zu. Mit einem Schlag

                               wurden "zur Warnung" die beiden Dörfer Lidice und Lekáky

                               ausgerottet. Täglich fanden Hinrichtungen von einigen Dutzend

                               Personen statt, deren Namen in allen Gemeinden veröffentlicht und

                               im Rundfunk verlesen wurden.

                               Die Verluste an Leben infolge des Terrors auf dem gesamten

                               Gebiet der Tschechoslowakei, durch das im Unterschied zu Polen

                               oder Rußland der Krieg nicht tobte, werden auf 340.000 bis 360.000

                               Opfer geschätzt. Zwei Drittel davon waren Juden. Die täglichen

                               Erfahrungen des deutschen Terrors gaben den Tschechen eine

                               Vorstellung davon, was sie im Falle des Sieges von Hitler zu

                               erwarten haben würden. Zunehmend baute sich bei ihnen daraus

                               die Überzeugung einer Kollektivschuld aller Deutschen und das

                               Verlangen nach Vergeltung auf. Dieses entlud sich nach dem Krieg

                               in Vorgängen und Aktionen, die vielen Deutschen unbegreiflich

                               waren und sie betroffen fragen ließen, wie die Tschechen ihnen so

                               viel Leid zufügen könnten.

 

 

 

... Die Alliierten stimmten schließlich der Zwangsaussiedlung

                               der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zu,

                               bestanden jedoch auf einer geordneten Durchführung ohne

                               Verstöße gegen die Menschlichkeit.

                               Der "geregelte Abschub"(26) erfolgte vor allem im Jahr 1946; im

                               Frühling 1947 wurde er aufgrund des Widerstands der Westmächte

                               nicht weitergeführt. In dieser Zeit mußten ungefähr 3 Millionen

                               Deutsche das Land verlassen. Ungefähr 300.000 blieben - nicht

                               immer freiwillig - in der CSR zurück. Die Anzahl der Deutschen, die

                               bei der Vertreibung umgekommen sind, läßt sich anhand der

                               Quellen nicht ganz sicher bestimmen. Die neuesten Schätzungen,

                               denen sich die Gemeinsame deutsch-tschechische

                               Historikerkommission angeschlossen hat, gehen von maximal

                               30.000 Toten aus(27) . Die meisten Opfer gehörten zur

                               Zivilbevölkerung und starben in der Zeit nach dem vollständigen

                               militärischen Sieg. Das sagt viel über den Haß aus, der das Land

                               nach dem Ende der deutschen Oberherrschaft überschwemmte.

                               Die Motive, die auf der tschechischen Seite die Notwendigkeit des

                               "Abschubs" begründeten, waren unterschiedlich. Sie verdichteten

                               sich zu einer derart herrschenden Stimmung, daß es ohne

                               persönliche Gefahr nicht möglich war, sich ihr zu widersetzen. Diese

                               heftige Feindselig-keit war geprägt von der Erinnerung an München,

                               von den Erfahrungen mit dem Terror im Protektorat und den

                               besonders harten Repressalien gegen Ende des Krieges, aber auch

                               von Berichten zurückkehrender Häftlinge über Bestialitäten in

                               Konzentrationslagern und von der inzwischen gewonnenen vollen

                               Kenntnis der deutschen Pläne zur "Germanisierung" der

                               böhmischen Länder.  

 

 

Streit um Dimitroff
Zwischen Antifaschismus und Stalinismus. Zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs (Teil 1). Von Ernstgert Kalbe

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Es mehren sich die Anlässe, um erneut über die Rolle des Bulgaren Georgi Dimitroff in der bulgarischen und internationalen Arbeiterbewegung sowie für den weltweiten Antifaschismus nachzudenken. Seit der selbstverschuldeten Implosion des Staatssozialismus in Europa wurde ein undifferenziertes Verdikt der selbstgerechten Sieger über alle repräsentativen Persönlichkeiten, historischen Ereignisse und politischen Aktivitäten dieses mit der kapitalistischen Welt konfrontierten Systems verhängt - und zwar ungeachtet aller Voraussetzungen, Bedingungen und Formen dieser Auseinandersetzung sowie ihrer Wirkungen auf das reale Kräfteverhältnis und die politischen Strategien und Entscheidungen der jeweiligen Akteure. Diesen Zusammenhang beschreibt der englische marxistische Historiker Eric Hobsbawm mit dem Umkehrschluß, daß »der Umgang des einen Systems die malaise des anderen offenbart«.

Auf den Index gesetzt

Auch das seit 1952 in Leipzig beheimatete Georgi-Dimitroff- Museum wurde nach der Wende von 1989/90 auf den politischen Index gesetzt. Eine knappe Mehrheit der Leipziger Stadträte versuchte mit der Umbenennung des nach Dimitroff benannten Platzes vor dem ehemaligen Reichsgericht im Juni 1997 sogar, das Gedenken an den Sieg des »Helden von Leipzig« im Reichstagsbrandprozeß 1933 über die faschistischen Brandstifter zu tilgen, indem man Dimitroff zur stalinistischen Unperson erklärte. Geschichte läßt sich jedoch weder einseitig verteufeln noch ignorant verdrängen, sondern verlangt differenzierte Befragung und Bewertung.

Für eine möglichst wahrheitsnahe Beurteilung der Persönlichkeit Georgi Dimitroffs kommt die Veröffentlichung der Tagebücher Dimitroffs gerade recht, da es sich um persönliche Notizen des Zeitzeugen in neun Heften handelt, die Jahrzehnte verschlossen im Parteiarchiv der BKP lagen, unzugänglich selbst einem inneren Führungskreis. Freilich verfügen wir nunmehr gleich über zwei chronologisch, editorisch und sprachlich verschiedene Ausgaben der Aufzeichnungen, die Dimitroff vom 9. März 1933 bis zum 6. Februar 1949 - teils in deutsch, teils in russisch oder bulgarisch - angefertigt hat.

Zwei Ausgaben

Die bulgarische Ausgabe des »Dnevnik« (Tagebuch), die 1997 im Sofioter Universitätsverlag erschien, ist mit einem Vorwort von Dimitroffs Adoptivsohn Bojko Dimitrow sowie einer Einleitung des ausgewiesenen Historikers Iltscho Dimitrow versehen, die Anliegen und historisches Umfeld der Veröffentlichung erläutern. Sie umfaßt den gesamten Zeitraum der Tagebuchnotizen vom 9. März 1933 bis zur letzten Eintragung des schon schwerkranken Dimitroffs Anfang Februar 1949.

Dagegen beinhaltet die deutsche Ausgabe der »Tagebücher«, die jetzt der Kölner Historiker Bernhard H. Bayerlein im Aufbau-Verlag Berlin herausgegeben hat, lediglich den Zeitraum vom 9. März 1933 bis zum 12. Juni 1943. Das ist eine Verkürzung, die erstens die letzte Kriegsperiode vom Sommer 1943 bis 1945 ausspart, und die zweitens den bulgarischen Ministerpräsidenten und Balkanpolitiker Dimitroff von 1946 ff. wegschneidet. Während die bulgarische Ausgabe also die Tätigkeit Dimitroffs vom Machtantritt des Hitlerfaschismus in Deutschland bis zum Vorabend des Todes des Verfassers reflektiert, interessiert die deutsche Ausgabe ausschließlich Dimitroff und die Komintern. Ein Unterschied mit konzeptionellem Hintergrund. Ob es eine Fortsetzung der deutschen Ausgabe geben wird, hat der Aufbau-Verlag noch nicht entschieden. Unverzeihlich aber erscheint mir die Unterlassung jedes Hinweises in der deutschen Veröffentlichung darauf, daß schon drei Jahre früher eine bulgarische Ausgabe erschien, und so der Eindruck publizistischer Priorität erweckt wird, wenngleich auch die deutschsprachige Ausgabe originär aus den Quellen gearbeitet ist.

Die deutsche Fassung verzichtet auf einen wissenschaftlichen Einleitungsbeitrag. Dafür bietet sie im ersten Beiband eher individuelle Betrachtungen des Herausgebers Bernhard Bayerlein unter der Überschrift »Innenansichten aus dem Stab der Weltrevolution« und einen ebenso persönlichen Kommentar von Wolfgang Engler »Einheitsfront als Ideologie«. Übersetzung und Redaktion der deutschen Ausgabe, sorgfältig besorgt von Wladislaw Hedeler und Birgit Schliewenz, verdienen uneingeschränkten Respekt.

Die die deutsche Ausgabe mit Blick auf Lizenzgeschäfte in Westeuropa und den englischsprachigen Raum auszeichnenden umfangreichen Beigaben sind gründlich gearbeitet: Chronik, Anmerkungen und Bibliographie (1. Beiband) sowie 300 Seiten Kurzbiographien und Register (2. Beiband), ein »Who is Who der Komintern«, wie Aufbau in seiner Werbung stolz vermerkt.

»Realisiert in Würde«

Das Anliegen der bulgarischen Ausgabe verdeutlicht Bojko Dimitrow im Vorwort: »Wenn es nur von meinem Willen abhinge, hätte dieses Buch das Licht der Welt nicht erblickt. Wenn man seine Seiten aufschlägt, wird der Leser allein verstehen, warum. Selbst ein oberflächlicher Blick läßt keinen Platz für Zweifel: Das Tagebuch von Georgi Dimitroff wurde nicht mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung geführt. Die Aufzeichnungen, die mein Vater hinterlassen hat, sind nicht einfach das Register oder der Kommentar des Vollbrachten, Gesehenen, Gehörten, Gelesenen, der Tagesereignisse. Sie stellen etwas unvergleichlich Intimeres dar: eine Art vertrauensvolles Selbstgespräch, in dem er seine geheimsten Gedanken und Gefühle mitteilt, seine Freuden und Schmerzen, seine Zweifel und Sorgen. Er offenbart sich aufrichtig und wahrhaftig, oftmals bis zum ungünstigen Bekenntnis für den Autor selbst. Mit anderen Worten, was das Dokument angeht, so ist es zum eigenen Trost geschrieben und nur zur eigenen Verwendung bestimmt, keinesfalls für fremde Augen.«

Bojko Dimitrow begründet seinen Entschluß, die Verantwortung für die Publikation zu übernehmen, damit, daß angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs in Bulgarien im Herbst 1991, der einsetzenden Welle von Enteignungen der Kommunistischen Partei und der gesetzgeberischen Lücken über das Archivwesen die Dinge entweder ihrem unkontrollierten Lauf überlassen oder eine Veröffentlichung gestattet werden mußte, »realisiert in Würde und Achtung, die diesem historischen Dokument und seinem Autor gebühren«. Besorgt »von ehrenhaften Menschen und ausgewiesenen Fachleuten, die fähig sind, strengsten Anforderungen nach wissenschaftlicher Objektivität, Gewissenhaftigkeit und Kompetenz zu entsprechen«.

Der Historiker Iltscho Dimitrow wiederum charakterisiert den Verfasser der Tagebücher als einen Menschen seiner Zeit, der sich zu einer Ideologie bekannte, »als Kämpfer im Namen eines Ideals und Verfechter einer Politik. Jedoch zwischen Ideologie, Ideal und Politik gibt es häufiger ein Auseinanderdriften als Übereinstimmung. Das bezieht sich übrigens auf alle ideellen und sozialen Bewegungen in der Geschichte.« Obwohl Georgi Dimitroff nicht ohne Verfehlungen wäre, »bleibt Dimitroff, ungeachtet seiner Widersprüchlichkeit, einer der großen Namen in unserer neuen Geschichte, der - bereinigt von einer angepaßten Apologetik wie einer nicht weniger angepaßten Anschwärzung - seiner objektiven historischen Beurteilung harrt. Der Sache nach war das eine wie das andere eine konjunkturelle Politik: sowohl die ungerechtfertigte Erhebung in den Himmel wie die nicht weniger unberechtigte Verdammung in die Hölle.«

Deutsche Urteile

Deutlich anders liest sich das Gesamturteil über Dimitroff in der deutschen Ausgabe. Bernhard Bayerlein meint: »Dimitroffs Tagebücher verweisen nicht mehr auf ein >Jahrhundert der großen Gesänge< (Albert Camus) ... Das realistische Stalin-Bild, das Dimitroff zeichnet, nähert sich dem Trotzkis, des schärfsten Kritikers Stalins, an. Seine Botschaft ist die der Inkompatibilität der Herrschaft Stalins nicht nur mit der Weltrevolution, sondern mit jeglicher politischer, sozialer und kultureller Emanzipation der Menschheit. Dimitroff selbst war Werkzeug und Übersetzer seines Herrn, bisweilen konnte er Ideen liefern, extreme Positionen abschleifen, >seine< Komintern vor (noch) Schlimmerem bewahren. Doch letztendlich demonstrieren seine Tagebücher seine Machtlosigkeit und Mitverantwortung für ein perfides Herrschaftssystem.« (Band 2/1, S. 18) Forscher noch charakterisiert Wolfgang Engler Georgi Dimitroff als »Verräter in eigener Sache«, nämlich an der Politik der Einheitsfront - »ausgerechnet in dem Moment, als sie am dringlichsten war« - zu Beginn des Zweiten Weltkrieges. »Dimitroff war Stalins Mann an der Spitze der Komintern, aber doch nicht sein Mordkumpan. Für den ideologischen Notfall war er als Komparse vorgesehen; man konnte auf ihn zeigen, so lange er nicht sprach. Nun hat er auch hierzulande seine Sprache wieder. Und was Eingeweihten längst vertraut war, erfährt nun auch der interessierte Laie: Der Mann wußte alles. Und er nahm alles hin: Säuberungen, Schauprozesse, politische Morde.« (Band 2/1, S.20)

Mich verwundert stets aufs Neue, mit welcher Selbstsicherheit nachgeborene Betrachter vergangene Ereignisse und Personen beurteilen - abgehoben von den jeweiligen zeithistorischen Bedingungen, die der Erklärung, nicht der Rechtfertigung von Haltungen und Handlungen historischer Akteure dienen. Vielleicht erleichtert das die Selbstfindung auf neuen Wegen, vielleicht verkürzt es aber zugleich den Blick auf historische Kontinuitäten wie Brüche.

Leben als Revolutionär

Georgi Dimitroff wird kurz nach der Abschüttelung der Osmanischen Herrschaft über Bulgarien am 18. Juni 1882 geboren. Die Tagebücher spiegeln seine Persönlichkeit in einem bestimmten historischen Zeitraum wider. Aber sie erfassen nicht die ihn prägenden Lebensperioden seit seiner Kindheit, nicht seine Existenz als proletarischer Revolutionär zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Seine frühzeitige Gewerkschaftsarbeit, Verantwortung als ZK-Mitglied in der Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (tesni socialisti) bzw. später der BKP, Antikriegskampf in den Balkankriegen 1912/13 wie im Ersten Weltkrieg, begeistertes Engagement für die russische Oktoberrevolution, führende Rolle im umstrittenen bulgarischen Septemberaufstand 1923 und nachfolgende, durch Todesurteil erzwungene Emigration, vorwiegend in Wien, Berlin und Moskau. Solche Erfahrungen lassen Dimitroff zum Funktionär des Exekutivkomitees der Komintern reifen, sie prägen seine Grundhaltung zur Einheitsfrontpolitik gegen Imperialismus, Faschismus und Krieg, die er während des Leipziger Prozesses und später als Generalsekretär der Komintern begründet und unter wechselnden, häufig widrigen Bedingungen verficht.

Einheitsfrontpolitik

Dimitroff gehörte keinesfalls zu den orthodoxen Ultralinken in der Komintern, er wurde eher des Rechtsopportunismus verdächtigt - Vorwürfe, die zunächst verstummt waren nach seinem Triumph über die faschistischen Brandstifter im Leipziger Prozeß.

Georgi Dimitroff hatte als Leiter des Westeuropäischen Büros der Komintern von Berlin aus wesentlichen Anteil an der Vorbereitung des Amsterdamer Antikriegskongresses vom August 1932 wie auch des Antifaschistischen Arbeitskongresses Europas vom Juni 1933 im Pleyel-Saal in Paris, der auf Einheitsfront orientierte. Im August 1933 vereinigten sich beide Bewegungen und gründeten das »Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus« unter Vorsitz von Henri Barbusse, der seinerseits zur internationalen Protestbewegung gegen den Leipziger Prozeß und für die Befreiung der angeklagten Kommunisten aufrief. Angesichts solcher Erfahrungen ist es nicht zufällig, daß Georgi Dimitroff auf dem Leipziger Prozeß die Linie der antifaschistischen Einheitsfrontpolitik auf den Punkt bringt: »Massenarbeit, Massenkampf, Massenwiderstand, Einheitsfront, keine Abenteuer - das ist das Alpha und Omega der kommunistischen Taktik.«

Dazu bedarf es keiner neuen Analyse: Dimitroff war der »Held von Leipzig«, er brachte dem Faschismus seine erste schwere Niederlage bei, motivierte den internationalen Antifaschismus und die Einheitsfrontpolitik, die sich 1935 auf dem VII. Weltkongreß der Komintern gegen linksorthodoxe Widerstände durchsetzte. Das war eine strategische Wende in der kommunistischen Weltbewegung, die freilich später - zwischen Münchner Abkommen (1938), deutsch-sowjetischem Nichtangriffspakt (1939) und Überfall auf die UdSSR (1941) - erneut ins Abseits gedrängt wurde, ehe sie nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion ihre Auferstehung erlebte.

Georgi Dimitroff war ein Mann seiner Zeit, geprägt von der kommunistischen Bewegung und ihrem damaligen Gravitationszentrum, der Sowjetunion, mit deren Existenz sich damals alle sozialistischen Hoffnungen verbanden. Die Sowjetunion wurde bedingungslos verteidigt, und stalinistische Deformationen wurden, soweit reflektiert, den Kampfbedingungen zweier konträrer Welten zugeschrieben. In der realen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und der Sowjetunion, die als Inkarnation des Sozialismus galt, wurde die Stalinsche These von der ständigen Verschärfung des Klassenkampfes zum Dogma erhoben. Das diente der Rechtfertigung restriktiver Innen- und repressiver Sicherheitspolitik, die immer stärker zu terroristischen Herrschaftsmethoden und etatistisch-bürokratischen Kommandomethoden in Gesellschaft und Wirtschaft trieben.

Historisch angelegte Demokratiedefizite und systemimmanente Krankheitskeime wucherten zu metastatischen Geschwüren. Die Entartung sozialistischer Werte und Ziele bewirkte schließlich den selbstverschuldeten Systemuntergang.

Dem moralisch-politischen Druck und den politischen Konsequenzen des »Stalinismus« unterlag auch Georgi Dimitroff, namentlich in seiner Funktion als Generalsekretär der Komintern. Wegen seiner unbedingten Treue zur Sowjetunion und angesichts seines offensichtlichen Glaubens an die Autorität Stalins, der erst spät erschüttert wurde, verstrickte sich Dimitroff in die destruktive und selbstzerstörerische Repressionspolitik des Sowjetsystems.

Mitverantwortung

Es fällt auf, daß in Dimitroffs Tagebuch - von Ausnahmen abgesehen - gewöhnlich nur knappe, zurückhaltende Eintragungen zu den Repressionen und Verfolgungen der dreißiger Jahre zu finden sind, was sicher sowohl als innere Distanz wie auch als vorsichtiger Selbstschutz gedeutet werden kann. Abgesehen von wiederholt bezeugten Fällen seines Einsatzes für die Freilassung mancher verhafteter Landsleute und direkter Mitarbeiter hat Dimitroff jedenfalls keinen energischen Widerspruch gegen die Verfolgung auch ihm bekannter Kommunisten erhoben. Somit trägt er letztlich Mitverantwortung für die Repressalien gegen sowjetische und ausländische Kommunisten, darunter viele Emigranten, die in der Sowjetunion Schutz vor faschistischer Verfolgung suchten.

Erneut erweist sich, daß Mannesmut vor dem Feind leichter ist als Widerstand gegen die vermeintlich »eigenen Leute«. In den Jahren des antifaschistischen Befreiungskrieges der Völker seit Juni 1941, in denen die zeitweilig in den Hintergrund verdrängte Volksfrontpolitik erneut politische Aktualität erlangte, nahm der Einfluß Dimitroffs vorübergehend wieder zu. Jedoch selbst nach Dimitroffs Rückkehr in seine bulgarische Heimat und als Ministerpräsident Bulgariens wurde er den Instruktionen und Kontrollen sowjetischer Organe unterworfen, die den Volksdemokratien ab 1947/48 das Sowjetsystem überstülpten und nationale Wege zum Sozialismus abschnitten.

Gesundheitlich seit langem schwer angeschlagen, mußte Georgi Dimitroff die Zerstörung seiner Vision einer Balkanförderation hinnehmen und die Verurteilung seines engen Mitstreiters Trajtscho Kostow wegen »Titoismus« erleben. Doch davon später. Die letzte Eintragung in seinem Tagebuch stammt vom 6. Februar 1949; am 2. Juli 1949 verstarb Georgi Dimitroff.

Wird fortgesetzt. Im Januar Teil 2: Der Held von Leipzig, Teil 3: Volksfrontpolitik, Teil 4: Sowjetmodell

*** Georgi Dimitrov: Dnevnik (Tagebuch) 9. Mart 1933 bis 6. Fevruari 1949. Bearbeitung, Übersetzung, Redaktion, Anmerkungen, Register: Dimitar Sirkov, Petko Boev, Nikola Avrejski, Ekaterina Kabakcieva. 794 S., Sofia 1997

Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933-1943. Hg. von Bernhard H. Bayerlein. Aus dem Russischen und Bulgarischen von Wladislaw Hedeler und Birgit Schliewenz. 712 S.

Kommentare und Materialien zu den Tagebüchern 1933-1943. Hg. von Bernhard H. Bayerlein und Wladislaw Hedeler unter Mitarbeit von Birgit Schliewenz und Maria Matschuk. Bd.2/1, Bd.2/2. 773 S. Aufbau-Verlag, Berlin 2000. DM 99

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Georgi Dimitroff - der Held von Leipzig
Die Wahrheit wider den Geschichtsrevisionismus um Reichstagsbrand und Leipziger Prozeß. Von Ernstgert Kalbe

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- Zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs (Teil II) -

Die Weltöffentlichkeit war sich nach dem Leipziger Reichstagsbrandprozeß weitgehend einig: Das vermeintlich »kommunistische Aufstandsfanal« der Brandstiftung im Reichstag am 27. Februar 1933 war eine faschistische Provokation zur Begründung der Notverordnung vom 28. Februar und des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März sowie zur Manipulation der Reichstagswahlen vom 5. März 1933, zur Zerschlagung der marxistischen Arbeiter- und jeder demokratischen Bewegung, zur Beseitigung der Verfassung der Weimarer Republik und zur Stabilisierung des faschistischen Terrorregimes in Deutschland.

Der kommunistischer Sympathien unverdächtige US- amerikanische Konsul in Leipzig, Ralph C. Busser, brachte das in seinem Bericht vom 14. April 1934 - ein gutes Vierteljahr nach dem erzwungenen Freispruch der wegen hochverräterischer Brandstiftung inkriminierten kommunistischen Angeklagten Georgi Dimitroff, Blagoj Popoff, Wassil Taneff und Ernst Torgler im Reichstagsbrandprozeß - an das State Department in Washington auf den juristischen Nenner vom »cui bono« dieser Brandstiftung. Unter dem ironischen Titel »The Riddle of the Revolution. Political aspects of the Reichstag Fire Trial« (Das Wunder der Revolution. Politische Aspekte des Reichstagsbrandprozesses) konstatiert Busser, daß »der Reichstagsbrandprozeß angesichts der höchst bedeutsamen politischen Interessen und der involvierten Persönlichkeiten natürlich weltweites Interesse hervorrief und sich als ein berühmter Fall in die größten politischen und Ketzerprozesse der Geschichte einreihen wird, solche wie das Verfahren gegen Sokrates, das Verfahren gegen Christus vor Pilatus, die Verhandlungen gegen Jeanne d'Arc, Martin Luther, Galileo Galilei, Maria Stuart, Königin von Schottland, Karl I., Warren Hastings und - in neuerer Zeit - der Dreyfus-Prozeß in Frankreich und der kürzliche Prozeß gegen die britischen Ingenieure in Sowjetrußland.« (S. 12/13)

Geschichtsrevisionismus

Seither wurden Dutzende von Untersuchungen angestellt, die die Verantwortung der Nazis für die Reichstagsbrandstiftung nachweisen - darunter nicht nur Zeitzeugnisse des antifaschistischen Widerstands, sondern auch spätere wissenschaftliche Arbeiten von Historikern, Politologen, Kriminologen und Brandtechnikern. Ungeachtet dessen wurde in der Bundesrepublik seit den späten 50er Jahren eine Debatte über Ursachen und Täter der Reichstagsbrandstiftung vom Zaun gebrochen, die die Nazis von Schuld entlasten und mit der Behauptung von der Alleintäterschaft des in die Nähe kommunistischer Ideen gerückten Holländers van der Lubbe unterschwellig allgemeine Verdachtsmomente gegen »die Kommunisten« schüren sollte.

Den Auftakt zu diesem Geschichtsrevisionismus bildete 1959 eine Serie des Verfassungsschutzbeamten Fritz Tobias im »Spiegel« (1959, Nr. 43-52; 1960, Nr. 1-2) unter der Überschrift »Stehen Sie auf, van der Lubbe! Der Reichstagsbrand 1933. Geschichte einer Legende«, die Tobias 1962 in Buchform wiederholte: »Der Reichstagsbrand - Legende und Wirklichkeit«. Damit sollte der zuvor von Richard Wolff in der Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (Aus Politik und Zeitgeschichte) vom 18. 1. 1956 publizierte Forschungsbericht über den Reichstagsbrand 1933 desavouiert werden. Tobias bedient sich generell unglaubwürdiger Nazizeugen, darunter der Gestapo-Chef Rudolf Diels, der 1933 direkt Hermann Göring unterstellt und mit der Verfolgung der kommunistischen Bewegung befaßt war.

Der energische Widerspruch, der von bekannten Wissenschaftlern erhoben wurde, wie vom Politologen Karl Dietrich Bracher, vom Historiker Walther Hofer, vom Politologen Eugen Kogon, vom Historiker Golo Mann, vom Literaturwissenschaftler Hans Mayer sowie vom Historiker Friedrich Zipfel - Positionen früherer DDR-Wissenschaftler werden absichtlich nicht genannt -, wurde ohne Bedenken in den Wind geschlagen.

Schließlich sahen sich die renommierten Münchener Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte zur Überprüfung der Tobias-Thesen im »Spiegel« veranlaßt. Nachdem Martin Broszat in »grundsätzlichen Erörterungen« zum »Streit um den Reichstagsbrand« (Jg. 1960, Nr. 3, S. 277f.) wenigstens ein »peinliches Entdeckerpathos« des Spiegel in Sachen Reichstagsbrand anmerkte, »weil es bestätigt, wie nachhaltig der propagandistisch glänzende Einfall Hitlers gewirkt hat, die eigentliche Staatsstreichbrandfackel (die Notverordnung vom 28. 2. 1933 mit ihren unzähligen Konsequenzen) im Schatten des weithin sichtbaren Feuers im Reichstag anzustecken«, stellte sich die spätere »Recherche« des Historikers Hans Mommsen zum »Reichstagsbrand und seinen politischen Folgen« (Jg. 1964, Nr. 12, S. 351ff.) voll hinter die »Alleintäterthese« von Tobias und verlieh ihr damit quasi wissenschaftliche Weihen.

Ungeachtet zwischenzeitlich vorgelegter neuer Forschungsergebnisse, z.B. des »Internationalen Komitees Luxemburg« (»Der Reichstagsbrand. Eine wissenschaftliche Dokumentation«), oder der soliden Dokumentenbände »Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff«, die die Marxismus-Institute in Berlin, Moskau und Sofia 1982 bis 1989 herausgaben, fand die »Alleintäterthese« mit ihrer die Nazis entlastenden Geschichtsfälschung und ihrer antikommunistischen Folgewirkung bis heute unkorrigierten Eingang in die bundesdeutschen Schulbücher.

Wie Volker Külow im ND-Beitrag vom 29. 12. 2000 über die »Mär vom Einzeltäter« belegt, stellt sich nun obendrein heraus, daß das Münchener Institut ursprünglich nicht Hans Mommsen mit der Überprüfung der Spiegel-Recherche beauftragte, sondern zunächst den Historiker Hans Schneider engagiert hatte. Dessen Studie erklärte die von Tobias vorgetragene Argumentation für die Alleintäterschaft van der Lubbes als »in der Wissenschaft ohne Beispiel«. Offenbar deshalb hielt Hans Mommsen in einer Aktennotiz für das Institut fest, daß »aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht scheint«.

Entlarvte Brandstifter

Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand stellte sich Ernst Torgler, der Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion, zum Beweis seiner Unschuld den Polizeibehörden, während die »drei verdächtigen Ausländer« Dimitroff, Popoff und Taneff infolge einer Denunziation am 9. März 1933 in die Hände der faschistischen Inquisitoren fielen. Die Nazis behaupteten gleich nach dem Brand ohne Beweis ein »internationales kommunistisches Komplott« der »aufrührerischen Brandstiftung und des Hochverrats«.

In seiner ersten schriftlichen Erklärung an die polizeiliche Untersuchungsbehörde stellte Georgi Dimitroff fest: »Nach meiner tiefen Überzeugung kann die Inbrandsetzung des Reichstages nur das Werk verrückter Leute oder aber der ärgsten Feinde des Kommunismus sein, die durch diesen Akt eine günstige Atmosphäre für die Zertrümmerung der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Partei Deutschlands schaffen wollen. Ich bin aber weder verrückt noch ein Feind des Kommunismus.« Damit gab Georgi Dimitroff schon die Linie vor, die er sowohl in der Untersuchungshaft als auch während des Reichstagsbrandprozesses zur Entlarvung der faschistischen Brandstifter und zu seiner politischen Selbstverteidigung einschlagen würde. Und er wußte, worauf er sich einlassen würde: Denn am 1. April 1933 notiert er im »Tagebuch« nach der Tagespresse die Erklärung von Reichskommissar Hanns Kerrl, wonach es »das Vorurteil des formalliberalistischen Rechts ist, daß der Götze der Rechtsprechung die Objektivität sein muß. ... Was ist denn Objektivität im Augenblick des Lebenskampfes eines Volkes? Kennt der kämpfende Soldat, kennt das ringende Heer Objektivität? ... So ist es einmal eine Selbstverständlichkeit, daß die Justiz eines auf Tod und Leben kämpfendes Volkes nicht tote Objektivitätsanbetung betreiben kann. ...« (S. 8f.)

Wirklich: Weder die Methoden der Voruntersuchung noch die Prozeßführung waren »objektiv«, vielmehr der Versuch, mit allen Mitteln - Pressionen gegen die Angeklagten, falsche Zeugenaussagen, Vertuschung der wahren Spuren, Verhinderung einer unabhängigen Verteidigung, verlogene Berichterstattung, Anwendung rückwirkender Strafgesetze, antikommunistische Hysterie und brauner Terror - »Ersatztäter« anstelle der wirklich Schuldigen dingfest zu machen. Im Lichte dieser Tatsachen erscheint die oft wiederholte Behauptung von der damaligen »Unabhängigkeit« der deutschen Justiz im allgemeinen und des IV. Strafsenats des Reichsgerichts um Dr. Wilhelm Bünger im besonderen als bestenfalls verlogene Halbwahrheit.

In der halbjährigen Untersuchungshaft war Dimitroff fünf Monate (5. 4. - 31. 8.) in Handschellen gefesselt und mußte unter solchen Bedingungen lesen, schreiben, essen und seine Verteidigung vorbereiten. Alle 23 in- und ausländischen Rechtsanwälte, die von Dimitroff oder seiner Familie als Wahlverteidiger beauftragt wurden, lehnte das Gericht ab und bestellte statt dessen den »Stahlhelmer« Dr. Paul Teichert als Offizialverteidiger, den Dimitroff als »Saboteur der Verteidigung« bezeichnete. Dimitroff setzte sein Recht auf Selbstverteidigung durch (S. 40 ff.) Im Verlauf des am 21. September 1933 begonnenen Prozesses wurde Dimitroff mehrfach wegen »Beamtenbeleidigung« von den Verhandlungen ausgeschlossen und so seine Selbstverteidigung behindert.

Prozeß aus den Fugen

Dennoch geriet der Prozeß am dritten Tag mit dem ersten Auftritt Dimitroffs vor Gericht aus den Fugen: »Es ist wahr, daß ich ein Bolschewik, ein proletarischer Revolutionär bin. ... Wahr ist auch, daß ich als Mitglied des ZK der bulgarischen KP und Mitglied der Exekutive der KI ein verantwortlicher und führender Kommunist bin ... Aber gerade deswegen bin ich kein terroristischer Abenteurer, kein Putschist und kein Brandstifter!« Die Rundfunkübertragung des Prozesses wurde sofort eingestellt.

Die Prozeßführung war von Anbeginn tendenziös. Fast alle von Dimitroff benannten Zeugen wurden abgelehnt. Dafür wurden alle denkbaren Belastungszeugen aufgeboten, die die Anklage stützen sollten: von NSDAP-Abgeordneten und -Ministern, Untersuchungs- und Kriminalbeamten, käuflichen Journalisten und Polizisten bis zu Psychopathen und Kriminellen. Mit den Brandsachverständigen und inhaftierten Arbeiterzeugen hatte das Gericht wenig Glück. Bekannt sind der von Dimitroff während der Verhandlungen gezeichnete »Teufelskreis«, der nach dem »Mephisto« im Zentrum der Nazizeugen fragt, die Kontakte zwischen den Angeklagten behaupteten, sowie sein Zwischenruf am 31. Oktober bei der Vernehmung des Kriminellen Lebermann, daß damit der Kreis der Anklage-Zeugen geschlossen sei, »angefangen mit nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten und beendet mit einem Dieb«. (S. 57)

Ausführlicher dokumentierte Dimitroff seine Strategie des antifaschistischen Kampfes, der Einheitsfront, die er insbesondere bei der Vernehmung der Arbeiterzeugen entwickelte. In seiner großen Schlußrede vom 16. Dezember argumentierte er, daß im Februar/März 1933 die Herstellung der Einheitsfront »keineswegs den Aufstand und dessen Vorbereitung« bedeutete, sondern »die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den räuberischen Feldzug der Kapitalisten und gegen die Gewalt der Nationalsozialisten.« Er brachte die politische Linie auf den Punkt: »Massenarbeit, Massenkampf, Massenwiderstand, Einheitsfront, keine Abenteuer - das ist das Alpha und Omega der kommunistischen Taktik«. Und nachdem er Goethe zitiert hatte, wonach »auf des Glückes großer Waage« die Zunge selten einstünde, man entweder »leiden oder triumphieren, Amboß oder Hammer sein« müsse, schlußfolgerte Dimitroff: »Ja, wer nicht Amboß sein will, der muß Hammer sein! Diese Wahrheit hat die deutsche Arbeiterschaft in ihrer Gesamtheit weder 1918 noch 1923 noch am 20. Juli 1932 noch im Januar 1933 verstanden.« (G. Dimitroff, Reichstagsbrandprozeß, S. 168, 180)

Unter dem Gewicht der Tatsachen wie der Selbstverteidigung Dimitroffs und angesichts der internationalen Solidaritätswelle mit den unschuldig Angeklagten mußte das Gericht am 23. Dezember die Angeklagten Dimitroff, Popoff, Taneff und Torgler »mangels Beweisen« freisprechen, obwohl Dimitroff Freispruch »wegen erwiesener Unschuld« beantragt hatte.

Internationale Solidarität

Hartnäckig wird bis in jüngste Zeit behauptet, daß Dimitroff nur deshalb eine so unerschrockene Haltung während des Leipziger Prozesses einnehmen konnte, weil er vorab um einen Deal von sowjetischem NKWD und faschistischer Gestapo gewußt habe, ihn nach dem Prozeß in die UdSSR abzuschieben. Damit wird nicht nur die Drohung Görings vor Gericht bagatellisiert und der »Held von Leipzig« herabgesetzt, sondern gemäß der »Totalitarismusdoktrin« werden Faschismus und Kommunismus gleichgesetzt.

Die Wahrheit sieht indessen anders aus. Tatsächlich fürchtete das Hitlerregime die Reaktion der Weltöffentlichkeit, zumal während des Leipziger Prozesses »eine Einheitsfront im Weltmaßstab entstand, obwohl formell kein Pakt abgeschlossen worden war« - wie Dimitroff feststellte. Ungewöhnlich war bereits, daß Senatspräsident Dr. Bünger bei der Prozeßeröffnung mit einem Statement auftrat, wonach das weltweite Interesse am Prozeß den Gerichtshof nicht beeinflussen könne, sondern dieser sich lediglich nach dem Prozeßverlauf richten werde. Das war eine Reaktion auf das »Braunbuch«, ein antifaschistisches Zeitdokument in der Regie Willi Münzenbergs, und auch auf die »Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Reichstagsbrandes - den sogenannten Londoner Gegenprozeß - unter Vorsitz des britischen Kronanwalts D. N. Pritt, der am Vorabend des Prozesses in Leipzig ein gründlich recherchiertes Gutachten zur Reichstagsbrandstiftung veröffentlichte, wonach es erstens unmöglich war, daß van der Lubbe das Feuer allein gelegt haben konnte, zweitens vieles dafür sprach, daß Nazikreise die Brandstiftung ausgeführt hatten, drittens die vier angeklagten Kommunisten in keinerlei direkter oder indirekter Beziehung zum Reichstagsbrand standen (D. N. Pritt, Memoiren, 1970, S. 30 ff., 40).

Die demokratische Weltöffentlichkeit war es, die den Freispruch der Angeklagten erzwang; die Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft am 15. Februar 1934 an die drei Bulgaren bewirkte nach weiteren zwei Monaten »Schutzhaft« ihre Freilassung am 27. Februar 1934. Das war nicht vorbestimmt, denn noch am 4. Januar 1934 insistierte Gestapo-Chef Diels in einer interministeriellen Beratung im Auftrage Görings darauf, daß »dem Herrn Ministerpräsidenten keinesfalls zugemutet werden könne, daß ein politischer Verbrecher, der für alle Zukunft sein geschworener Feind sein müsse, in Freiheit gesetzt werde«. Vielmehr ginge die Absicht des preußischen Ministerpräsidenten dahin, »Dimitroff in ein Konzentrationslager zu bringen und ihn dort genauso zu behandeln wie die anderen maßgeblichen kommunistischen Funktionäre Thälmann, Schneller usw. ... Jedenfalls sei es eine undenkbare Vorstellung, wenn ein Mann wie Dimitroff, der durch den Leipziger Prozeß in aller Welt bekannt geworden sei, und der aus seiner rein bolschewistischen Einstellung nie ein Hehl gemacht habe, ohne weiteres Deutschland verlassen und nun gewissermaßen einen Siegeszug durch die ganze Welt antreten könne.« (Niederschrift des Reichsinnenministeriums vom 4.1.1934)

Die Intervention der Sowjetregierung zugunsten ihrer Staatsbürger erzwang schließlich deren »Ausweisung« in die UdSSR, genau am Jahrestag des Reichstagsbrandes. Es geht nicht um eine undifferenzierte Glorifizierung von Dimitroffs Lebensweg, wohl aber darum, seinem antifaschistischen Kampf Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, den er während des Reichstagsbrandprozesses schon führte, als andere, heute hochgeehrte Persönlichkeiten, z.B. Männer des 20. Juli 1944, noch tief in das Herrschaftssystem des Hitlerfaschismus verstrickt waren.

Vorauseilender Gehorsam

Als die Leipziger Stadtratssitzung am 11. Juni 1997 in vorauseilendem Gehorsam vor dem künftigen Hausherrn des Gebäudes des ehemaligen Reichsgerichts, dem Bundesverwaltungsgericht, die Umbenennung des vorgelagerten Georgi-Dimitroff-Platzes mit 32 Stimmen bei 25 Gegenstimmen und sieben Enthaltungen beschloß - schon zur Wende war das Georgi-Dimitroff-Museum aus dem Gebäude exmittiert worden - bewies sie blinden Eifer bei der Eliminierung antifaschistischer Geschichtstraditionen. Das leitete Wasser auf die Mühlen des nicht zufällig auflebenden Rechtsextremismus. Ist die Tilgung des Andenkens an bekannte Antifaschisten, die Kritik am angeblich in der DDR »verordneten Antifaschismus« nicht Ermunterung für neofaschistische Kräfte, gerade auch im Osten Deutschlands?

Dennoch bleibt es dabei: Georgi Dimitroff ist der »Held von Leipzig«, der dem Antifaschismus weltweit Impulse verlieh und dem Faschismus die erste schwere politische Niederlage beibrachte!

(Wird demnächst fortgesetzt. Der erste Teil erschien am 22. Dezember 2000)

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Höhen und Tiefen der Volksfrontpolitik
Zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs (Teil III). Von Prof. Dr. Ernstgert Kalbe

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Zunächst eine Vorbemerkung: Die deutsche Ausgabe (Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933-1943, hrsg. von Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000, 708 S. Tagebuchtext) und die großformatige bulgarische Ausgabe (Georgi Dimitrov, Dnevnik: 9 mart-6 februari 1949, Sofia 1997, 652 S. Tagebuchtext) unterscheiden sich zunächst dadurch, daß erstere die Eintragungen Dimitroffs nur bis zur Auflösung der Komintern im Juni 1943, letztere seine vollständigen Tagebuchnotizen bis Anfang 1949 beinhaltet - wie mir scheint ein konzeptionell unterschiedliches Anliegen beider Veröffentlichungen: Die deutsche Ausgabe will eine vorwiegend kritische Sicht auf Dimitroffs Rolle in der Komintern vermitteln, während die bulgarische Ausgabe die Persönlichkeit Dimitroffs in ihrem gesamten Wirken mit Verdiensten und Verfehlungen, deren roter Faden im unbeirrbaren Antifaschismus besteht, vorstellen möchte.

Zum heutigen Gegenstand: Trotz der gewählten Überschrift möchte der Rezensent, gestützt auf beide Ausgaben, seine Betrachtungen bis Mai 1945, bis zum Sieg der Antihitlerkoalition über den Hitlerfaschismus ausdehnen, weil darin die Konsequenz der über Höhen und Tiefen verfolgten Volksfrontpolitik, quasi als Kehrseite zur Politik der kollektiven Sicherheit und Antihitlerkoalition, besteht. Die historische Zäsur - auch im Leben Dimitroffs - ist der 8. Mai 1945, nicht der 8. Juni 1943!

Neue Verantwortung

Nach der Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft an die im Reichstagsbrandprozeß freigesprochenen Bulgaren wurden Dimitroff, Popoff und Taneff ausgewiesen und am 27. Februar 1934 per Flugzeug via Königsberg nach Moskau geflogen, wo ihnen ein grandioser Empfang bereitet wurde.

Bei einer Zusammenkunft mit Stalin, Molotow, Knorin und anderen am 7. April 1934 wurde Dimitroff zur leitenden Arbeit in der Komintern gedrängt. Wenig später drängte auch Dimitri S. Manuilski Georgi Dimitroff, daß man aus dem Gespräch mit Stalin Konsequenzen ziehen müsse: »Wir brauchen in der KI einen >Chasjain< (Hausherrn). Die Geschichte hat Dich durch den Leipziger Prozeß in den Vordergrund gestellt. Du hast ungeheure Popularität unter den Massen. Deine Stimme hat kolossale Resonanz. Du mußt die Leitung übernehmen. Ehrenwort, ich werde Dir mit 120 Prozent in allem helfen. Du mußt die Leute auswählen und sie zusammenführen. Das wird nicht leicht gehen. Es gibt vieles umzustellen. Bei uns gibt es schreckliche Routine und Bürokratismus. Ich habe längst versucht, das zu verändern, aber mir fehlt die nötige Autorität. Du hast diese Autorität. Und wenn es auch Dir nicht gelingen sollte, dann bliebe alles wieder beim alten - und ich muß Dir sagen, dann hat es keinen Zweck, in der KI zu arbeiten. (...) Notwendig ist der Kontakt mit Stalin. Bei Dir wird das leichter sein. Er wird sich mit Dir verständigen.« (deutsche Ausgabe S.103)

In der Tat: Dimitroff fand Zugang zu Stalin. Wegen seiner unwandelbaren Ergebenheit gegenüber der Sowjetunion und angesichts seines offensichtlichen Glaubens in die Autorität Stalins, der dieses Vertrauen seinerseits lange - mit Schwankungen bis zum Kriegsende - erwiderte, betrieb Dimitroff in der Komintern eine auf die UdSSR gestützte und zugleich von ihr abhängige Politik, die er nicht als hegemoniale sowjetische Großmachtpolitik, sondern als im Interesse eines weltrevolutionären Prozesses liegend begriff. Von der kommunistischen Bewegung seiner Zeit geprägt, verteidigte Dimitroff die Sowjetunion bedingungslos als vermeintliche Inkarnation sozialistischer Hoffnungen und verdrängte dabei, soweit überhaupt reflektiert, auch stalinistische Deformationen.

Tatsächlich gab es damals wohl auch zwei Wahrheiten nebeneinander: einerseits Arbeitsenthusiasmus und Aufschwung im Sowjetlande und andererseits eine repressive Modernisierungs- und Sicherungspolitik, die in quasi zaristisch-etatistischer Tradition zu terroristischen Herrschafts- und bürokratischen Kommandomethoden in Gesellschaft und Wirtschaft mutierte. In diesem Kontext verstrickte sich auch Dimitroff in die destruktive und letztlich selbstzerstörerische Repressionspolitik des stalinistischen Sowjetsystems.

Obwohl infolge der faschistischen Haft gesundheitlich schwer angeschlagen, stürzte sich Georgi Dimitroff - von vielen Krankheiten unterbrochen - engagiert in die Vorbereitung des VII. Weltkongresses der Komintern, was im Tagebuch nur spärlich dokumentiert ist. Notizen zum Jahr 1935 fehlen fast vollständig und über den VII. Weltkongreß vom 25. Juli bis 20. August 1935 gänzlich. Offenbar wurden diese Seiten - warum auch immer - aus dem Tagebuch herausgerissen.

Wende in der Kominternpolitik

Ausgewiesen sind nur Beratungen über die Tagesordnung im April/Mai 1934, bekannt sind sein Brief samt Exposé zum Hauptreferat, das Ende Juni/Anfang Juli in der Vorbereitungskommission beraten wurde, sowie die Tagung des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) im Dezember 1934, auf der Erfahrungen der antifaschistischen Bewegung und strategische Konsequenzen der Aktionseinheit gegen Faschismus und Krieg erörtert wurden.

Die Beschlüsse des VII. Weltkongresses zur antifaschistischen Einheits- und Volksfrontpolitik, mit denen die Konsequenzen des faschistischen Machtantritts in Hitlerdeutschland gezogen und die Erfahrungen der französischen Volksfront 1934/35, der bewaffneten Kämpfe in Österreich im Februar 1934 sowie des bewaffneten Generalstreiks im Oktober 1934 in Spanien verallgemeinert wurden, stellen eine wirkliche Wende in der Politik der Komintern dar, die gegen linksorthodoxe Auffassungen durchgesetzt werden mußte. Nicht zufällig scheint mir, daß Dimitroff im »Tagebuch« gleichsam als sein Credo des Antifaschismus immer wieder auf Jahrestage des Reichstagsbrandprozesses zurückkommt.

Gegen Faschismus und Krieg

Georgi Dimitroff definiert im November 1936 nochmals den Sinn der Volksfrontpolitik: Die Herstellung der Volksfront bedeute, wie am Beispiel Frankreichs und Spaniens ersichtlich, einen Umschwung im Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Werktätigen einerseits und der faschistischen Bourgeoisie andererseits: »Ebnen die Spaltung in den Reihen der Arbeiterklasse und das Fehlen der Aktionseinheit zwischen ihr und den übrigen werktätigen Volksschichten dem Faschismus den Weg zur Macht, so sichern die Einheit der proletarischen Reihen, die Bildung der Volksfront den Sieg der Demokratie über den Faschismus, schützen die Welt vor den faschistischen Kriegsbrandstiftern und ebnen letzten Endes den Weg zum Sieg der Arbeit über das Kapital.« (Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Bd. 3, S. 37 f.). Deshalb betrachtete er es als »politische Kurzsichtigkeit« linker Kritiker, der Politik der Volksfront die Prinzipien des Klassenkampfes entgegenzusetzen. Wiederholte Angebote des EKKI an die Sozialistische Arbeiter-Internationale zur Aktionseinheit gegen den Faschismus scheiterten an wechselseitigen Vorbehalten, bewirkten jedoch wenigstens die Duldung von Einheitsfrontabkommen auf nationaler Ebene, so in Frankreich und Spanien.

Das »Tagebuch« gibt Einblick in vielfältige Aktivitäten zur Entwicklung der Volksfront in Europa. Es dokumentiert das Auf und Ab der Volksfront in Frankreich. Es belegt die vielfältige politische, materielle und militärische Hilfe von Komintern und Sowjetunion für die spanische Republik gegen den Franco-Putsch, macht jedoch auch deutlich, daß sich wirksame Aktionen wiederholt mit politischer Einmischung in innere Angelegenheiten verbanden.

Die eskalierende Aggressivität des Faschismus, verbunden mit einer beschämenden »Befriedungspolitik« der Westmächte gegenüber den faschistischen Achsenmächten, bewirkten die Schwächung und Niederlagen der Volksfrontpolitik seit 1938. Diese Entwicklung kulminierte in der sogenannten Sudetenkrise und dem schändlichen Münchener Abkommen vom 29. September 1938 zur Preisgabe der Tschechoslowakei, das die Politik der kollektiven Sicherheit fragwürdig machte, die Volksfront in Frankreich spaltete und die spanische Volksfront schrittweise zum Rückzug zwang. Dimitroff konstatierte am 11. Oktober 1938: »Zieht man ein vorläufiges Fazit der jüngsten Ereignisse, muß man sagen, daß die Arbeiterklasse (und das bedeutet auch die kommunistische Partei) der wichtigsten kapitalistischen Länder auch diesmal die Prüfung nicht bestanden hat. Dem Faschismus ist ein weiterer zeitweiliger Sieg gelungen, zudem ein für ihn unblutiger Sieg, der fast keine Opfer gekostet hat.« (S. 204)

Die Sowjetregierung leitete im Mai 1939 mit der Ablösung von M. M. Litwinow und der Ernennung W. M. Molotows zum Außenminister einen außenpolitischen Kurswechsel ein, der im Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages gipfelt.

Verstrickung in Repressionen

Der wegen der internationalen Lage ohnehin deutliche Einflußverlust der Komintern verband sich zudem mit der Eskalation der innenpolitischen Repressionspolitik Stalins, die nicht ohne Auswirkungen auf die Komintern bleiben konnte. Dimitroffs »Tagebuch« verzeichnet - von Ausnahmen abgesehen - gewöhnlich nur knappe, zumeist zurückhaltende Einträge zu den Verfolgungen und Prozessen der dreißiger Jahre, was man als innere Distanz oder vorsichtigen Selbstschutz auffassen kann. Natürlich registriert er den ersten Moskauer Schauprozeß vom August 1936 (gegen Kamenjew, Sinowjew und weitere Angeklagte) wie den zweiten vom Januar 1937 gegen das »antisowjetische trotzkistische Zentrum« (Pjatakow, Sokolnikow, Radek und andere) ebenso wie die »Jagd« auf den »Block der Rechten und Trotzkisten«, dem im März 1938 Bucharin, Rykow und viele andere zum Opfer fielen. Mit Ausnahme einer negativen Bemerkung zu Bucharin trifft Dimitroff aber keine persönlichen Wertungen.

Im Gegensatz dazu gibt er breit zwei Gespräche mit Lion Feuchtwanger und Maria Osten vom 18. Dezember 1936 (S. 140) und 2. Februar 1937 (S. 148) wieder. Im ersten Gespräch drückte Feuchtwanger sein Unverständnis darüber aus, daß »alle Angeklagten alles gestehen«, obwohl außer den Geständnissen keine Beweise vorliegen, während er beim zweiten Gespräch Spionage und Diversionsakte einräumt, jedoch nochmals konkreten Beweismangel moniert und Kritik an »unflätigen Beschimpfungen der Angeklagten« übt.

Dimitroff merkt zum ersten Gespräch an, daß »die Protokolle des Prozesses nachlässig zusammengestellt, voller Widersprüche und nicht überzeugend« seien, während zum zweiten Besuch festgehalten wird, daß »in der Bevölkerung eine Atmosphäre außerordentlicher Unruhe entstanden« sei, »gegenseitiger Verdächtigungen, Denunziationen usw«.

Wiederholt erlebt Dimitroff die Verhaftung sowjetischer und ausländischer Mitarbeiter des EKKI, Mitstreiter aus engster Umgebung, die er häufig ohne Einspruch hinnimmt. Besonders tragisch ist die Verstrickung Dimitroffs in die Auflösung der KP Polens im November 1937 und die Verfolgung ihrer ZK-Mitglieder. Andererseits bezeugt das »Tagebuch« wiederholte Fälle seines Einsatzes für verhaftete bulgarische Landsleute oder ausländische Kommunisten, darunter deutsche und jugoslawische Emigranten, was schon aus jugoslawischen Quellen bekannt ist.

Übrigens war auch die Komintern-Führung unverhüllten Drohungen ausgesetzt, so Stalins, der die Komintern beschuldigte, »dem Feind in die Hände zu arbeiten« (S. 149), oder Jeshows, der »die größten Spione« in der KI wähnte (S. 158). Letztlich trägt Dimitroff Mitverantwortung für Repressalien gegen sowjetische und ausländische Kommunisten, auch wenn er versuchte, das Schlimmste von der Komintern abzuwenden. Angesichts der damals herrschenden Umstände ist freilich eine Alternative schwer vorstellbar, was erneut bestätigt, daß Widerspruch gegen die eigene Partei schwerer war als Widerstand gegen den Feind.

Nach dem Scheitern der Bündnisverhandlungen zwischen der UdSSR und den Westmächten im Sommer 1939 unterschrieb die Sowjetregierung am 23. August den »deutsch- sowjetischen Nichtangriffspakt« und am 26. September 1939 einen »Grenz- und Freundschaftsvertrag«. War der erstgenannte Vertrag unter dem Aspekt sowjetischer Staatsräson noch erklärlich, so verletzten das zugehörige Geheimprotokoll wie der zweite Vertrag - wegen seiner territorialen Konsequenzen, namentlich der polnischen Teilung - alle völkerrechtlich gesetzten Normen.

Konträre Kriegssituationen

Dieser außenpolitische Kurswechsel wurde offenbar nicht mit dem EKKI vorberaten, wie die seltsam knappen Notizen im »Tagebuch« zum Nichtangriffspakt verraten, der faktisch die antifaschistische Volksfrontpolitik desavouierte. Nicht nur in den kommunistischen Parteien verbreitete sich Unsicherheit; es dauerte immerhin bis zum 9. September, ehe das EKKI - nach Instruktion durch Stalin - eine Direktive verabschiedete, die den am 1. 9. 1939 begonnenen Zweiten Weltkrieg als »imperialistischen, ungerechten Krieg zweier Gruppen kapitalistischer Länder um die Weltherrschaft einschätzte, weshalb »die Teilung der kapitalistischen Staaten in faschistische und demokratische« jetzt »ihre frühere Bedeutung verloren« habe und die kommunistischen Parteien eine gegen den imperialistischen Krieg gerichtete Politik verfolgen müßten (S. 275).

Dimitroff orientierte nunmehr auf eine »antiimperialistische Volksfront«, auf Massenaktionen zur Beendigung des Krieges, auf Verhinderung der Einbeziehung weiterer Länder in den Krieg, gestützt auf die Sowjetunion.

Dennoch unterstützte Dimitroff den national gerechten Widerstand der vom Faschismus okkupierten oder versklavten Länder und Völker, z.B. der Tschechoslowakei und Polens oder später Frankreichs und Jugoslawiens, wie aus Dokumenten des Dimitroff-Fonds 146 im ehemaligen bulgarischen Parteiarchiv hervorgeht. Erst mit dem Überfall der faschistischen Achsenmächte am 22. Juni 1941 auf die UdSSR erlebte die antifaschistische Volksfrontstrategie ihre nachdrückliche Auferstehung, wie wir sowohl aus einer Dimitroff-Rede vor dem EKKI-Sekretariat vom gleichen Tage (CPA Sofia, Fonds 146, Op.2., A.E.431, pag.2-4) wie aus seinem »Tagebuch« wissen: aktive Unterstützung des Vaterländischen Krieges der Sowjetunion; Organisierung nationaler Befreiungsbewegungen in den faschistisch besetzten Ländern; Hauptschlag gegen den Faschismus, für Demokratie und Unabhängigkeit! Die operative Leitung des EKKI wurde in die Hände von Dimitroff, Manuilski und Ercoli (Palmiro Togliatti) gelegt und konzentrierte sich auf die Unterstützung der KPs bei der Schaffung nationaler antifaschistischer Fronten, auf die Entfaltung des Widerstandes und Partisanenkrieges im Hinterland des Feindes, auf antifaschistische Rundfunkpropaganda und auf die Arbeit unter kriegsgefangenen Soldaten der Achsenmächte.

Der Vorwurf der Kooperation des EKKI mit dem sowjetischen NKWD und der militärischen Abwehr geht insofern ins Leere, als Aktivitäten ausländischer Bürger unter Kriegsbedingungen in jedem Lande geheimdienstlich observiert und begleitet werden, was keine unbegründeten Verhaftungen rechtfertigt, die es freilich weiterhin zur Genüge gab.

Insgesamt sei festgestellt, daß das EKKI und Dimitroff als Person während der ersten Kriegsjahre eine ungeheure Arbeit bewältigten, auch als Komintern-Organe während der Schlacht um Moskau aus der Hauptstadt nach Kuibyschew und Ufa umsiedelten.

Besondere Erwähnung verdienen der engagierte Einsatz Dimitroffs für die Gründung der Polnischen Arbeiterpartei um P. Finder, M. Novotko und B. Molojec im Jahre 1942, seine Unterstützung der jugoslawischen Volksbefreiungsbewegung um die KPJu und J. B. Tito, die lange gegen zögerlichen Widerstand Stalins erfolgte, sowie die enge Zusammenarbeit mit der KPD (W. Pieck, W. Florin, W. Ulbricht und A. Ackermann) hinsichtlich des deutschen Radiosenders, der Arbeit unter den Kriegsgefangenen und der Gründung eines »Nationalkomitees Freies Deutschland«.

Im Umgang mit seinen Mitarbeitern war Dimitroff an kollegialer Zusammenarbeit interessiert. Als z.B. einige Abteilungsleiter ihren Mitarbeitern den direkten Zugang zu Dimitroff verbieten wollten, ordnete er an, »daß jeder Mitarbeiter des EKKI-Apparates sich direkt an den Generalsekretär wenden kann, wenn er dies im Interesse der Sache für notwendig erachtet.« (S. 618)

Auflösung der Komintern, kein Ende der Arbeit

Im Frühjahr 1943 drängte die sowjetische Führung mit Rücksicht auf Empfindlichkeiten der westlichen Alliierten, die die Komintern als Instrument sowjetischer Außenpolitik verstanden, auf die Auflösung der Komintern. Nach mehreren Beratungen im EKKI- Präsidium wurde die Meinung der nationalen KI- Sektionen eingeholt, die dem Vorschlag sämtlich zustimmten. Mit der Begründung, daß die Leitung der nationalen Arbeiterparteien von einem Zentrum aus nicht mehr möglich sei, wurde am 8. Juni 1943 die Auflösung der Komintern beschlossen (S. 689-706).

Zur Weiterführung der internationalen Zusammenarbeit wurde im ZK der KPdSU (B) eine Abteilung »Internationale Information« gebildet, deren nominelle Leitung anfangs bei A. S. Tschtscherbakow und alsbald direkt bei Georgi Dimitroff lag.

In den letzten beiden Kriegsjahren stand für Georgi Dimitroff die Beratung der KPs, vor allem der ost- und südosteuropäischen Länder bei der Entfaltung des antifaschistischen Widerstands, der Formierung Nationaler Fronten, der Erarbeitung volksdemokratischer Programmdokumente für die Nachkriegszeit und bei der Zusammenarbeit der Parteien der Balkanländer im Vordergrund. Unüberhörbar sind seine Warnungen vor übereilten Schritten zu sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen.

Wesentliche Aussagen sind auch zur Arbeit mit den polnischen und deutschen Kommunisten an deren politischen Nachkriegskonzeptionen enthalten. Am 17. März 1945 notiert Georgi Dimitroff Gespräche mit Stalin und Molotow zur deutschen Frage nach der Jalta-Konferenz (bulg. Ausgabe, S. 471). Endlich am 8. März 1945 verzeichnet Dimitroff im »Tagebuch«: »In Berlin wurde der Akt der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands unterzeichnet. Der Krieg in Europa ist beendet!« (bulg. Ausgabe S. 477)

(Wird demnächst fortgesetzt. Die ersten beiden Teile erschienen am 22. 12. 2000 und am 19. 1. 2001)

 

Volksdemokratie und Balkanföderation
Zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs (Teil IV). Von Ernstgert Kalbe

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Die zwei abschließenden Teile meiner Betrachtungen zu Dimitroffs »Tagebüchern« über die Jahre 1943/45 bis 1949 stützen sich allein auf die bulgarische Ausgabe (Georgi Dimitrov: »Dnevnik«, Sofia 1997), da die rund 270 Druckseiten seiner Aufzeichnungen nach Auflösung der Komintern im Juni 1943 bzw. gut 170 Seiten nach der Kapitulation Hitler-Deutschlands in die deutsche Ausgabe (Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933-1943. Berlin 2000) nicht aufgenommen worden sind.

Die historische Wendezeit nach dem Sieg der Antihitlerkoalition der Völker über den Faschismus stellt den letzten Abschnitt des ereignisreichen und widerspruchsvollen Lebens Georgi Dimitroffs dar, der zur Krönung seines Weges als unbeugsamer Antifaschist und revolutionärer Kommunist hätte führen sollen, der indes mit persönlichen Enttäuschungen und politischer Desillusionierung endete.

Umbruch 1945

Dabei waren die Chancen für einen Weg zu antifaschistischer Demokratie und demokratischem Sozialismus günstig wie nie zuvor. Die Erfahrungen antifaschistischer Volks- und nationaler Befreiungsfronten gegen die faschistischen Aggressoren in Europa, die gewachsene Autorität der siegreichen Sowjetunion und das im antifaschistischen Widerstand gestiegene Ansehen der kommunistischen Parteien, die im Krieg gewonnene Überzeugung der Völker von der notwendigen Ausrottung des Faschismus samt seiner gesellschaftlichen Wurzeln, erzeugten eine hoffnungsvolle Stimmung des Aufbruchs zu neuen Ufern, zu antiimperialistischer Demokratie, nationaler Freiheit und demokratischem Sozialismus in breiten Volksschichten. Dafür hätte es eines offenen Bündnisses aller revolutionären und demokratischen Kräfte bedurft, die im Ringen um Konsens und unter Nutzung demokratischer Formen und nationaler Traditionen über antifaschistische Reformen die Gesellschaft revolutionär umgestaltet hätten. Dieses Konzept wurde jedoch durch doktrinäre Führungsansprüche der kommunistischen Parteien, sektiererischen Avantgardismus, vorschnelle Schritte sozialökonomischer Umwälzung und schließlich diktatorische Machtausübung entwertet.

Die damals viel diskutierten »nationalen Wege« oder »volksdemokratischen Wege« zum Sozialismus boten durchaus Möglichkeiten für einen revolutionär-demokratischen Umbruch der Gesellschaft, bei dem politische Irrwege und grobe gesellschaftliche Deformationen, wie sie dann eintraten, vermeidbar gewesen wären. So aber trug revolutionäre Ungeduld zum Scheitern der Revolution bei.

Bereits 1918 hatte Rosa Luxemburg die Bolschewiki gemahnt, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen, sondern anstelle der bürgerlichen sozialistische Demokratie zu entwickeln. Wenn dagegen das öffentliche demokratische Leben allmählich einschliefe, bliebe die Bürokratie allein das »tätige Element«. In Wirklichkeit regierte und dirigierte ein Dutzend Parteiführer und bot von Zeit zu Zeit eine Elite der Arbeiterschaft zu Versammlungen auf, »um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft«. (Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S.363)

Freilich wirkten auch innere und äußere Faktoren, die die demokratischen Chancen der Umbruchzeit nach 1945 negativ beeinflußten und letztlich zerstörten. Da ist zunächst die in der kommunistischen Bewegung verwurzelte Geringschätzung »formalen Rechts« und »formaler Demokratie« und eine auf Macht - nicht auf reale Hegemonie - verkürzte Sicht auf die Diktatur des Proletariats; da ist sodann das Allgemeingültigkeit beanspruchende Beispiel des sowjetischen Sozialismusmodells, das zur Nachahmung aufforderte; da sind schließlich der Zerfall der Antihitlerkoalition und die Spaltung der Nachkriegswelt in zwei antagonistische Lager, die wiederum verschärfte internationale Konfrontationen und Konflikte der sozialpolitischen Kräfte im Inneren der noch instabilen osteuropäischen Volksdemokratien auslösten und deren ohnehin gering ausgeprägten politischen Kultur schadeten.

Georgi Dimitroff war ein überzeugter Anhänger der Sowjetunion, zu der er trotz aller ihm bekannten Widrigkeiten keine reale Alternative sah. Er war ein Mensch seiner Zeit, der sich zur kommunistischen Ideologie bekannte, ein Kämpfer im Namen eines sozialistischen Ideals und einer sich darauf berufenden Politik. Jedoch gab es zwischen weltanschaulicher Ideologie, theoretischem Ideal und konkreter Politik häufiger gravierende Divergenzen als konfliktlose Übereinstimmung, wie übrigens bei allen ideellen und sozialen Bewegungen in der Geschichte, die das quasi messianistische Ziel einer besseren Welt verfolgten.

Heimkehr nach 22 Jahren

Auf seinen Antrag entließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR Georgi Dimitroff am 21. August 1945 aus seinem Deputiertenmandat sowie aus der ihm 1934 verliehenen sowjetischen Staatsbürgerschaft, damit er bei den anstehenden Wahlen zur bulgarischen Volksversammlung für die Vaterländische Front Bulgariens kandidieren konnte (Dnevnik, S.494). Die Vaterländische Front war noch im Krieg 1942/43 mit seiner aktiven Mitwirkung gegründet worden und hatte nach dem Umsturz vom 9. September 1944 die Regierungsgewalt übernommen. Am 4. November 1945 kehrte Georgi Dimitroff nach zweiundzwanzigjähriger Abwesenheit nach Bulgarien zurück und hielt am 6. November im Sofioter Nationaltheater, enthusiastisch begrüßt, eine programmatische Rede: »Das Volk muß sein Wort sprechen, muß es frei sprechen. Diese Wahlen müssen und werden die Grundlagen unserer bulgarischen Demokratie festigen. Das ist keine sowjetische sozialistische Demokratie, aber es ist auch nicht die falsche, verlogene Demokratie Muschanoffs (bulgarischer Ministerpräsident 1932-34, der Dimitroff 1933 die Rückkehr verweigert hatte, E.K.). Sie ist, sie muß und wird eine Volksdemokratie, die Demokratie der Vaterländischen Front sein. (...) Und in dieser Vaterländischen Front sind die Mitglieder, Anhänger und Sympathisanten von fünf Parteien vereinigt (Bulgarische Arbeiterpartei/Kommunisten, Bauernbund, Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Volksbund Zveno, Radikale, E. K.). Die Parteien der Vaterländischen Front sind auf der Basis einer positiven Plattform, eines aufbauenden Programms, eines schöpferischen Werkes vereinigt. Schauen Sie aber auf die Oppositionellen: Auf welcher Basis sind sie vereinigt? Wenn überhaupt von einer Vereinigung bei ihnen die Rede sein kann, so ist es die Vereinigung auf dem Boden der Zerstörung der Volkseinheit.« (Georgi Dimitroff: Ausgewählte Schriften, Bd.3, Berlin 1958, S. 256 f.)

Die Opposition, bestehend aus den rechten Flügeln des Bauernbundes, der Sozialdemokratie und der Demokratischen Partei, hatten in Erwartung westlicher Unterstützung die Fehlentscheidung getroffen, die Wahlen vom 18. November 1945 zu boykottieren. Angesichts des Wahlsieges der Vaterländischen Front, die bei einer Beteiligung von 85,5 Prozent der Wähler 88 Prozent Zustimmung erreichte, hatte sich die Opposition selbst isoliert. Auch bei den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung vom 27. Oktober 1946, an denen die Opposition nunmehr teilnahm, errangen die Parteien der Vaterländischen Front fast 70 Prozent der Stimmen, davon die Bulgarische Arbeiterpartei/Kommunisten (BAP) allein 53 Prozent, während auf die Opposition 30 Prozent der Stimmen entfielen. Als Konsequenz aus diesem Kräfteverhältnis wählte die Nationalversammlung Georgi Dimitroff zum neuen Ministerpräsidenten.

Freilich sind politische Kräfteverhältnisse selten allein an Wahlergebnissen abzulesen. Während sich damals die traditionelle Russophilie der Bulgaren für die Vaterländische Front positiv auswirkte, weckten außerordentlich harte Urteile von Volksgerichten über Träger und Anhänger des gestürzten monarcho-faschistischen Regimes, das hohe Tempo sozialökonomischer Umwälzungen im Lande und die gnadenlose Verurteilung von Oppositionspolitikern wegen »volksfeindlichen Verrats« auch Mißtrauen im städtischen und dörflichen Kleinbürgertum. Auch in Bulgarien setzte sich so eine repressive Sicherheitspolitik durch, die eine flexible Bündnispolitik verletzte.

Schließlich trugen die häufig politischen Augenblicksbedürfnissen geschuldeten und mitunter sehr widersprüchlichen Instruktionen und Kontrollen sowjetischer Berater und Organe zu politischen Unsicherheiten und Schwankungen bei. So wurde z. B. im Verhältnis zur Opposition - mit Rücksicht auf die jeweiligen Beziehungen zwischen den drei Großmächten - bald Entgegenkommen, bald Unnachgiebigkeit eingefordert (S. 522-524). Das betraf z. B. den Umgang mit Nikola Petkow, dem Führer des oppositionellen Flügels des Bauernbundes, der 1947 schließlich zum Tode verurteilt wurde (S. 565, 574 f.). Man gewinnt den Eindruck, daß Georgi Dimitroff, der sich als bulgarischer Ministerpräsident ständig um Abstimmung wichtiger politischer Schritte mit der sowjetischen Führung bemühte, kleinlicher Bevormundung und Kontrolle ausgesetzt war.

Seit 1947/48 wurden die Spezifik des volksdemokratischen Übergangs zum Sozialismus mehr und mehr verdrängt, restriktive Herrschafts- und bürokratische Kommandomethoden in der Wirtschaft eingeführt und den volksdemokratischen Staaten das sowjetische Modell eines Staatssozialismus übergestülpt. Das geschah freilich unter Mitwirkung und Mitverantwortung der regierenden kommunistischen Parteien, auch Georgi Dimitroffs.

Anfang einer Föderation

Die Idee der Balkanföderation wurde schon in den nationalrevolutionären Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts gegen die Fremdherrschaft des Osmanenreiches und der Habsburger Monarchie geboren und von der sozialistischen Bewegung aufgegriffen. Auch die Komintern sah in der Föderation der Balkanvölker die einzige Alternative zu nationalen Konflikten und kleinstaatlicher Zerrissenheit, die den faschistischen Achsenmächten die Okkupation und »Neuordnung« dieser Region erleichtert hatte.

Noch während des Krieges legte Georgi Dimitroff seine Vorstellungen in einem Brief an Stalin vom 16. April 1944 dar: »Die am meisten wünschenswerte Orientierung für den Balkan wie für die Sowjetunion wäre meines Erachtens die Schaffung einer Föderation der Südslawen, bestehend aus Bulgaren, Serben, Kroaten, Slowenen, Montenegrinern und Mazedoniern auf gleichberechtigter Grundlage. In dieser Föderation könnte Mazedonien seine nationale Freiheit und Staatlichkeit erhalten und würde aufhören, ein Zankapfel zwischen den Balkanstaaten zu sein.« (S. 419). In ständigem Kontakt (hinsichtlich des Partisanenkrieges, der Balkanföderation und der Nachkriegsregelungen) stand Dimitroff mit Josip Broz Tito - übrigens mit ausdrücklicher Billigung Stalins. Prinzipiell einigte man sich auf eine bulgarisch-jugoslawische Föderation vom Schwarzen bis zum Adriatischen Meer, wobei das geteilte Mazedonien vereinigt und die bulgarisch-jugoslawischen Grenzen des Friedensvertrages von Neuilly 1919 korrigiert werden sollten. Offen blieb, ob es sich um eine dualistische, eine trialistische (Bulgarien, Jugoslawien, Mazedonien) oder aber um eine südslawische Föderation aus sieben gleichberechtigten Republiken handeln sollte.

Stalin und Dimitroff schätzten am 10. Januar 1945 die jugoslawische Vorstellung über die Einbindung Bulgariens in die Föderative Republik Jugoslawien als falsch ein, weil das eine Majorisierung Bulgariens bedeuten würde. Besser sei eine Lösung ähnlich dem früheren Österreich-Ungarn; jedenfalls sollte man mit einem Bündnisvertrag beginnen und später weitersehen, riet Stalin zu einer pragmatischen Lösung. »Die Jugoslawen möchten auch das griechische Mazedonien haben. Sie verlangen auch Albanien und sogar Teile Ungarns und Österreichs. Das ist unvernünftig. Mir gefällt ihr Verhalten nicht«, bemerkte Stalin und fügte hinzu, daß er den griechischen ELAS-Leuten vom Austritt aus der Papandreou- Regierung und der Aufnahme des Kampfes abgeraten habe, weil sie eine Sache angefangen hätten, für die ihre Kräfte nicht reichten. Anscheinend hätten sie damit gerechnet, »daß die Rote Armee bis zum Ägäischen Meer vorstoßen würde. Das können wir nicht tun. Wir können unsere Truppen nicht auch noch nach Griechenland schicken. Die Griechen haben eine Dummheit begangen« (S. 460).

Vertragsverhandlungen

In einem Gespräch Stalins mit Dimitroff und Tito am 12. April 1945 wurde vereinbart, daß zunächst diplomatische Beziehungen zwischen Bulgarien und Jugoslawien hergestellt, danach ein Vertrag über Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe geschlossen und schließlich eine gemeinsame Föderation geschaffen werden sollte, deren konkrete Gestalt später zu bestimmen wäre (S. 474). Dimitroff hielt es für möglich, daß die Mazedonier ihre nationale Gleichberechtigung im Rahmen des föderativen Jugoslawien erhalten könnten. »Wir müssen uns nicht fürchten zu erklären, daß unsere Partei entschieden für die Anerkennung der Mazedonier als eigenes Volk und für nationale Selbstbestimmung des mazedonischen Volkes ist«, teilte er dem ZK der BAP am 22. Februar 1945 mit (S. 466f). Das trug ihm später von Verfechtern des bulgarischen Volkscharakters der Mazedonier den Vorwurf des nationalen Nihilismus ein.

Bei verschiedenen Beratungen über die künftige Föderation der Südslawen drängte Stalin 1946 die Bulgaren und Jugoslawen, sowohl den Bündnisvertrag als auch den Föderationsplan erst nach Abschluß des Friedensvertrages mit Bulgarien zu realisieren. Nach Abschluß des Friedensvertrags reiste Georgi Dimitroff vom 27. Juli bis 3. August 1947 nach Jugoslawien, um den Text des Freundschaftsvertrags abzustimmen sowie die Protokolle wichtiger Abkommen zu unterzeichnen: zum Grenzregime, zur Zollunion und zum Eisenbahnverkehr, zur Währungsparität von Dinar und Lewa, zur Wirtschaftskooperation und zur Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane. Die als »Vergleich von Bled« bekannten Abkommen vom 1. August 1947 bildeten zusammen mit dem beim Gegenbesuch Titos in Bulgarien am 27. November 1947 in Evksinograd unterzeichneten Freundschaftsvertrag einen bedeutenden Schritt zur als unmittelbar bevorstehend gedachten Föderation der Südslawen (S. 553-556, 590).

Der Artikel 1 des Vertragstextes lautete: »Die Hohen Vertragschließenden Parteien werden in Zukunft in jeder Hinsicht eng und vertraulich bezüglich aller Fragen, die das Schicksal ihrer Völker und ihre gegenseitigen Beziehungen betreffen, im Interesse der beiden Länder und im Geist der Verbrüderung der südslawischen Völker zusammenarbeiten.«

Nicht zufällig folgte schon am 16. Dezember der bulgarisch-albanische Bündnisvertrag. Die baldige Gründung einer bulgarisch-jugoslawischen Balkanföderation war freilich verschiedenen Hindernissen unterworfen. Gewiß konnte ein großer Balkanstaat in Widerspruch zu hegemonialen Interessen der Sowjetunion im »Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus« geraten, erst recht, wenn er eine eigenständige Innen- und Außenpolitik betriebe. Mit dem sich abzeichnenden Übergang zur west-östlichen Blockbildung und zum Kalten Krieg zwischen den Großmächten der ehemaligen Antihitlerkoalition drängte die politische Logik zum Zusammenschluß der Partner um die jeweilige Führungsmacht wie zur Vereinheitlichung ihrer politischen Doktrinen. Die Zuspitzung der internationalen Lage und die damit entstehende Kriegsgefahr trieben zum forcierten Übergang zur sozialistischen Umwälzung mitsamt ihren dogmatischen Nivellierungen zwischen den Volksdemokratien und zur Kopierung der sowjetischen Erfahrungen. Wahrlich schlechte Zeiten für schöpferische und differenzierte Politik.

(Alle Übersetzungen aus der bulgarischen Ausgabe stammen vom Autor)

Morgen: Teil V und Schluß: Volksdemokratie oder Sowjetmodell

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Volksdemokratie oder Sowjetmodell
Zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs (Teil V und Schluß). Von Ernstgert Kalbe

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Im Hinblick auf eine Balkanföderation kam alles anders als gedacht. Nachdem Georgi Dimitroff Mitte Januar 1948 beim Staatsbesuch in Rumänien auch noch die Möglichkeit einer Erweiterung der Balkan- oder gar Donauföderation um Griechenland, Rumänien und Ungarn, eventuell auch die Tschechoslowakei und Polen ins Gespräch gebracht hatte, reagierte Moskau mit scharfer Kritik: »Wir halten es für unsere Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß Ihre Äußerung auf der Pressekonferenz in Rumänien zu dem Teil, der sich auf die Föderation oder Konföderation der Länder der Volksdemokratie bezieht, ... von den Moskauer Freunden als schädlich eingeschätzt wird und den Ländern der neuen Demokratie Schaden zufügt, weil sie den Kampf der Anglo-Amerikaner gegen diese Länder erleichtert ... Es ist schwer zu verstehen, was Sie veranlaßt haben könnte, auf einer Pressekonferenz derart übereilte und unbedachte Erklärungen abzugeben«, übermittelte Stalin an Dimitroff. (Dnevnik, S. 595)

Ende der Föderation

Zum 10. Februar 1948 wurden Dimitroff, Wasil Kolarow und Trajtscho Kostow sowie von jugoslawischer Seite Edvard Kardelj, Milovan Djilas und Vladimir Bakaric nach Moskau bestellt, um mit Stalin, Molotow, Shdanow, Malenkow und Zorin die inzwischen leidige Föderationsfrage zu erörtern. Diese im »Dnevnik«, der bulgarischen Ausgabe des Tagebuchs, erstmals ausführlich dokumentierte Beratung, endete nach scharfer Kritik an beiden Delegationen mit dem erstaunlichen Ergebnis, daß Jugoslawien und Bulgarien unverzüglich Maßnahmen zum beschleunigten föderativen Zusammenschluß ihrer Staaten treffen sollten. Zuvor aber mußten sich beide Seiten eine Strafpredigt anhören. (S.596- 603) Stalin eröffnete, daß es ernsthafte Meinungsverschiedenheiten zu drei wesentlichen Fragen gäbe: zum bulgarisch-jugoslawischen Vertrag, zum Interview des Genossen Dimitroff über eine Balkan- oder Donauföderation und zur Verlegung von jugoslawischen Truppen nach Albanien. (S.596)

Bezüglich des bulgarisch-jugoslawischen Vertrages monierte Stalin, daß dieser vor Inkrafttreten des Friedensvertrages und auf »ewig« geschlossen wurde, was England und Amerika Anlaß für die Verstärkung ihrer Intervention in Griechenland böte. Hinsichtlich des Dimitroff- Interviews in Bukarest über weitreichende Föderations- oder Konföderationspläne der Volksdemokratien rügte Stalin die unabgestimmte Eigenmächtigkeit des von niemandem gewünschten Vorschlags, welcher der Bildung eines Westblockes Vorschub leiste. An Dimitroff gerichtet, kritisierte Stalin dessen Verliebtheit in Interviews: »Man darf nicht so oft Interviews geben. Sie wollen etwas Neues sagen und die ganze Welt in Erstaunen versetzen. Sie reden, als ob Sie noch Generalsekretär der Komintern wären und der kommunistischen Presse ein Interview gäben.« (S.598) »Dimitroff rede neuerdings dümmer als der jüngste Komsomolze«, habe Stalin gesagt, berichten jugoslawischen Quellen, z.B. Titos Biograph Dedijer.

Schließlich verurteilte Stalin die jugoslawische Haltung zu Albanien, die mit dem griechischen Bürgerkrieg seit 1946 verbunden war und auch die Grenzen zu Albanien und Jugoslawien berührte: »Wie einfach lösen die jugoslawischen Genossen diese Frage! Während des Krieges haben die drei verbündeten Staaten die Unabhängigkeit Albaniens verkündet und erklärt, daß sie diese Unabhängigkeit unterstützen werden. Von allen Knotenpunkten des Kampfes zwischen Reaktion und Demokratie ist der albanische Knoten unser schwächster Punkt. Albanien ist noch nicht in die UNO aufgenommen, die Engländer und Amerikaner anerkennen es nicht ... Wenn Tito dorthin eine Division verlegt, selbst nur ein Regiment, bleibt das der Aufmerksamkeit Amerikas oder Englands nicht verborgen. Sie werden zu schreien anfangen, daß Albanien okkupiert ist. Hat etwa Albanien sich öffentlich um Hilfe an Jugoslawien gewandt?« Und bezüglich des damit verbundenen griechischen Bürger- und Partisanenkriegs richtete Stalin an Kardelj die Frage: »Falls die griechischen Partisanen geschlagen werden, wollen Sie dann einen Krieg beginnen? ... Falls Sie überzeugt wären, daß die Partisanen eine Siegeschance haben, wäre das eine andere Frage. Aber ich zweifle ein wenig daran.« (S.598)

Nach Molotows Kritik an »linksradikalen Leidenschaften« erklärte Stalin plötzlich drei Föderationen für möglich: 1. Jugoslawien und Bulgarien unter Einschluß Albaniens; 2. Rumänien und Ungarn; 3. Polen und Tschechoslowakei. Auf Rückfragen von Kostow und Kardelj, ob man die bulgarisch- jugoslawische Föderation denn nun beschleunigen oder verzögern solle, antwortete Stalin: »Sie sollten mit der Vereinigung der drei Länder - Jugoslawien, Bulgarien und Albanien - nicht zögern. Notwendig ist aber, daß die Nationalversammlungen Beschlüsse fassen und ihre Regierungen beauftragen, Verhandlungen über eine Vereinigung zu beginnen ... Voreilig war es, eine Föderation zu betreiben, solange es keinen Friedensvertrag mit Bulgarien gab ... Jetzt darf man meines Erachtens diese Frage nicht mehr verzögern - besser wäre es, sie zu beschleunigen ... Und auch die Albaner werden bei einer Föderation gewinnen, weil ein vereinigtes Albanien mit einer fast verdoppelten Bevölkerung entstehen würde.« (S.599)

Bruch mit Jugoslawien

Nach dieser pragmatischen Antwort schien alles bereinigt, aber die Sache kam nicht mehr vom Fleck. Mißtrauen war bei allen Beteiligten geblieben. Dimitroff übte auf dem II. Kongreß der Vaterländischen Front im Februar 1948 - und später erneut auf dem V. Parteitag der BAP(K) im Dezember - öffentliche Selbstkritik und betonte seine Verbundenheit mit der Sowjetunion, mit der Bulgarien am 18. März 1948 den fälligen Freundschaftsvertrag schloß.

Die selbstbewußten Jugoslawen waren am 12. Januar wortlos aus Moskau abgereist und bremsten seither die Föderationsgespräche. Noch im März 1948 fand eine Sitzung des ZK der KPJu statt, dessen Haltung in Moskau als »trotzkistisch und antisowjetisch« bewertet wurde; Anfang April 1948 zog die UdSSR ihre Berater und Militärspezialisten aus Jugoslawien ab. (S.608-610) Damit begann der offene Bruch. Zwar traf sich Georgi Dimitroff auf dem Wege nach Prag über Belgrad am 18. April nochmals im Zug mit Milovan Djilas und riet den Jugoslawen nach deren Quellen zur Standhaftigkeit - die Föderationspläne jedoch waren definitiv gestorben. Es begann die unsägliche Auseinandersetzung mit dem »Titoismus«, die in Wirklichkeit die Anfänge der Spaltung in der kommunistischen Weltbewegung markierte.

Wegediskussion

Fraglos hingen die Durchsetzung der sowjetischen Hegemonialrolle im »Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus«, die eskalierende Abgrenzung vom »Titoismus« bzw. die Ausgrenzung Jugoslawiens und die Interpretation der Volksdemokratie als neue Form der »Diktatur des Proletariats«, die den »allgemeinen Gesetzmäßigkeiten« der sozialistischen Umwälzung und den »gültigen Erfahrungen« der Sowjetunion folgte, eng miteinander zusammen. Die verbal stets beschworene Berücksichtigung »nationaler Besonderheiten« spielte in der Realität eine immer geringere Rolle. Dem Wesen der Sache nach wurde den Volksdemokratien seit 1948 zunehmend das Sowjetsystem übergestülpt. Das war nicht unvermeidlich, denn gerade die Erfahrungen der Volksfrontbewegung und des antifaschistischen Kampfes hatten Erkenntnisse über nationale und demokratische Wege zum Sozialismus reifen lassen.

Aus der Vielzahl der am Ende des Zweiten Weltkrieges geführten Diskussionen über nationale und demokratische Revolutionen bzw. Wege zum Sozialismus (Ackermann, Appelt, Dimitroff, Gomulka, Ibarruri, Kardelj, Lukács, Togliatti u.a.) sei hier nur an die wohl theoretisch fundierteste Auffassung zur »Neuen Demokratie« von Georg Lukács erinnert, der »Volksdemokratie als aus der Demokratie herauswachsenden Sozialismus« verstand, ein Sozialismus, der Kontinuität zu den bürgerlich-demokratischen Rechten und Freiheiten bewahren sollte und als Übergangsprozeß eine lange Zeit beanspruchen würde (G. Lukács, Gelebtes Leben, Frankfurt./M. 1980, S. 188).

Georgi Dimitroff betonte wiederholt den Zusammenhang von Antifaschismus und Volksdemokratie, von Volksdemokratie und Frieden, die sich gegenseitig bedingten. (G. Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 1958, S. 353 ff) Sein Tagebuch belegt, daß selbst Stalin 1945 über die Wegeproblematik nachdachte: »Vielleicht machen wir einen Fehler, wenn wir denken, daß die sowjetische Form die einzige sei, die zum Sozialismus führt. Es hat sich in der Sache gezeigt, daß die Sowjetform die beste, aber nicht die einzige ist. Es kann auch andere Formen geben - die demokratische Republik und unter bestimmten Bedingungen sogar die konstitutionelle Monarchie.« (S. 464). Im September 1946 riet Stalin Dimitroff gar zur Bildung einer sozial ein breites Spektrum umfassenden Arbeitspartei und hielt einen »besonderen Weg zum Sozialismus ohne Diktatur des Proletariats« für möglich, »weil sich die Zeit seit unserer Revolution gründlich verändert hat und es nötig ist, andere Formen und Methoden anzuwenden und nicht die russischen Kommunisten nachzuahmen«. (S. 533 f.) Auch wenn diese Aussagen nicht gerade von theoretischer Analyse, eher von politischem Pragmatismus zeugen, verdeutlichen sie doch die damals aktuelle Wegediskussion.

Im Zusammenhang mit der Vorbereitung des V. Parteitags der BAP(K) im Dezember 1948 schrieb Dimitroff am 2. November an Stalin einen Brief mit der Bitte um Beratung einiger prinzipieller politischer Fragen und fügte ein ausführliches Exposé zu vier Themen bei: zum Charakter des volksdemokratischen Staates, zu Volksdemokratie und Sowjetregime, zu gegenwärtigen Hauptaufgaben, zum Internationalismus. Darin entwickelte er schon weitgehend die Thesen zum Wesen der Volksdemokratie, die er im Bericht an den V. Parteitag der BAP am 19. Dezember 1948 vortrug. Danach verstand Dimitroff unter Volksdemokratie die Herrschaft der Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse. Und der volksdemokratische Staat war für ihn in einer Übergangsperiode dazu berufen, die Entwicklung auf dem Wege zum Sozialismus zu sichern. Ohne ein Sowjetregime zu errichten, übe er wesentliche Funktionen der Diktatur des Proletariats aus. Außenpolitisch gehöre die Volksdemokratie, die in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion geschaffen wird, zum antiimperialistischen »Lager des Friedens, der Demokratie und des Sozialismus« und kämpfe für Internationalismus, gegen Nationalismus. (G. Dimitroff, Ausgewählte Schriften, Bd.3, S.596-600).

Interessant an einer Diskussion vom 6. Dezember 1948 in Moskau, an der außer Stalin, Molotow und Dimitroff auch Boleslaw Bierut, Hilari Minc und Jakub Berman von der polnischen Partei teilnahmen, sind folgende Bemerkungen Stalins: »Wir glauben, daß Sie ohne Sowjetregime auskommen. Bei Ihnen reicht das volksdemokratische Regime aus, um den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu vollziehen. Aber dieses Regime muß die Funktionen der Diktatur des Proletariats erfüllen ... Marx und Engels hielten die demokratische Republik mit starkem Einfluß der Arbeiterklasse für die zweckmäßigste Form der Diktatur des Proletariats. Bei uns aber entstanden Sowjets, kein Parlamentarismus, Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten, die alle nichtwerktätigen Elemente ausschlossen«. (Dnevnik, S.645)

Während für Dimitroff die Volksdemokratie immer an ihre antifaschistischen Wurzeln gebunden war, was einen demokratischen Weg zum Sozialismus möglich gemacht hätte, betrachtete Stalin die volksdemokratische Ordnung vorrangig als eine andere Form der proletarischen Diktatur neben dem Sowjetregime.

Kominformbüro

Interessantes Material enthält die bulgarische Ausgabe von Dimitroffs Tagebuch auch zur Politik des im September 1947 gegründeten Kominformbüros, das die Politik von neun europäischen kommunistischen Parteien koordinieren sollte, z. B. die Resolution des ZK der BAP vom 14. Oktober 1947 zur Gründungstagung des Kominformbüros und dessen Einschätzung der internationalen Lage. (S. 582 f.) Im Juni 1948 führte der Konflikt zwischen der KPdSU und KPJu zur zweiten Kominformtagung in Bukarest. Auf ihr wurde die jugoslawische Partei einer ungerechtfertigten und rüden Kritik unterzogen, was neben der Disziplinierung aller Parteien zur schließlichen Exkommunizierung Jugoslawiens führte.

Aufschlußreich, daß Dimitroff dieser Tagung fernblieb und statt dessen Kostow und Tscherwenkow nach Bukarest schickte. Freilich stimmte die bulgarische Partei den Beschlüssen des Kominformbüros zu. Aber trotz der dort beginnenden Kritik an Trajtscho Kostow wegen »antisowjetischer Tendenzen« und »Titoismus« setzte Dimitroff dessen erneute Wahl ins ZK und ins Politbüro auf dem V. Parteitag der BKP im Dezember 1948 durch. Georgi Dimitroff, der wegen schwerer Krankheit nach dem 6. Februar 1949 keine Eintragungen mehr in seinem Tagebuch machte, sich seit 7. März 1949 zur ärztlichen Behandlung im Sanatorium »Borowicha« bei Moskau befand, wurde durch den Parteiausschluß Trajtscho Kostows, seines über viele Jahre engsten Mitstreiters, im Juni 1949 und dessen anschließende Verhaftung schwer getroffen. Für ganz unwahrscheinlich halte ich, daß Dimitroff im Mai 1949 dem ZK-Plenum der BKP entgegen seiner Art eine in rüdem Ton gehaltene Verurteilung Kostows übermittelt haben soll, die nach seinem Tod im Sofioter »Rabotnicesko delo« vom 10. Dezember 1949 erschien.

Am 2. Juli 1949 verstarb Georgi Dimitroff - noch vor dem Prozeß im Dezember 1949 gegen »Trajtscho Kostow und seine Gruppe«, die mit dem Todesurteil gegen Kostow endete und weitere Verfolgungen wegen »Titoismus« und »feindlicher Tätigkeit« nach sich zog.

Tragik

Der Wert der Tagebücher Dimitroffs für das Verständnis seiner Zeit, für die historische Forschung ist unbestritten. Sie enthalten das Arbeitsprotokoll einer Persönlichkeit, die in den 30er und 40er Jahren die Geschicke der kommunistischen Bewegung wesentlich mitgestaltet, durchkämpft und durchlitten hat. Manches in den knappen Notizen erschließt sich dem Leser erst in Kenntnis anderer Zeitdokumente. Manches konnte hier nicht behandelt werden: seine Korrespondenzen und Kontakte mit der KP Chinas im national-revolutionären Befreiungskrieg, seine vielfältigen Verbindungen mit der italienischen und französischen Arbeiterbewegung, seine Beratung und Hilfe für die deutsche Partei bei der Gründung und Arbeit des Nationalkomitees Freies Deutschland im Kriege.

Viele Eintragungen machen Willkür und Pragmatismus, die gleichsam zaristisch-asiatische Terrormethoden und die expansiven Großmachtambitionen der Politik Stalins deutlich, der sich weder die Komintern noch Dimitroff noch die jungen volksdemokratischen Staaten nach 1945 entziehen konnten. Als Beispiel dafür mag hier der von Dimitroff festgehaltene Toast Stalins zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1937 stehen: »Die russischen Zaren haben viel Schlechtes getan ... Aber eine große Sache haben sie vorzuweisen: Sie haben ein Riesenreich zusammengezimmert - bis nach Kamtschatka. Wir haben diesen Staat als Erbe erhalten. Und wir Bolschewiki haben diesen Staat erstmals gefestigt, zu einem einheitlichen, unteilbaren Staat ... Deshalb ist jeder, der versucht, diese Einheit des sozialistischen Staates zu zerstören, der danach strebt, einzelne Teile und Nationalitäten von ihm abzutrennen, ein Feind, ein geschworener Feind des Staates, der Völker der UdSSR. Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten ...« (Dnevnik, S. 128 f; deutsche Ausgabe, S. 162). Wie alle Anwesenden applaudierte auch Dimitroff und ließ Stalin in seinem devoten Trinkspruch hochleben.

Dimitroff hielt unbeirrt an seiner Verbundenheit mit der Sowjetunion fest, er war sich bewußt, daß damals ohne oder gar gegen die UdSSR eine alternative Gesellschaftsordnung zum Kapitalismus nicht vorstellbar war. Er sah sich als Soldat der Revolution und agierte zwischen Heroismus und Gehorsam.

Stellt sich abschließend die Frage, was für ein Mensch Georgi Dimitroff war: zweifelsfrei ein Kämpfer mit politischem Charisma, mit Elastizität und Härte, mit Visionen und Überzeugungen. Aber er war auch ein emotionaler und hilfsbereiter Mensch, der seiner großen Familie und seinen vielen Freunden beistand, so er konnte. Er liebte seinen 1936 geborenen Sohn Mitja, der 1943 an Diphtherie starb, was ihn tief traf. Er war auch ein lebensfroher Mann, der den Tod seiner ersten Frau, der serbischen Poetin Ljuba Ivosevic, 1933 im faschistischen Gefängnis betrauerte, der seiner deutschen Geliebten Any Krüger selbst aus der Haft wie aus der neuen sowjetischen Heimat heraus materiell zu helfen versuchte, der eine glückliche zweite Ehe mit der jüdisch-österreichischen Rosa Fleischmann führte und sich mit ihr treusorgend um die Adoptivkinder Fanja (seit 1937) und Bojko (seit 1945) kümmerte. Aber Dimitroff war auch ein kranker Mann, den faschistischer Kerker, ein Übermaß an Arbeit in der Komintern, im Kriege und danach in Bulgarien, nicht zuletzt auch quälende Sorgen - vielleicht auch Selbstvorwürfe - wegen der Verfolgungen und Repressalien gegen Gesinnungsgenossen gesundheitlich und wohl auch moralisch zermürbt hatten. Fazit: Ein Soldat der sozialistischen Revolution, dessen Visionen - eine sozialistische Völkergemeinschaft und eine internationalistische Balkanföderation - noch vor seinem physischen Tode starben.

Die veröffentlichten Tagebücher sollten helfen, Georgi Dimitroff Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wozu eine Fortsetzung der deutschen Ausgabe über das Jahr 1943 hinaus beitragen könnte.

(Die vorangegangenen vier Teile erschienen in unseren Ausgaben vom 22. Dezember 2000, vom 19. Januar sowie vom 1. und 15. Februar 2001)

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Schuldspruch gegen Dimitroff?
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Wäre Georgi Dimitroff nach seinem erzwungenen Freispruch im Reichstagsbrandprozeß 1933 von den Nazis doch noch heimlich erschossen worden, befände sich die Leipziger SPD heute in Argumentationsnöten. Denn ein früherer Tod des späteren Komintern-Chefs und bulgarischen Nachkriegspremiers hätte die Chancen verbaut, den »Helden von Leipzig« heute als »Stalinisten« bezeichnen zu können. Darauf nämlich haben sich die in der Messestadt regierenden Sozialdemokraten verlegt. Wie ihr de facto Koalitionspartner CDU möchten sie, daß der Platz vor dem ehemaligen Reichsgericht - dort fand der Reichstagsbrandprozeß statt - nicht mehr Georgi-Dimitroff- Platz heißen soll. Doch nach einer Umfrage der Bild-Zeitung will die Mehrheit der Leipziger von einer Umbenennung nichts wissen. Gegen den Namenswechsel richtet sich derzeit auch eine Unterschriftenaktion, die prominente Leipziger initiiert hatten.

»Kein Platz für Dimitroff?« - Darüber sollte auch am Montagabend in der Leipziger Universität diskutiert werden, und zwar mit Stadträten von CDU und SPD. Doch die lehnten die Einladung der »Linken StudentInnengruppe« ab. So mußte ein im Saal anwesender junger Sozialdemokrat den Part des Dimitroff- Ächters übernehmen. An den Händen des Bulgaren, meinte er, klebe Blut, weil Dimitroff für die Verfolgung von Mitgliedern anderer Parteien und von Kommunisten in seiner Heimat nach 1945 verantwortlich sei. Auf Leipzigs Straßenschildern sei zwar auch Platz für die Namen von Kommunisten, aber nur, wenn die »nachweislich nicht an der Verfolgung Andersdenkender beteiligt« waren.

Der »Held von Leipzig« als Henker? Zwar lehnte niemand im Saal eine kritische Sicht auch auf Dimitroff ab. Doch sei bei Etikettierungen Vorsicht geboten, wandten einige der Diskutanten ein. Immerhin habe sich der angebliche »Stalinist« zusammen mit Palmiro Togliatti in Moskau für Verfolgte eingesetzt. Und immer noch nicht geklärt sei die Frage, ob nicht Dimitroff selbst ein Opfer Stalins geworden ist. Die Umstände seines Todes in einer sowjetischen Klinik 1949 zählen weiter zu den historischen Rätseln.

Im Publikum war eine Mehrheit der Meinung, daß die »Stalinisten«-Diskussion ohnehin nur vorgeschoben werde. Es gehe vielmehr um die politische Entscheidung, einen Teil des antifaschistischen Widerstands zu entsorgen. Dimitroff, der 1933 vielen Mut gemacht habe, müsse in Leipzig bleiben, hieß die einhellige Ansicht am Podiumstisch. Dort saßen unter anderem der frühere Direktor des Dimitroff-Museums Hans- Joachim Bernhard, der Schauspieler Fred Delmare, der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Walter Kresse, der Schriftsteller Helmut Richter und als Moderator der Historiker Werner Bramke. Als einsame sozialdemokratische Stimme schloß sich ihnen dann zu später Stunde noch ein SPD-Mann an, der sagte, daß er in der Stadtratsfraktion für Dimitroff stimmen werde.

Holger Becker

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Goerdeler - ein Antifaschist?
Gegen die Ehrung Carl-Friedrich Goerdelers in Leipzig. Entgegnung auf ein jW-Interview vom 15. Oktober

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Im Sommer diesen Jahres entbrannte ein Streit über die Errichtung eines Denkmals für einen »antifaschistischen Widerstandskämpfer«. Zuerst dachte ich, es handele sich um Georgi Dimitroff, dessen Name ja untrennbar mit dieser Stadt verbunden ist.

Unter den angeblichen Reichstagsbrandstiftern, die man 1934 vor das Gericht gezerrt hatte, befand sich auch der bulgarische Kommunist Dimitroff. Mutig und mit messerscharfen Argumenten überzeugend, wurde er vom Angeklagten zum Ankläger und entlarvte die Naziführung als die wahren Schuldigen. So wurde Dimitroff zur Symbolgestalt des antifaschistischen Widerstandes in aller Welt.

Doch der Streit in Leipzig entbrannte erst, als nach dem Sieg im Kalten Krieg die neuen Machthaber nichts Eiligeres zu tun hatten, als aktive antifaschistische Widerstandskämpfer zu verunglimpfen und ihre Namen zu entfernen. So wurde auch der Dimitroff-Platz vor dem einstigen Reichsgericht in Leipzig umbenannt. Als diejenigen, die sich als Nachfolger des III. Reiches bezeichneten, ihre Macht auf das Gebiet der DDR ausdehnten, ließen sie erkennen, welches Erbe sie übernehmen wollten. Sie ließen erkennen, daß sie den Sozialismus auch ideologisch mit Stumpf und Stiel ausrotten wollten. Die DDR verleumdeten sie als Unrechtsstaat, alle, die aktiv für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Völkerfreundschaft gewirkt hatten, wurden diffamiert und kriminalisiert. Ihr besonderer Haß galt jenen, die dem Faschismus aktiven Widerstand geleistet hatten. Die Kommunisten, die den konsequentesten und als einzige die ganze faschistische Diktatur überdauernden organisierten Widerstand geleistet und dabei die weitaus größten Opfer gebracht hatten, waren am stärksten den unverschämten Verleumdungen ausgeliefert.

Natürlich war ich völlig verblüfft, als ich dann erfuhr, daß in diesem Lande nun ein Denkmal für einen antifaschistischen Widerstandskämpfer errichtet worden sei. Als ich kurz darauf durch die Presse erfuhr, daß es tatsächlich für Goerdeler in Leipzig errichtet worden ist, schien mir alles wieder »normal« zu sein.

Wer war Carl Goerdeler? Ein Altnazi, ein Wegbereiter der faschistischen Diktatur, der das Vertrauen Hitlers genoß und in der Zeit, als Dimitroff vor Gericht gezerrt wurde, Bürgermeister der Stadt Leipzig war. Es erübrigt sich zu sagen, daß er ein fanatischer Anitikommunist war. Er hatte den Krieg Hitlers, besonders seinen Überfall auf die Sowjetunion begrüßt und sich von ihm soviel erhofft wie die reaktionären Kräfte seines Landes.

Was führte zum Kriegsende auf einmal zu dem Wandel in der Einstellung zu Hitler, daß sich Goerdeler einer Gruppe anschloß, die sich zur Beseitigung des »Führers« entschloß? Er kam mit einer Gruppe oppositioneller Offiziere in Berührung, die erkannt hatten, daß die Oberbefehlsgewalt Hitlers aufgrund seiner dilettantischen Kenntnisse und die Fortsetzung seiner wahnsinnigen Zerstörungspolitik Deutschland in eine furchtbare Katastrophe führen würde. Deshalb sahen sie die Beendigung des verlorenen Krieges als ihre Hauptaufgabe an. Die Mehrzahl der Verschwörer, unter ihnen auch der Attentäter des 20. Juli, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, gehörten dem sogenannten Kreisauer Kreis an. Über folgende Grundsätze hatten sie eine Einigung erzielt: »Brechung des totalitären Gewissenszwanges und Anerkennung der unverletzlichen Würde der menschlichen Person als Grundlage der zu erstrebenswerten Rechts- und Friedensordnung«. Einige von ihnen, so die Sozialdemokraten Reichwein und Leber, forderten »die persönliche politische Verantwortung und ... eine mitbestimmende Beteiligung an der neu zu belebenden Selbstverwaltung und verwiesen auf die Notwendigkeit eines sofortigen Friedensschlusses, eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten und die Bildung einer neuen Volksfront auf der Grundlage aller sozialen und demokratischen Kräfte« im nazifreien Deutschland.

Sehr bald stellte sich heraus, daß diese Zielsetzung überhaupt nicht mit Goerdelers Absichten übereinstimmte, ja diesen zuwiderlief. Goerdeler gehörte zu jenen, die enttäuscht waren, daß Hitler ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte; deshalb wollten sie diesen Dilettanten beseitigen. Mit keinem Wort sprach er sich gegen den Eroberungskrieg, die Versklavung der Völker und die Vernichtung des jüdischen Volkes aus. Im Gegenteil, er strebte einen Friedensschluß mit den Westmächten an mit dem Ziel, mit diesen gemeinsam den Raubkrieg weiterzuführen, es sollten »alle Kriegskräfte des deutschen Volkes auf den Osten konzentriert werden«. Das war für die Angehörigen des Kreisauer Kreises, unter ihnen auch Graf Schenk von Stauffenberg, undenkbar. Sie lehnten die von einigen geplante Nominierung Goerdelers als Reichskanzler ab, der nach der Erhaltung des Reiches in den Grenzen von 1914 unter einer autoritären »monarchistischen Spitze« strebte.

Damit hat sich Goerdeler ganz eindeutig von den Männern getrennt, die man zu recht als antifaschistische Widerstandskämpfer bezeichnet.

Somit ist es verständlich, daß ihm von den politischen Kräften, die eine Rechtsorientierung haben, ein Denkmal gesetzt wird. Völlig unerklärlich erscheint es, was Lothar Brückner als Sprecher des Landeskoordinierungsrates der Kommunistischen Plattform der PDS dazu veranlaßt, in der jungen Welt vom 15. Oktober ein Interview zu geben, in dem er - aufmerksam gemacht auf die Proteste, welche die Goerdeler-Ehrung hervorrief - auf die Frage: »Sind Sie auch gegen das Denkmal?« mit »Nein« antwortet.

Ganz klar möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich jeden würdige, der gegen den Faschismus gekämpft hat, auch wenn ich seine politischen Ansichten nicht teile. Aber einen Wegbereiter des Faschismus, einen Antisemiten, Antibolschewisten und Befürworter des Krieges als »antifaschistischen Widerstandskämpfer« zu ehren, halte ich für eine Beleidigung all jener, die ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus eingesetzt und geopfert haben. Wer selbst - wie ich - mit Parteilosen, Christen, Sozialdemokraten und Anarchisten in den Interbrigaden gekämpft hat, zieht die Grenzen nicht zu eng. Aber niemals identifiziert er sich mit einem Wegbereiter des Faschismus, einem Antisemiten, einem Antibolschewisten, einem Befürworter des Aggressionskrieges. Meine Sympathie gilt all jenen, die gegen die Aufstellung des Goerdeler-Denkmals protestiert haben.

 

 

Prof. Fred Müller

 

Vorwand für den Terror
 
Der Reichstagsbrand 1933 und die politische Funktion der vom »Spiegel« lancierten und von Hans Mommsen beförderten These vom Alleintäter van der Lubbe (Teil I)
 
* Über kaum ein Ereignis in der deutschen Geschichte wurde jahrzehntelang so heftig und erbittert gestritten wie über den Brand des Berliner Reichstagsgebäudes vom 27. Februar 1933. Noch heute, 70 Jahre nach dem folgenschweren Anschlag, sind sich Historiker uneins über die Hintergründe der Tat, über Motive und Täter. Unser Autor Alexander Bahar hatte in dem zusammen mit Wilfried Kugel im Jahr 2001 veröffentlichten Buch »Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird«, erstmals eine exakte Rekonstruktion des Tathergangs vorgelegt.

War es ein Einzeltäter, der das Wahrzeichen der Weimarer Republik in Brand setzte? Oder waren es die Nazis selbst, die mit der Vernichtung der »Schwatzbude« den Vorwand schufen für die flächendeckende Verfolgung der vorrangig linken politischen Opposition und die Zerstörung des verhaßten parlamentarischen »Systems«? Improvisation oder Planung? Die Beantwortung dieser Frage ist für die historische Beurteilung der Machtübertragung an die Nazis von entscheidender Bedeutung.

Unbestritten ist immerhin, daß Brandstiftung im Spiel war und daß die seit dem 30. Januar amtierende Hitler-Regierung den Brand skrupellos für ihre Zwecke nutzte, indem sie ihn sofort und ohne jegliche Beweise den Kommunisten in die Schuhe schob und die Brandstiftung im Reichstagsgebäude kurzerhand zum Signal für einen angeblich unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Aufstand erklärte. So jedenfalls lautete die offizielle Rechtfertigung der Hitler-Regierung für die nur einen Tag später – »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte«, wie es hieß – erlassene »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« sowie ihre Zwillingsschwester, »die Verordnung gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe«, mit denen die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung gleichsam über Nacht außer Kraft gesetzt wurden.


Ausschaltung der Kommunisten

Diese beiden »Notverordnungen« – so nannte man die vom Kabinett unter Ausschaltung des Parlaments verabschiedeten und von Hindenburg abgesegneten Verordnungen, wie sie seit der Ära Brüning Usus waren – sollten bis zum Ende des »Dritten Reiches« Gültigkeit behalten und bildeten die legalistische Grundlage für die gesamte Nazidiktatur. Erst mit Hilfe dieser »Brandverordnungen«, die der Hitler-Regierung auch die alleinige Verfügungsgewalt über die Presse und den Rundfunk sicherten und damit ungeahnte Propagandamöglichkeiten eröffneten, sowie flankiert vom Terror der SA, war es der NSDAP und ihren deutschnationalen Verbündeten möglich, bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 einen sicheren, wenn auch knappen Sieg einzufahren. Die Reichstagsmandate der KPD, der immerhin noch 12,3 Prozent der Wähler ihre Stimme gaben, wurden kassiert, ihre Nebenorganisationen in der Folge verboten.

Schon kurz nach dem Reichstagsbrand wurde im Ausland allgemein angenommen, daß die Nazis, an der Spitze Göring, die Urheber der Brandstiftung seien. Dies war auch der Tenor des im Sommer 1933 unter Leitung von Willi Münzenberg, Chef des KPD-eigenen »Münzenberg-Konzerns«, veröffentlichten »Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror«. Darin versuchten deutsche Emigranten, den Beweis zu führen, daß die deutschen Faschisten den Brand von langer Hand vorbereitet hatten. Neben zahlreichen Indizien legten die Autoren auch erstmals eine umfassende Dokumentation nazistischer Gewaltverbrechen an zumeist linken Oppositionellen vor.

Ein internationaler Untersuchungsausschuß, dem prominente Juristen aus Europa und den USA angehörten, befand in dem im September 1933 tagenden »Londoner Gegenprozeß« ebenfalls die Nazis für schuldig. Im anschließenden Reichstagsbrandprozeß vor dem Leipziger Reichsgericht wurde noch nicht einmal der Schein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Doch der zur Anklage des internationalen Kommunismus breitbeinig inszenierte Täuschungsversuch erwies sich für die Naziführung als Bumerang. Die kommunistischen Angeklagten mußten freigesprochen werden. Nicht die Kommunisten, sondern die Nazis standen vor der Weltöffentlichkeit als Schuldige da. Bis 1959, als das »deutsche Nachrichtenmagazin« Der Spiegel den Reichstagsbrand lauthals zum Werk eines Einzeltäters erklärte und mit dieser Behauptung Schule machte, zweifelte außerhalb Deutschlands kaum ein ernstzu- nehmender Zeitgenosse an diesem Urteil.

Die Spiegel-Legende konnte sich auch deshalb so lange halten, weil zentrale Dokumente jahrzehntelang nicht öffentlich zugänglich waren. Die originalen Akten des Reichstagsbrandprozesses waren 1945 von der Roten Armee in die Sowjetunion verfrachtet worden. Dort lagen sie lange beim ZK der KPdSU unter Verwahrung. Erst in den 80er Jahren erschienen in der DDR zwei Dokumentenbände, in denen Teile dieser Akten erstmals publiziert wurden. 1) Vorrangiges Ziel der deutsch-bulgarisch-sowjetischen Publikation war allerdings die Heldenverehrung des Mitangeklagten Georgi Dimitroff, nachmaliger Generalsekretär der Komintern und bulgarischer Ministerpräsident. Dimitroffs unerschrockenes Auftreten im Leipziger Reichstagsbrandprozeß hatte wesentlich zum Freispruch der kommunistischen Angeklagten beigetragen. Da die Täterschaft der Nazis in der DDR und in den anderen Staaten des Warschauer Vertrages als feststehende Tatsache galt, machten sich Redaktion und Herausgeber nicht die Mühe, diesen Nachweis anhand des neu zugänglichen Originalmaterials detailliert zu führen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit den Quellen hätte beim Leser überdies Zweifel an der parteioffiziellen Darstellung genährt, wonach die KPD-Führung 1933 alles unternommen habe, um die faschistische Diktatur in Deutschland zu verhindern.

Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik 1990 sind die originalen Akten von Reichsgericht, Politischer Polizei und Oberreichsanwaltschaft erstmals allgemein zugänglich. 2) Die umfassende Auswertung dieser sowie weiterer zum Teil bisher unbekannter Quellen machte es erstmals möglich, die Ereignisse exakt zu rekonstruieren. 3)


Von langer Hand geplant

Unsere Rekonstruktion ergab unter anderem:

– Hermann Göring, damals Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Innenminister in Preußen, war bereits viel früher im brennenden Reichstagsgebäude, als er nach der offiziellen Benachrichtigung hätte eintreffen können. Der damalige Reichstagspräsident und Chef der preußischen Polizei muß also bereits vor Ausbruch des Brandes von diesem Kenntnis gehabt haben. Wie eine Analyse von Görings Verlautbarungen nach dem Brand und seiner Aussagen vor dem Leipziger Reichsgericht zeigt, verfügte der zweite Mann in der Nazihierarchie über ein umfassendes »Täterwissen«. Görings Behörde war es auch, die als erste darauf hinwies, daß die Brandstifter durch den unterirdischen (Heizungs-)Tunnel entflohen seien, der das Reichstagspräsidentenpalais mit dem Reichstagsgebäude verband.

– Der im Reichstag festgenommene und im Prozeß vor dem Leipziger Reichsgericht mittels eines rückwirkenden Gesetzes zum Tode verurteilte und bald darauf hingerichtete »Täter« Marinus van der Lubbe, Mitglied einer rätekommunistischen holländischen Splittergruppe, hatte für die Brandlegung noch weniger Zeit zur Verfügung als bisher angenommen wurde – nämlich nur etwa zwölf bis 13 Minuten! Van der Lubbe war an der eigentlichen Brandstiftung so gut wie nicht beteiligt. Er war ein Strohmann, der Naziprovokateuren in die Falle gegangen war. Nicht nur Lubbes eigene widersprüchliche Angaben, auch die Sachverständigengutachten und der Bericht eines ehemaligen Funktionärs der Allgemeinen Arbeiterunion (AAU), mit deren Berliner Mitgliedern van der Lubbe wenige Tage vor dem Brand Kontakt gehabt hatte, legen diesen Schluß nahe.

– Die Verhaftungsaktion in der Brandnacht hatten die Nazis von langer Hand geplant. Dies belegt u. a. ein Schreiben des von Göring eingesetzten »Höheren Polizeiführer West/Sonderkommissar des Ministers des Innern«, Polizeigeneral Arthur Stieler von Heydekampf, an »alle staatlichen Polizeiverwalter, Gemeindepolizeiverwalter aller kreisfreien Städte und Landräte«. Diese wurden ersucht, »bis zum 26. Februar 1933 (...) ergebenst hier Listen vorzulegen« mit den Namen und Adressen von Führern der KPD und kommunistischen Nebenorganisationen wie R.G.O., Kampfbund gegen den Faschismus, RFB (damals schon verboten), Sport- und kulturellen Organisationen (z. B. Freidenker) etc. wie auch den Führern der Freien Gewerkschaften. Sechs Stunden vor dem Reichstagsbrand warnte der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, Organisator der Verhaftungsaktion in der Brandnacht (!), in einem Polizeifunktelegramm vor kommunistischen Provokationen am Tage der Reichstagswahl: »Geeignete Gegenmaßnahmen sind sofort zu treffen, kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft zu nehmen.«

– Eine Reihe von wichtigen Dokumenten sind während der Nazizeit verschwunden, so insbesondere das Aussageprotokoll des später von der Gestapo ermordeten SA-Mannes Adolf Rall mit detaillierten Angaben über ein SA-Sonderkommando zur Brandstiftung. Das Ermittlungsverfahren gegen Ralls Mörder wurde von Göring höchstpersönlich niedergeschlagen. Weiterhin verschwand der vom Leiter der Berliner Feuerwehr, Oberbranddirektor Walter Gempp, verfaßte »Bericht der Berliner Feuerwehr«. Gempp selbst wurde kurze Zeit darauf seines Amtes enthoben und unter dem Vorwand der Korruption verurteilt. Er soll im Gefängnis Selbstmord verübt haben.

– Die Existenz eines SA-Brandstifterkommandos, das einige Zeit vor dem Reichstagsbrand Brandanschläge mittels einer selbstentzündlichen Flüssigkeit durchgeführt hatte, wird durch weitere bisher unbekannte Quellen und Zeugenaussagen belegt. Recherchen der Autoren stützen den Verdacht, daß zu diesem Kommando auch der damalige SA-Führer Hans Georg Gewehr gehörte, ein Freund des am 30. Juni 1934 erschossenen Berliner SA-Gruppenführers Karl Ernst. Gewehr war 1946 von dem früheren Gestapo-Mitarbeiter und späteren Mitverschwörer des 20. Juli 1944 Hans Bernd Gisevius als technischer Leiter der Brandstiftung genannt worden. In die Vorbereitungen der Brandstiftung verwickelt war nach seinen eigenen Aussagen (die von dem bekannten Bauhaus-Designer Prof. Wilhelm Wagenfeld überliefert wurden) auch der spätere Betriebsführer der Vereinigten Lausitzer Glaswerke (VLG) Dr. Bruno Kindt. Der studierte Chemiker rechnete es sich gegenüber Wagenfeld als Verdienst an, die benötigte Menge an Brandmaterial richtig vorausberechnet zu haben.

– Von diesen Plänen muß auch Erik Jan Hanussen, der später ermordete »Hellseher« Hitlers, erfahren haben. Hanussen war, obwohl Jude, ein Intimus der Berliner SA-Größen Karl Ernst und Graf Wolf von Helldorf und machte lange vor dem 27. Februar 1933 in seiner Hanussen-Zeitung detaillierte Angaben über die bevorstehende Brandstiftung. Am Vorabend des Brandes soll Hanussen diesen nach mehrfach bezeugten Angaben in einer Seance sogar vor einem überwiegend faschistischen Publikum angekündigt haben. Sein Vorauswissen wurde dem Hellseher zum Verhängnis. Ein SA-Kommando brachte den allzu Gesprächigen im Auftrag Karl Ernsts zum Schweigen. Entsprechende Bemerkungen im Hanussen-Jahrbuch 1933, das lange Zeit verschollen war und erst nach Erscheinen unseres Buches von Wilfried Kugel gefunden wurde, geben Anlaß zu dem Verdacht, daß Nazipläne für eine Provokation großen Stils bis ins Jahr 1932 zurückreichen. Darin heißt es: »Eine große Brandkatastrophe wird hohe künstlerische Werte vernichten. (...) Ein Attentat auf einen sehr großen politischen Führer wird geahndet werden. (...) Der Versuch eines Putsches in Deutschland wird kräftig unterdrückt werden müssen.« 4) Pläne für ein fingiertes Attentat auf Hitler waren im Februar 1933 auch der KPD-Führung bekannt geworden.

– Aufschlußreich ist ferner, daß der Freispruch des im Leipziger Reichstagsbrandprozeß mitangeklagten ehemaligen Chefs der kommunistischen Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, von Anfang an feststand. Torgler, der gut mit Rudolf Diels bekannt war, hat spätestens seit 1933 mit dem Naziregime kollaboriert. Gegen die Weisung seiner Partei ließ Torgler sich im Verfahren von dem NS-Staranwalt Alfons Sack verteidigen, was seinen Ausschluß aus der KPD zur Folge hatte.

– Eine Reihe von mysteriösen Morden und Todesfällen im Anschluß an den Reichstagsbrand (Walter Gempp, Adolf Rall, Dr. Georg Bell, Dr. Ernst Oberfohren, Karl Reineking u.a.) lassen sich aufgrund erdrückender Indizien unschwer mit der Brandstiftung in Verbindung bringen. Ganz offensichtlich wurden hier lästige Mitwisser beseitigt.


Wem nutzte das Verbrechen?

Der Reichstagsbrand kam den Nazis aus innenpolitischen Gründen wie gerufen – noch kurz vor den von Hitler auf den 5. März 1933 vorgezogenen Neuwahlen waren die Aussichten für die NSDAP alles andere als günstig, Partei und SA vom Zerfall bedroht. Obwohl sie wenige Tage vor dem Brand in »unterirdischen Katakomben« des Karl-Liebknecht-Hauses (KPD-Zentrale) Material für einen geplanten kommunistischen Umsturz gefunden haben wollten, darunter Pläne für die »Inbrandsetzung öffentlicher Gebäude«, unterließen es die Nazis, das Reichstagsgebäude zu bewachen. Es versteht sich beinahe von selbst, daß diese Pläne trotz der großspurigen Ankündigung Görings nie veröffentlicht wurden.

Obwohl die Indizien im Fall Reichstagsbrand eine unmißverständliche Sprache sprechen, halten einige Historiker krampfhaft an der längst unhaltbar gewordenen These von der Alleintäterschaft van der Lubbes fest. Andere »Zeitgeschichtsforscher« widersprechen dieser These zwar aus guten Gründen, zielen aber an den relevanten Fragen geschickt vorbei. Warum Historiker und Publizisten über Jahrzehnte hinweg so viel Energie darauf verwandten, den Tathergang zu verschleiern und der Naziführung in Sachen Reichstagsbrand die Absolution zu erteilen, ist nicht nur eine konspiratologische, sondern vor allem eine historisch-politische Frage. Daß es eine Konspiration der überlebenden direkten und indirekten Tatbeteiligten nach 1945 gegeben hat, ist erwiesen.

Darüber hinaus gab und gibt es für die Leugnung der faschistischen Urheberschaft am Reichstagsbrand aber auch ein »allgemeines politisches« Interesse: Ließe sich doch an diesem Fall exemplarisch zeigen, wie systematisch (und damit prinzipiell erkennbar!) und mit welch krimineller Energie die Naziführung auf ihr Ziel zusteuerte: die Zerschlagung der sozialistischen Arbeiterbewegung und die Errichtung einer totalitären, die kapitalistischen Besitzverhältnisse bewahrenden Diktatur. Mit dieser Erkenntnis fällt jedoch die Legende, die heute noch fast jedes Schulkind, zumindest in den alten Bundesländern eingetrichtert bekommt, wonach die Weimarer Republik von den politischen Extremisten der Rechten und der Linken zugrunde gerichtet worden sei.


Nazis – Zeugen des »Spiegel«

In einer spektakulär aufgemachten Artikelserie sprach Rudolf Augsteins Spiegel als erstes meinungsbildendes Blatt der jungen BRD die Nationalsozialisten von jeder Schuld am Reichstagsbrand von 1933 frei. 5) Der im Reichstag festgenommene, zu 75 Prozent sehbehinderte Holländer Marinus van der Lubbe habe den Brand ganz alleine gelegt, die Nazis seien von der Tat völlig überrascht worden und gewissermaßen durch einen »blinden Zufall« und geschicktes Improvisieren an die Macht gekommen. Die noch seinerzeit auch in der Bundesrepublik weitverbreitete Ansicht, der Brand sei das Werk der Nazis gewesen, wurde in der Serie und dem ihr folgenden Buch als das Ergebnis »kommunistischer Propaganda« dargestellt.

Bereits die Autorenangabe »nach einem Manuskript von Fritz Tobias« ließ darauf schließen, daß außer dem von Augstein in einer Einleitung vorgestellten »Amateurforscher« und Beamten im niedersächsischen Verfassungsschutz noch andere an der Serie mitgewirkt hatten. Zu jenen gehörte, wie Tobias später zugab, auch ein ehemaliger hochrangiger Nazi: der SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt, Pressechef des als Kriegsverbrecher hingerichteten Außenministers Joachim von Ribbentrop und Spezialist für antisemitische Provokationen, wie aus einer geheimen Aktennotiz Schmidts für »Herrn Staatssekretär« vom 27. Mai 1944 anläßlich einer geplanten »Großaktion gegen die Budapester Juden« hervorgeht. Schmidt, der später unter dem Pseudonym Paul Carell in Büchern wie »Verbrannte Erde« den Vernichtungskrieg der Wehrmacht verherrlichte, war seinerzeit schon länger beim Spiegel als Serienschreiber tätig.

Fritz Tobias selbst soll während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Geheimen Feldpolizei gewesen sein – der Gestapo der Wehrmacht. Das berichtete Otto Strasser, der Bruder des von den Nazis beim Röhm-Putsch ermordeten ehemaligen NS-Reichsorganisationsleiters Gregor Strasser. Auch ein deutscher Emigrant will Tobias während des Krieges in der Uniform der Geheimen Feldpolizei im besetzten Holland wiedergesehen haben. Tobias selbst hat bestritten, Mitglied der GFP oder der NSDAP gewesen zu sein und immer wieder auf seine langjährige SPD-Mitgliedschaft verwiesen. (Leider durfte uns die deutsche Dienstelle keine Auskünfte über Tobias’ Tätigkeit als Angehöriger der deutschen Wehrmacht erteilen, weil dieser seine Einwilligung hierzu nicht erteilte).

Hauptquellen der Spiegel-Serie waren Aktenauszüge von NSDAP-Mitglied Alfons Sack, Verteidiger des im Reichstagsbrandprozeß angeklagten früheren KPD-Fraktionschefs Ernst Torgler, außerdem die »Erinnerungen« des ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels und die Nachkriegsbekundungen der damals im Auftrag Görings ermittelnden Kriminalkommissare. Offen erklärtes Ziel des Amateurhistorikers war die Revision einer angeblich von Kommunisten beeinflußten Geschichtsschreibung.


1) Georgi Dimitroff und der Reichstagsbrandprozeß, Band 1 und 2, Berlin 1982 und 1989

2) Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, St 65

3) Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, edition q, Berlin 2001

4) Hanussen-Jahrbuch 1933, hg. E. J. Hanussen, 1. Auflage, Berlin, ca. Oktober 1932

5) »Stehen Sie auf, van der Lubbe«. Der Reichstagsbrand 1933 – Geschichte einer Legende. Nach einem Manuskript von Fritz Tobias, in: Der Spiegel, 43/1959-1-2/1960. Fritz Tobias: »Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit«, Rastatt 1962

* Morgen: Planlos ins »Dritte Reich« gestolpert?

 

 

 

 

 

 

Die Neuinterpretation
 
Der Reichstagsbrand 1933 und die politische Funktion der vom Spiegel lancierten und von Hans Mommsen beförderten These vom Alleintäter van der Lubbe (Teil II und Schluß)
 
Die im Spiegel (43/1959–1-2/1960) »nach einem Manuskript von Fritz Tobias« veröffentlichte Legende vom Alleintäter van der Lubbe schöpfte u. a. aus den Erinnerungen von Rudolf Diels. Der war 1932 Dezernent für Linksradikalismus in der Polizeiabteilung des Preußischen Innenministeriums und hatte dort jene Intrige mit eingefädelt, die den kalten Staatsstreich, den »Preußenschlag«, ermöglichte, mit dem Reichskanzler Franz von Papen am 20. Juli 1932 die SPD-geführte Regierung Preußens absetzte (die sich ihm widerstandslos ergab) und durch einen Reichskommissar ersetzen ließ. Für seine Handlangerdienste wurde Diels zum Oberregierungsrat befördert. Unmittelbar nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde die Politische Polizei aus dem Berliner Polizeipräsidium herausgelöst und unter Diels’ Leitung Görings preußischem Innenministerium unterstellt. Aus ihr entstand das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa), Vorläufer der berüchtigte Gestapo. Ihr erster faktischer Chef: Rudolf Diels.


Die Wiederverwendung der Täter

Diesem Mann hatte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein bereits 1948/49 Raum für eine achtteilige apologetische Serie eingeräumt, die vor Geschichtsfälschungen nur so strotzte.1) Der virtuose Anpassungskünstler, der 1943 die Witwe von Görings verstorbenem Bruder heiratete, durfte sich als überzeugter Demokrat präsentieren, der die Position als Gestapochef nur genutzt habe, um Schlimmeres zu verhindern.

Zum Reichstagsbrand äußerte sich Diels im Spiegel mit der Bemerkung: »Es sind ehemalige Mitarbeiter an der Arbeit, um Klarheit in diese Sache zu bringen.« Und: »Ich selbst habe schon einige Wochen nach dem Brand und bis 1945 geglaubt, daß die Nationalsozialisten die Brandstifter gewesen seien. Ich glaube es heute nicht mehr.« Dies war die für die Öffentlichkeit bestimmte Version. Wie Zeugen versicherten, darunter der ehemalige stellvertretende Chefankläger des Nürnberger Gerichtshofs, Robert Kempner, hatte Diels ihnen gegenüber erklärt, den Reichstag hätten die Nazis in Brand gesteckt. Als Anführer des Brandstiftertrupps habe Diels den SA-Führer »Heini« Gewehr, Spezialist für selbstentzündliche Brandmittel, genannt. Im Sommer/Herbst 1957 erzählte Diels dies u.a. Mitarbeitern der Illustrierten Stern und Weltbild. Kurz darauf war Diels tot – aus der Flinte des geübten Jägers hatte sich ein Schuß »gelöst«!

Der erste Chef der Gestapo konnte sich auf seine Mitarbeiter verlassen. 1949 präsentierte die Zeitschrift Neue Politik (Zürich, Heft 2/1949) des Schweizer Nazikollaborateurs Wilhelm Frick eine Artikelserie »Der Reichstagsbrand in anderer Sicht«. Hinter dem »Assessor Dr. Schneider«, der darin als Gewährsmann für die Unschuld der Nazis am Brand auftritt, verbirgt sich der anonyme Autor selbst: Dr. Heinrich Schnitzler, der mit Diels schon den »Preußenschlag« vorbereitet hatte, war u. a. Mitorganisator der von Diels geleiteten Massenverhaftungen in der Brandnacht. Nach 1945 reüssierte er als Ministerialrat in der Polizeiabteilung des Innenministeriums in NRW. Die Nachkriegskorrespondenz zwischen Diels und seinem Intimus Schnitzler enthüllt, wie sich die beiden für ihre Entnazifizierung abstimmten. Diels: »Es scheint mir wichtig, unsere Arbeit als eine einheitliche Widerstandsleistung darzustellen, die zunächst den Gang der Entwicklung weg vom Rechtsstaat und hin zum reinen Terrorismus verzögert hat.«

Für die Neuinterpretation des Reichstagsbrands hielten Diels und Schnitzler einen ehemaligen Kollegen für besonders geeignet: Dr. Walter Zirpins, seinerzeit als Kriminalkommissar mit den ersten Ermittlungen zum Reichstagsbrand betraut. Seit Mai 1933 Lehrer am Kriminalpolizeiinstitut Berlin-Charlottenburg, war Zirpins Anfang der vierziger Jahre als SS-Obersturmbannführer im Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) mit der »Bekämpfung des jüdischen Verbrechertums« beauftragt, wobei ihn naturgemäß auch Gold und Wertsachen aus jüdischem Besitz interessierten. Daß Zirpins 1946 auf der polnischen Kriegsverbrecherliste stand, war seiner Karriere in der BRD nicht abträglich. Entnazifiziert und als »minder belastet« eingestuft, brachte er es bis zum Leiter des Landeskriminalamts in Hannover – unweit von Rudolf Diels: Auch der Ex-Gestapochef stand als Regierungspräsident zur Wiederverwendung in den Diensten der Landesregierung Hannover (wo der Spiegel in den Anfangsjahren seinen Sitz hatte).

Zirpins und Diels avancierten wohl nicht zufällig zu Kronzeugen für die Spiegel-Serie von Tobias. Der hatte seine Nachkriegslaufbahn bei der Entnazifizierungsbehörde in Hannover begonnen und stieg später zum Ministerialrat beim niedersächsischen Verfassungsschutz auf. Diels, der als Kommunismusexperte und passionierter »Menschenjäger« in den 50er Jahren in die Dienste des amerikanischen Militärgeheimdienstes CIC trat, mißlang das Comeback. Seine Ambitionen auf den Präsidentenstuhl beim neugeschaffenen Amt für Verfassungsschutz scheiterten – vermutlich an Adenauer, der sicher keinen zweiten Fall Globke wollte.

Mehr Glück als Diels hatten zwei seiner ehemaligen Mitarbeiter. Einer von ihnen, Dr. Rudolf Braschwitz, Leiter der von Göring eingesetzten Reichstagsbrandkommission, brachte es zum stellvertretenden Leiter der Kripo Dortmund. Braschwitz hatte den zu Unrecht angeklagten Dimitroff vor dem Reichsgericht unter Eid mit gefälschten Beweismitteln beschuldigt und tat später während des Krieges als Feldpolizeidirektor (SS-Sturmbannführer) bei der Geheimen Feldpolizei im besetzten Frankreich Dienst. Der andere hieß Hans Schneppel und war unter Adenauer als Leiter der Abteilung VI im Bundesinnenministerium, Öffentliche Sicherheit, u.a. für Bundesverfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundesgrenzschutz zuständig. Schneppel, seinerzeit Dezernent im Gestapa, hatte nicht nur in der Brandnacht zahlreiche Haftbefehle unterzeichnet, die für viele den Tod im KZ zur Folge hatten. Er hatte sich auch während des Reichstagsbrandprozesses um die Abstimmung der Aussagen von Nazigrößen gesorgt.

Zirpins Karriere hat Rudolf Augstein befördert. Bereits in seiner Serie »Das Spiel ist aus – Arthur Nebe« von 1949 hob der Spiegel die Unterschiede zwischen den »bewährten« »Elite«-Kriminalisten des ehemaligen Reichskriminalpolizeiamts einerseits sowie SS und Gestapo andererseits hervor – sorgsam verschweigend, daß es sich hier jeweils nur um verschiedene Zweige ein- und derselben Superbehörde, nämlich von Heydrichs Reichssicherheitshauptamt, handelte. Die Serie führe, so Augstein, »den heutigen Polizeiverantwortlichen vor Augen, daß die Kriminalpolizei zentrale Weisungsbefugnis nötig hat« und deshalb »auf ihre alten Fachleute zurückgreifen muß, auch wenn diese mit einem NS-Dienstrang angeglichen worden waren«. In Wahrheit beweist Zirpins’ handschriftlicher Lebenslauf, daß er schon im Mai 1937 als SS-Mitglied geführt wurde, als der Eintritt auch für Mitglieder der Kriminalpolizei noch weitgehend freiwillig war.

Im selben Beitrag legte der Spiegel eine »Liste der früher maßgeblichen Kriminalisten« vor, die rehabilitiert, aber noch nicht wiedereingestellt worden waren, obwohl ihre Wiederverwendung im Bereich »Innere Sicherheit« im nationalen Interesse läge. Unter dieser »Elite der alten Sherlock Holmes« aus dem Reichskriminalpolizeiamt waren zwei Männer, die bei der »Aufklärung« des Reichstagsbrandes eine entscheidende Rolle gespielt hatten: Kriminalkommissar Helmut Müller, der im Reichstagsgebäude Fingerabdrücke gesichert hatte, die nicht von van der Lubbe stammten, dieses Faktum aber vor dem Reichsgericht verschwieg, sowie Zirpins.

Als Reaktion auf Tobias’ Spiegel-Serie ließ die Zeit einen anderen ehemaligen Mitarbeiter von Diels zu Wort kommen: Dr. jur. Hans-Bernd-Gisevius, der im Auftrag von Diels zeitweiliger Beobachter des Leipziger Reichstagsbrandprozesses war. Nach seinem Bruch mit dem Hitler-Regime wurde er für den US-amerikanischen Geheimdienst tätig und hat mit den Verschwörern des 20. Juli zusammengearbeitet. Gisevius beschuldigte in seiner Serie »Der Reichstagsbrand im ZerrSpiegel« (Die Zeit, 4.3.1960 – 25.3.1960) den schon erwähnten Hans Georg Gewehr als einen der Haupttäter der Brandstiftung. Augstein erwiderte am 27.4.1960 mit einer aggressiven und emotionalen Polemik, in der er den von Gisevius als Organisator der Brandstiftung beschuldigten Berliner SA-Verbrecher Karl Ernst in Schutz nimmt und vehement den SA-Schläger und Kriegsverbrecher Heini Gewehr verteidigt, der, zuletzt Major an der Ostfront, eigenhändig polnische Juden erschossen hat. Gisevius’ Angaben zu der Ermordung des SA-Mannes und mutmaßlichen Mitwissers der Brandstiftung, Rall, weist Augstein unter Berufung auf Diels als »samt und sonders falsch« zurück. Die Originalakten freilich bestätigen weitestgehend Gisevius – und widerlegen Augstein.


Mommsens »Gutachten«

Auf Anregung des Politologen Prof. Eugen Kogon beschäftigte sich das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) mit dem Tobias-Buch. Am 3.5.1962 lag im Prozeß Gisevius gegen Tobias ein – unveröffentlichtes, erst vom Autor wiederentdecktes – Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte vor, verfaßt vom damaligen IfZ-Mitarbeiter Hermann Graml. 2) Der geht schonungslos mit dem Tobias-Buch ins Gericht, bezeichnet es als tendenziös, unwissenschaftlich und unseriös. Doch kaum zwei Jahre später, 1964, wartet das gleiche Institut überraschend mit einem neuen, diesmal in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlichten »Gutachten« auf, erstellt von dem jungen Historiker Hans Mommsen, ebenfalls Mitarbeiter des IfZ. Mommsen bestätigt die Darstellung von Diels/Tobias. Dabei unterlaufen ihm haarsträubende Schnitzer. So wirft er – analog zu Tobias – den Sachverständigen im Leipziger Reichstagsbrandprozeß, allen voran dem chemischen Gutachter Dr. Schatz, Widersprüche und Fehler vor, die jedoch weder in deren Gutachten noch in den Aussagen vor Gericht aufgetreten sind. Falsch ist auch Mommsens Behauptung, man habe »keine Spuren, keine Werkzeuge, keine Reste von Brennmaterial« gefunden, welche die Annahme rechtfertigten, daß »van der Lubbe den Plenarsaal nur mit fremder Hilfe in Brand gesetzt haben könnte«. Mommsen vergaß nicht nur die Brandfackel, die Zeugen lange vor Eintreffen der Feuerwehr in einem Klubsessel im Wandelgang entdeckt hatten, er spielte auch die Phosphorreste als bedeutungslos herunter, die der chemische Sachverständige Dr. Schatz im Plenarsaal gefunden hatte. Frei erfunden ist schließlich Mommsens Behauptung, der als Zeuge vor dem Reichsgericht vernommene Oberbranddirektor Gempp habe seine Aussage über eine Gießspur von verschüttetem Brandmaterial vor Gericht zurückgezogen. Mommsens Text wimmelt vor kapitalen Fehlern.

Mittlerweile weiß man, beim Zustandekommen des Aufsatzes gaben nicht wissenschaftliche Motive, sondern politische Interessen den Ausschlag. Dies bestätigt ein Aktenvermerk Mommsens von 1963. 3) Darin nimmt Mommsen zu einer Expertise Stellung, die das Institut in Auftrag gegeben hatte. Autor ist der Oberstudienrat und Reichstagsbrandforscher Dr. Hans Schneider. 4) An den Tobias-Thesen läßt Schneider kein gutes Haar. Er weist Tobias Fehler und sinnentstellende Verdrehungen nach. Mommsen jedoch mißfällt die gründliche Arbeit Schneiders. Sie sei »aus allgemeinpolitischen Gründen (...) unerwünscht«, weshalb »das Institut ein Interesse habe, »die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern«. Der Historiker Mommsen gibt zu bedenken, ob das Institut nicht über das »Stuttgarter Ministerium« Druck auf Schneider ausüben könne, um eine anderweitige Veröffentlichung der Arbeit zu verhindern. (In »Stuttgart« saß damals als Chef der Landesregierung von Baden-Württemberg Kurt Georg Kiesinger, ehemaliger Verbindungsmann zwischen Goebbels und Ribbentrop zur Abstimmung der Auslandspropaganda (Spezialgebiet: Nachrichtenfälschung).

Mommsens Votum zeigte Wirkung. Schneiders Arbeit wurde nicht veröffentlicht, statt dessen übertrug das Institut für Zeitgeschichte seinem Mitarbeiter Hans Mommsen den Auftrag. Offiziell galt Mommsen damals als Kritiker von Tobias, er hatte dessen Buch in der Stuttgarter Zeitung (5.7.1962) mit scharfen Worten angegriffen. Wie aus internen Vermerken des Instituts für Zeitgeschichte
Für Mommsen bot sich mit dem »Gutachten« die ungeahnte Chance, seine spekulative, damals zweifellos provokante These, wonach Hitler und die Nazis gewissermaßen planlos ins »Dritte Reich« hineingestolpert seien, auf eine vermeintlich solide Faktenbasis zu stellen. War der Reichstagsbrand nur ein böser Zufall der Geschichte, die sich daran anschließende Suspendierung der bürgerlichen Rechte und die Verfolgung der Kommunisten nur eine bona fide erfolgte Panikreaktion der völlig überraschten Naziführung, dann konnte von einer planvollen, vorherseh- und damit verhinderbaren (!) Machtübernahme kaum noch ernstlich die Rede sein.

Damit fand die Einzeltäterthese Eingang in den bundesrepublikanischen Tempel der Wissenschaft. Wer an der Tatversion des Fritz Tobias zweifelte, der wurde bald selbst zur Zielscheibe des Hamburger Nachrichtenmagazins, dessen Treibjagd auf Kritiker sich zeitweilig auch die Zeit anschloß. Und wieder war der »Verfassungsschutz« beim Nebelwerfen mit von der Partie: diesmal mit den Herausgebern der Jahrbücher »Extremismus & Demokratie«, Eckhard Jesse und Uwe Backes. 6)

Auch die letzte größere Spiegel-Geschichte zum Reichstagsbrand (vor Erscheinen unseres Buches) greift auf einen ehemaligen NS-Experten zurück. 1970 veröffentlichte ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern um den renommierten Schweizer Historiker Walther Hofer ein Gutachten des Instituts für Thermodynamik an der TU Berlin. Die Expertise war zu dem eindeutigen Schluß gekommen, daß Marinus van der Lubbe den Brand im Reichstag unmöglich allein in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und mit den ihm zur Verfügung stehenden Brandmitteln (Kohlenanzünder) verursacht haben kann.

1975 widersprach diesem Gutachen in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte ein gewisser Alfred Berndt. 8) Er ignorierte Dokumente, die bis dahin von keinem Historiker bestritten wurden; ließ Feuerwehrleute, Polizisten und Passanten viel langsamer agieren, als tatsächlich geschehen, und den nahezu blinden van der Lubbe seine Aktionen im dunklen Reichstag mit unglaublicher Geschwindigkeit ausführen. Der Spiegel triumphierte über Berndts Ergebnis: »Das letzte Rätsel des Reichstagsbrandes von 1933 ist gelöst: Ein einzelner Täter hatte doch Zeit genug, den Brand allein zu legen.« Den Urheber dieser »Erkenntnis« stellte der Spiegel als Feuerwehr- bzw. Brandexperte vor. Nach unseren Erkenntnissen hat sich Berndt auch nach dem Krieg nie im Bereich Feuerwehr oder Brandbekämpfung betätigt. Allerdings findet sich im Bundesarchiv eine auf den Namen Alfred Berndt ausgestellte NSDAP-Karteikarte: Das Geburtsdatum 18.01.1907 stimmt mit Berndts eigenem Lebenslauf von 1961 überein. Aus dem geht hervor, daß er von 1936 bis 1945 Ingenieur im Reichsluftfahrtministerium Görings war.


Der Rückzug ist vorbereitet

Auch nach unserer umfassenden Auswertung der Originalakten des Reichstagsbrandprozesses hält der Spiegel an den Erkenntnissen seiner »unvoreingenommenen Experten« fest, 9) nennt Spiegel-Autor Klaus Wiegrefe die Alleintäterthese »die immer noch plausibelste« aller möglichen Erklärungen des Geschehens. Die Argumente des Magazins sprechen für sich: Für die Spiegel-Kritiker, »akademische Außenseiter«(!), zählten »nur jene Merkwürdigkeiten, die sich wohl nie klären lassen« und: »Auch die Uhren der Polizisten und Feuerwehrmänner (müssen) nicht unbedingt genau gehen.«

»Man glaubt indessen die Unsicherheit des Verfassers mit Händen greifen zu können, wenn er andererseits erwähnt, Wissenschaftler hielten es für ausgeschlossen, ›daß van der Lubbe allein durch den Reichstag stürmte und in wenigen Minuten mit Kohlenanzündern und einigen Textilien den Plenarsaal mit dem tonnenschweren Eichengestühl anzünden konnte‹, urteilte der Schweizer Historiker Walther Hofer in der Neuen Zürcher Zeitung. »Im Grunde genommen bringt der ›studierte‹ Historiker (Wiegrefe), den der Spiegel beauftragt hat, in seinem Artikel fast alle Argumente, die man gegen seine These vorbringen kann, um sie dann mit höchst fadenscheinigen Begründungen zu verwerfen.« Der Rückzug ist also vorbereitet – doch welche Legende folgt nun?

1) Rudolf Diels: Die Nacht der langen Messer ... fand nicht statt. Der Spiegel, Hamburg, 7.7.1949. Rudolf Diels: »Lucifer ante portas«, Zürich 1949, Stuttgart 1950

2) Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, erstattet im Prozeß Dr. Gisevius gegen Tobias vor dem Oberlandesgericht Hamburg, vom 3.5.1962, Bl. 1 (Nachlaß Gisevius, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, Sig. 15.15 u. 15.19)

3) Aktennotiz. Unterredung [von Hans Mommsen] mit Rechtsanwalt Dr. Delp betr. Rechtslage in der Angelegenheit Schneider, Institut für Zeitgeschichte, ZS-A7. Mommsen selbst hat sich bis heute nicht öffentlich über die von ihm angeführten »allgemeinpolitischen Gründe« geäußert. Dagegen hat sich das Institut für Zeitgeschichte inzwischen von Mommsens Vorgehen in der Angelegenheit Schneider distanziert. (VfZ, 49. Jg., 3. Heft, S. 555)

4) Hans Schneider: »Neues vom Reichstagsbrand?«, unveröffentlichtes Manuskript, Institut für Zeitgeschichte, München

5) Vgl. Aktennotiz von H. Graml an den Leiter des Instituts, Helmuth Krausnick, vom 9.01.1961, Institut für Zeitgeschichte, München

6) U. Backes. K. H. Janßen, E. Jesse, H. Köhler, H. Mommsen, F. Tobias: »Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende«, München 1986

7) Abgedruckt in: Walther Hofer, Eduard Calic, Christoph Graf, Friedrich Zipfel: »Der Reichstagsbrand. Eine Dokumentation«, neu hg. u. bearb. von
Alexander Bahar, Freiburg i. Br. 1992

8) Alfred Berndt, »Zur Entstehung des Reichstagsbrandes. Eine Untersuchung über den Zeitablauf«, in: VfZ 23 (1975), 77-90.

9) »Flammendes Fanal«, Der Spiegel, 15/2001, S. 38-58


* Die Rekonstruktion des Verbrechens: Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird. Mit 46 Fotos und Dokumenten. Edition q, Berlin 2001, 863 Seiten, 34,80 Euro
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Glatteis, Legenden und tragische Geschichte
Leipzigs Georgi-Dimitroff-Platz und die »Stalinismus«-Keule

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In Leipzig geht die Auseinandersetzung um die Neubenennung des Georgi-Dimitroff-Platzes weiter. Zwar hat der Stadtrat inzwischen beschlossen, den Namen des bulgarischen Kommunisten von den Schildern vor dem ehemaligen Reichsgericht zu entfernen. Doch die Leipziger selbst wurden von der SPD-geführten Stadtverwaltung nicht gefragt. Laut einer Zeitungsumfrage jedoch ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung dagegen, Dimitroffs Namen von dem Platz im Zentrum der Stadt zu entfernen. Die Initiatoren der Umbenennung aus CDU und SPD entzogen sich zudem öffentlichen Diskussionen über das Wirken Dimitroffs, der 1933 im Reichstagsbrandprozeß die Anklagekonstruktion der Nazis zu Fall brachte - unterstützt von einer publizistischen Offensive aus dem Ausland, die der deutsche Kommunist Willi Münzenberg initiierte.

Unser Autor, der Leipziger Historiker Ernstgert Kalbe, beschäftigt sich in dem folgenden Beitrag mit den »Stalinismus«-Vorwürfen gegen Dimitroff, der 1935 auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale die Volksfrontpolitik begründete, einen Versuch der Sammlung aller antifaschistischen Kräfte, den dann Stalin vor allem mit den Moskauer Schauprozessen von 1936 und 1937 sabotierte. (jW)

Georgi Dimitroffs Name steht für die erste Niederlage des faschistischen Hitlerregimes im Reichtagsbrandprozeß 1933 in Leipzig. Dort ging es um jene politische Brandstiftung vom 27. Februar 1933, in deren langem Schatten die Verfolgung von Kommunisten, Sozialdemokraten, Demokraten und Antifaschisten aller Couleur eingeleitet und schließlich die Weltbrandstiftung des Zweiten Weltkrieges vorbereitet wurde.

Ist es das, was Leipziger Lokalpolitiker und Pseudohistoriker von CDU bis SPD zur Umbenennung des Georgi-Dimitroff-Platzes vor dem Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts treibt, nachdem schon bald nach der Wende das Dimitroff-Museum aus dem Gebäude vertrieben und seine Bestände weggeschlossen wurden? Oder ist es der vorauseilende Gehorsam gegenüber den hohen Richtern des künftig hier beheimateten Bundesverwaltungsgerichts, denen man die Konfrontation mit jener makabren Seite deutscher Reichs- und Rechtsgeschichte ersparen möchte?

Im Unterschied zum IV. Strafsenat des Deutschen Reichsgerichts, der angesichts der Tatsachen die angeklagten Bulgaren Dimitroff, Popow und Taneff sowie den deutschen Angeklagten Torgler 1934 freisprechen mußte, sind heutige Leipziger Politiker zu einer fairen politisch-rechtlichen Würdigung der Rolle Dimitroffs im Leipziger Prozeß sowie im antifaschistischen Kampf nicht bereit. Vielmehr schwingen sie die vielseitig verwendbare Keule des »Stalinismus« gegen Dimitroff, der damals weltweit als der »Held von Leipzig« gefeiert wurde.

Der erste Vorwurf lautet, Dimitroff habe als Sekretär des Westeuropäischen Büros der Kommunistischen Internationale (KI) in Deutschland zur Vernichtung der Sozialdemokratie aufgerufen, weil »Faschismus und Sozialdemokratie Zwillingsbrüder« seien. Gerade Dimitroff gehörte zu jenen führenden Kommunisten, die gegen die These vom Sozialfaschismus auftraten. Während des Leipziger Prozesses rief er zur Einheitsfront mit der Sozialdemokratie auf, so wie er es bereits zuvor getan hatte.

Im Oktober 1932 zum Beispiel schrieb Dimitroff einen Brief an das Exekutivkomitee der KI, in dem er sektiererische Enge der KPD bei der Politik der Antifaschistischen Aktion beklagte. »Gegenüber den sozialdemokratischen Arbeitermassen setzen wir in der

>Antifaschistischen Aktion< die frühere Fragestellung fort:

Kommt zu uns! Kämpft mit uns gegen den Faschismus, gegen den Lohn- und Unterstützungsraub (...) Faktisch stellen wir immer noch die Anerkennung der Führung der Kommunistischen Partei als eine Vorbedingung für die revolutionäre Einheitsfront ...« Statt dessen empfahl er, daß die Arbeiter »ohne Unterschied der Partei- und Organisationszugehörigkeit« »gemeinsam gewählte Kampforgane« schaffen sollten.

Bekannt ist Dimitroffs Wirken für den Amsterdamer Antikriegskongreß im August 1932 und für den Antifaschistischen Arbeiterkongreß Europas im Juni 1933 in Paris. Während des Leipziger Prozesses rief er zu Massenarbeit, Massenkampf und Einheitsfront auf, die das Alpha und Omega des antifaschistischen Kampfes seien.

Der zweite Vorwurf lautet, Dimitroffs Mut in Leipzig habe im Wissen darum bestanden, daß Gestapo und NKW vorab seine Überstellung nach Moskau vereinbart hätten. Weiß der Henker, woher diese Weisheit stammt. Die Akten des sächsischen Ministeriums des Innern wie die Gestapo-Akten (Landeshauptarchiv Dresden, Ministerium des Auswärtigen Amtes, Teil I, Nr. 846, XXI. 45) weisen jedenfalls aus, daß am 4. Januar 1934 in Berlin eine Beratung im Reichsministerium des Innern stattfand, auf der über die Auslieferung Dimitroffs und seiner Genossen oder ihre Verbringung in ein KZ diskutiert wurde. Ministerialdirigent Diels erklärte dort im Auftrage des preußischen Ministerpräsidenten Göring, daß man »die weitere Behandlung Dimitroffs geradezu eine Stilfrage für den Nationalsozialismus nennen« könne. »Die Absicht des preußischen Herrn Ministerpräsidenten ginge dahin, Dimitroff in ein KZ zu bringen und ihn dort genauso zu behandeln wie die anderen maßgeblichen kommunsitischen Funktionäre Torgler, Schneller usw.« Aus außenpolitischen Rücksichten entschied Hitler persönlich, die freigesprochenen Bulgaren in die Sowjetunion abzuschieben, nachdem diesen im Februar 1934 die sowjetische Staatsbürgerschaft verliehen worden war. Der beabsichtigte gleichsetzende Totalitarismusvorwurf geht also nicht auf.

Der dritte Vorwurf lautet, Dimitroff habe nach dem Leipziger Prozeß und als Generalsekretär der KI als Erfüllungsgehilfe Stalinscher Repressionspolitik gedient. Zunächst begründete Dimitroff nach dem Leipziger Prozeß die Strategie der antifaschistischen Einheitsfront und Volksfrontpolitik des VII. Weltkongresses der KI im Sommer 1935, die anfänglich zum Aufschwung des weltweiten antifaschistischen Kampfes beitrug, mit dem Münchner Abkommen und dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt jedoch faktisch für zwei Jahre außer Kraft gesetzt wurde. Die Durchsetzung der Volksfrontpolitik war nur gegen den Widerstand sektiererischer Kräfte in der kommunistischen Bewegung möglich.

Es ist wahr: Als Generalsekretär der KI konnte Dimitroff die um sich greifenden Repressionen gegen sowjetische Funktionäre, deutsche, bulgarische und andere Politemigranten in der Sowjetunion nicht verhindern, teils wegen zunehmender Machtlosigkeit, teils wegen falscher Gläubigkeit gegenüber den sowjetischen Organen, teils auch wegen selbstverschuldeter Unmündigkeit gegenüber dem Machtapparat Stalins, zumal das Gewicht der KI seit 1938 ständig sank. Das ist keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung. Freilich gibt es auch Beweise dafür, daß Dimitroff - wie Togliatti oder Pieck - in manchen Fällen verhaftete Gesinnungsgenossen aus der Haft befreien konnte. Bekannt ist die Aussage des autorisierten Tito-Biographen Dedijer, wonach Dimitroff und Tito bei den Verhaftungswellen 1937/1938 gegenseitig gefährdete Landsleute in ihren Datschen versteckten.

Stefan Troebst, zu realsozialistischen Zeiten westdeutscher Geschichtsstudent in Sofia und heute als Leiter des Flensburger »Europäischen Zentrums für Minderheitenforschung« (EZM) maßgeblich am Ausbau einer rechtsextremistisch beeinflußten »Volkstums«politik beteiligt (siehe jW vom 22. Mai 1997), widmet sich in einem längeren Artikel, der von der Leipziger SPD gewissermaßen als Hauptbeweismittel gehandelt wird, den in der Tat verbrecherischen Säuberungen und Verfolgungen in der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP). Der Autor bezeichnet dabei Dimitroff neben Kolaroff als »Strohmann« bei solchen Repressalien gegen Politemigranten in der UdSSR und gegen Parteifunktionäre in Bulgarien. Troebst verteidigt in diesem Zusammenhang faktisch sogar die sogenannte »linke« Führung der BKP um Petar Iskroff, um die Einheits- und Volksfrontlinie Dimitroffs ins Zwielicht zu rücken. Nicht immer recherchierte er die Fakten exakt, so wenn er von der Teilrehabilitierung Blagoj Popoffs 1954 spricht, eines Mitangeklagten Georgi Dimitroffs im Leipziger Prozeß, der nach seiner Entlassung aus sowjetischer Haft immerhin Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre 1. Botschaftsrat der Volksrepublik Bulgarien in der DDR war.

Der unterschwellige Verdacht, Dimitroff könnte seine Hand auch bei der Ausschaltung und Verurteilung Traitscho Kostoffs, des 1. Sekretärs der BKP, im Jahre 1949 im Spiele gehabt haben, geht ins Leere. Der todkranke Dimitroff befand sich seit dem 15. April 1949 im sowjetischen Sanatorium Barwicha und verstarb dort am 2. Juli 1949, Kostoff wurde - freilich mit Kenntnis Dimitroffs - hingegen im Mai 1949 aus dem ZK, im Juni aus der BKP ausgeschlossen, am 20. Juni 1949 verhaftet und im Dezember 1949 in einem konstruierten Prozeß zum Tode verurteilt.

Nach seiner Rückkehr nach Bulgarien hatte Dimitroff von 1946 bis 1948 gemeinam mit Tito eine aktive Politik zur Schaffung einer Balkanföderation zwischen Bulgarien, Jugoslawien, Albanien, eventuell auch Griechenland (im Falle eines linken Sieges im griechischen Bürgerkrieg) und Rumänien betrieben. Das fand im sogenannten Bleder Vergleich zwische Bulgarien und Jugoslawien vom 1. August 1947 und in den Freundschaftsverträgen von 1947/48 zwischen den südosteuropäischen Ländern der Volksdemokratie konkreten Ausdruck. Damit wäre eine starke staatliche Föderation in Südosteuropa entstanden - mit eigenem internationalem Gewicht und eigenen Interessen.

Das rief die harsche Kritik Stalins hervor. Während sich Dimitroff dem Verdikt aus Moskau beugte, beharrte Tito auf eigenen Positionen, was 1948 zum Kominform-Konflikt mit Jugoslawien führte. Das tragische Ende einer großen Idee.

Übrigens war Kostoff aktiv an den Föderationsgesprächen mit Jugoslawien beteiligt. Das war der eigentliche Punkt seiner späteren Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung, die zweifellos auf Stalins Intervention zurückzuführen war. Jedenfalls riet Dimitroff, der sich an der Kominform-Beratung im Juni 1948 nicht beteiligte, den Jugoslawen zum Durchhalten. In Jugoslawien wurden deshalb der Name Dimitroff für Orte und Betriebsbezeichnungen beibehalten, während Tito die Namen von führenden Funktionären anderer sozialistischer Länder entfernen ließ.

In der blutigen Geschichte des 20. Jahrhunderts, das Eric Hobsbawm als das »Zeitalter der Extreme« bezeichnet, sind fleckenlose Biographien selten. Das gilt zum Beispiel auch für die Männer des 20. Juli 1944, die sich führend an Hitlers Krieg beteiligt hatten. Warum gilt ähnliche Fairneß nicht für Dimitroff? Oder obwaltet hier die Logik umgekehrter Totalitarismusdoktrin?

*** Unter dem Titel »Der Dimitroff-Skandal: Wie die Stadt Leipzig einen weltberühmten Antifaschisten abwickelt« hat der PDS-Stadtvorstand Leipzig eine illustrierte Chronik der bisherigen Auseinandersetzungen um den Georgi-Dimitroff- Platz herausgegeben. Die von Volker Külow und Dietmar Pellmann verfaßte 32seitige Broschüre ist zum Preis von 4 Mark plus Porto ab dem heutigen Donnerstag über die Leipziger PDS (04277 Leipzig, Brandvorwerkstr. 52/54, Tel. 0341/3950455) erhältlich.

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Keinen Stein für van der Lubbe?
jW-Gespräch mit dem Berliner Gerhard Brack, der sich für einen Gedenkstein in Berlin einsetzt

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*** Gerhard Brack - das Foto zeigt ihn mit drei niederländischen Künstlern vor dem Berliner Reichstagsgebäude - lebt als freier Autor und Wissenschaftler in Berlin. Er promovierte über Friedrich Dürrenmatt, arbeitete beim Bayrischen Rundfunk. Er beschäftigt sich mit dem Leben von Marinus van der Lubbe und studiert derzeit im Bundesarchiv vor allem die Akten, die 1982 aus der Sowjetunion nach Berlin zurückkamen: 250 Kartons über den Reichstagsbrand - mit jeweils zwischen 200 und 8 000 Seiten

* Die Nazis hatten versucht, die Brandstiftung den Kommunisten anzuhängen. Noch in der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 wurden zahlreiche Mitglieder der KPD und andere Antifaschisten nach vorgefertigten Listen verhaftet. Die Anklage gegen Georgi Dimitroff und andere brach im Reichstagsbrandprozeß zusammen. Doch Marinus van der Lubbe wurde widerrechtlich zum Tode verurteilt. Bis heute wird versucht, ihn als »Alleintäter« bei der Reichstagsbrandstiftung hinzustellen

F: In Leipzig und dem niederländischen Leiden sind zwei Gedenksteine für den niederländischen Rätekommunisten Marinus van der Lubbe errichtet worden. Nun soll auch in Berlin vorm Reichstagsgebäude ein Gedenkstein für den als angeblichen Reichstagsbrandstifter zum Tode Verurteilten errichtet werden. Sie engagieren sich - gemeinsam mit zahlreichen niederländischen Künstlern - für diese Ehrung. Was hat Sie dazu bewegt?

Ich interessiere mich sehr stark für das Leben Marinus van der Lubbes. Er ist eine in der Geschichte sehr wichtige Persönlichkeit. In den Niederlanden existiert eine Stiftung, die sich dafür einsetzt, daß es ein Grab für van der Lubbe gibt. In Holland ist das Interesse riesengroß. Bei der Stiftung laufen die Telefone heiß. Auch wenn ich selbst nicht Mitglied dieser Stiftung bin, war ich in den Niederlanden, habe dort recherchiert und diejenigen kennengelernt, die diese Initiative ins Leben riefen. Das überzeugte mich.

Marinus van der Lubbe ist jemand, der sich stark politisch engagierte einerseits. Und er ist jemand, der ein sehr fürsorglicher, offener, kämpferischer, aber für andere kämpferischer Mensch war. Ich habe mich auf die Suche nach Menschen gemacht, die noch Marinus van der Lubbe persönlich erlebten und habe diese auch gefunden.

Beispielsweise habe ich den Sohn des Mannes gefunden, der Marinus in die Kommunistische Partei eingeführt hat. Im Bundesarchiv fand ich vor kurzem einen Brief, worin van der Lubbe einem Jungen zum Geburtstag Geld schickt. Er bekam selber sehr wenig Geld, er war Invalide und hatte nur sieben Gulden vierundvierzig pro Woche. Dieses wenige Geld hat er oft verschenkt an andere.

In Leipzig, wo van der Lubbe vor dem Reichsgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, steht bereits ein solcher Gedenkstein für ihn.

Ja, als Grabmal. Das Grab von Marinus liegt versteckt, in doppelter Tiefe, und es war nicht leicht, dieses Grab zu finden.

F: Wieweit sind die Bemühungen gediehen, in der deutschen Hauptstadt eine Ehrung für van der Lubbe zu schaffen?

Dieser Stein ist fertig. Er ist als Geschenk von Bürgern aus den Niederlanden gestiftet worden. Er ist ein Geschenk für die Stadt Berlin. Die Stadt Berlin möchte sich - so die letzten mir vorliegenden Informationen - jedoch nicht engagieren, sich nicht einsetzen, es nicht befürworten, daß dieser Stein aufgestellt wird. Vom Bundestag gab es einige positive Rückmeldungen, auch die Stadt Leipzig äußerte sich sehr positiv. Aber die zuständige Berliner Senatsverwaltung äußerte, daß sie das Projekt nicht empfehlen möchte. Ohne Empfehlung der Stadt Berlin wird die Aufstellung des Denkmals nicht genehmigt. Es geht seit längerem nur darum, ob und wo der Stein aufgestellt werden kann. Aber die Senatsverwaltung wünscht offenbar diesen Stein nicht. In den Niederlanden interessiert man sich stark für van der Lubbe, wo er auch einen großen Rückhalt hat. Politiker und auch die Bevölkerung dort stehen sehr hinter ihm. Am kommenden Montag wird eine Ausstellung im Amsterdamer Widerstandsmuseum eröffnet, wo dieser Stein zu sehen sein wird. Es bewegt die Menschen in den Niederlanden sehr. Sie sagen, Marinus war das erste Nazi-Opfer in den Niederlanden. Ich finde es sehr warm von den Niederländern, daß gerade von dieser Nation, die als erste durch die Ermordung van der Lubbes betroffen war, eine solche Aussöhnungsgeste kommt und Berlin dieser Stein geschenkt wird. Ich fände es völlig unverständlich, dieses Geschenk abzulehnen.

F: Sind die drei Steine in Leipzig, der in Berlin geplante und der in der Heimatstadt van der Lubbes, in Leiden, identisch?

Nein. Die drei Steine sind vom Format her gleich groß und sehen aus, als seien sie die Sandsteinquader, aus denen der Reichstag aufgebaut ist. Marinus dachte trotz seiner harten Haftbedingungen - über Monate hinweg waren seine Hände mit Ketten an die Hüften gefesselt, bei Tag und Nacht brannte Licht in seiner Zelle - an seine Freunde und schrieb ihnen ein dreistrophiges Gedicht, in dem es um die Schönheit des Lebens geht. Die zweite Strophe steht auf dem Stein, der für Berlin gedacht ist.

F: Gibt es in Deutschland weitere Ehrungen für van der Lubbe?

Nein. Nicht, daß ich wüßte.

F: Die Leipziger PDS hat sich seinerzeit sehr für ein öffentliches Gedenken an Marinus van der Lubbe in Leipzig eingesetzt. Hat Ihr Vorhaben auch von anderer Seite hierzulande Unterstützung bekommen?

Ich glaube, daß viele noch gar nicht wissen von dem Projekt. Die junge Welt ist die erste deutsche Zeitung, die bei uns anfragt und wissen will, was da eigentlich genau geplant ist. Es ist zu wünschen, daß dem Vorhaben mehr Öffentlichkeit geschenkt wird. Die Zeit schrieb seinerzeit, als der Gedenkstein in Leipzig aufgestellt wurde, es sei zu hoffen, daß sich die Hauptstadt genauso leicht tue wie Leipzig.

F: Was haben Sie jetzt konkret vor, um für mehr Öffentlichkeit, auch mehr Unterstützung zu sorgen?

Es wird auf jeden Fall die Möglichkeit geben, daß jeder Berliner diesen Stein sehen kann, und zwar am 27. Februar. Die Künstler werden aus Holland nach Berlin kommen, und sie werden den Stein mitbringen. Jeder wird sich davon überzeugen können, daß der Stein nicht übertrieben ist, sondern sehr schlicht und bescheiden.

Es wird gegen Marinus gesagt, durch seine Tat seien die Konzentrationslager entstanden, das Ermächtigungsgesetz. Das ist nichts, was Marinus wollte, und das hat er wirklich nicht verschuldet. Er war nach Deutschland gekommen, als er vom Machtantritt Hitlers hörte, und er ist nach Berlin gegangen, um zu sehen, wie es den Arbeitern geht. Er ging damals davon aus, so sagte er, daß diese Regierung der nationalen Konzentration erstens die Arbeiter unterdrücken und zweitens zum Krieg führen werde. Es ist wirklich nicht die Schuld von Marinus, wenn die Nazis den Reichstagsbrand benutzten, um Konzentrationslager einzurichten und das Ermächtigungsgesetz durchzudrücken. Man kann also nicht sagen, daß der Stein keinen Platz habe, weil Marinus Schuld habe an den Dingen, die in der Folge des Reichstagsbrandes geschahen.

F: Das Berliner Reichstagsgebäude ist im vergangenen Jahr nach großen Umbauarbeiten wieder eröffnet worden. Auf die Rolle von Marinus van der Lubbe in der Geschichte dieses Gebäudes ist von dem amerikanischen Architekten Foster in keiner Weise eingegangen oder hingewiesen worden. Wie erklären Sie sich das?

Das ist einfach ein Versäumnis. Als sich die Initiative für diesen Gedenkstein gründete, waren die Planungen von Foster schon beendet. Das Empfehlungskomitee des Bundestages war zum letzten Mal zusammen getreten. Die Planungsphase war abgeschlossen, was es auch jetzt problematisch macht.

F: Aber es ist zumindest verwunderlich, daß bei der Konzeption einer Renovierung, Neugestaltung des Reichstagsgebäudes ein solcher Hinweis auf van der Lubbe überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird? Das kann man doch eigentlich nicht »vergessen«.

Das ist richtig. Der Heizungsgang, durch den die Nazis gekommen sein sollen, soll wohl erhalten bleiben. Auf den soll warscheinlich hingewiesen werden. Aber, daß auf Marinus van der Lubbe nicht hingewiesen wird, ist wirklich ein riesiges Versäumnis.

F: Die Bundesrepublik Deutschland hat als Rechtsnachfolger des Nazi-Reiches die von den deutschen Nazis über van der Lubbe verhängte Todesstrafe in eine achtjährige Freiheitsstrafe revidiert. Was sagen Sie dazu?

Das hat alle, die sich mit dieser Geschichte und mit Marinus auseinandersetzen, persönlich getroffen und verletzt. Es leben noch Angehörige von Marinus, die das genausowenig verstanden haben, wie all diejenigen, die sich mit seinem Leben auseinandergesetzt haben. Marinus ist zum Tode verurteilt und geköpft worden aufgrund eines Gesetzes, das es zur Tatzeit noch gar nicht gegeben hat.

In dem Gerichtsverfahren unter den Nazis selbst ist auch vieles nicht berücksichtigt worden, was Marinus entlastet hätte. Es ist bedauerlich, daß das nicht richtiggestellt worden ist. Ein bundesdeutscher Verfassungsrichter soll sich wohl auch einmal sehr gegen diese Umwandlung in eine achtjährige Zuchthausstrafe ausgesprochen hat.

F: An diesem Wochenende ziehen wieder Zehntausende Menschen an die Gräber der ermordeten KPD-Mitbegründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die größte antifaschistische Demonstration, die alljährlich in Deutschland stattfindet. Können Sie sich vorstellen, daß Marinus van der Lubbe auch einmal in den Mittelpunkt eines breiten öffentlichen Gedenkens gelangen wird?

Marinus wird immer jemand sein, mit dem sich die Beschäftigung lohnt. Es gibt in den Niederlanden fast eine Kultur des Anarchismus, und ich glaube auch, daß wir von der etwas lernen können. Ich glaube ganz bestimmt, daß viele Berliner ihn liebgewinnen können. Es wird immer viel unverständlich bleiben an ihm. Aber er war jemand, der sich den gesellschaftlichen Problemen nicht verweigerte und versuchte, etwas zur Lösung dieser Probleme zu tun. Als ich vor kurzem in Leipzig war, lagen dort auf seinem Grab auch Tulpen. Orange Tulpen.

Das Gespräch führte Ulrike Schulz

(Aus der Wochenend-Ausgabe)

 

 

Kein Platz für Dimitroff und van der Lubbe?
Leipzig will Platz umbenennen und ein NS-Mord vergessen machen

Reinhard Bohse, der Pressesprecher der Stadt Leipzig, ist offenkundig ein Mann mit seherischen Fähigkeiten. Während die für Mittwoch geplante Umbenennung des Georgi-Dimitroff-Platzes kurzfristig von der Tagesordnung der Ratsversammlung gestrichen wurde, gibt er protestierenden Bürgern die schriftliche Prognose, »ziemlich gewiß« sei es, »daß der Platz den Namen Dimitroff nicht behalten wird«. Den Antrag zur Umbenennung hatte die Leipiger CDU-Stadtfraktion - allerdings ohne alternativen Vorschlag - bereits am 4. Oktober 1996 mit der Begründung eingebracht, daß dem Bundesverwaltungsgericht als künftigem Nutzer des ehemaligen Reichsgerichts der Name eines »führenden bulgarischen Stalinisten« nicht zugemutet werden könne.

Die mit der CDU faktisch in großer Koaliton verbandelte SPD überholte die Christdmeokraten wenig später noch rechts. Mit der Begründung, das Reichsgericht habe »bis in die Nazizeit seine Unabhängigkeit erhalten«, schlug man die sofortige Umbenennung des Georgi-Dimitroff-Platzes in »Reichsgerichtsplatz« vor. Die verheerende Unkenntnis der Leipziger Sozialdemokraten über die NS-Justiz und ihre Vorgeschichte könnte fast anrührend wirken, wenn sie nicht das Fundament geradezu abenteuerlicher Argumentationen bilden würde. Gestützt auf Handreichungen eines Hobby-Historikers kolportierte der zuständige SPD-Stadtrat Hans Heinrich Deicke beispielsweise die These, Dimitroff hätte vor Beginn des Reichstagsbrandprozesses um seinen Freispruch gewußt und sei nach den Verhandlungen gemeinsam mit Hermann Göring auf der Jagd gewesen.

Ob sich die vom Großhistoriker Hans Mommsen angeführten Verfechter der sogenannten Alleintäter-Theorie, die den Brand vom 27. Februar 1933 bis zum heutigen Tag als Solotat des invaliden niederländischen Maurers Marinus van der Lubbe ansehen, über derartigen sozialdemokratischen Flankenschutz freuen, darf bezweifelt werden. Die mit dem Untergang der DDR nunmehr hegemoniale Ausdeutung des Reichtagsbrandes wird aus mächtigeren Kraftquellen gespeist und ist auf die wirren Phantasien lokaler Pseudoforscher nicht angewiesen. Es ist hier nicht der Ort, die eigentümlichen Entstehungsumstände der »Spiegel«-Serie zum Reichstagsbrand aus der Feder von Fritz Tobias in den Jahren 1958/59 nachzuzeichnen, als im Rahmen eines verdeckten Zusammenspiels von ehemaligen NS-Tätern in Polizei und Publizistik die Reinwaschung der wirklichen Brandstifter ihren Anfang nahm. Allerdings muß darauf verwiesen werden, daß diese bis heute nicht öffentlich gewordene Symbiose noch fast fünfzig Jahre später eine enorme Wirkung entfaltet. Eben diese Konstellation - mit Hans Mommsen als wissenschaftlicher Leitfigur - behindert die Publikation des seit 1990 druckreifen 3. Bandes der international renommierten Dokumentenedition »Der Reichstagsbrand und Georgi Dimitroff«.

Dieser Band könnte auch näheren Aufschluß über die letzten Wochen des Mannes geben, der das eigentliche Opfer des Reichstagsbrandprozesses war: Marinus van der Lubbe. Im brennenden Reichstag von der Polizei am 27. Februar 1933 gegen 21.30 Uhr aufgegriffen, hatte van der Lubbe vom Zeitpunkt seiner Verhaftung an nicht mehr die Spur einer Chance. Schon wenige Tage nach dem Brand, als im Hitler-Kabinett die Behauptungen ausländischer Zeitungen behandelt wurden, daß die Nazis den Reichstag selbst angezündet hätten, äußerte Hitler, diesem ganzen »Geschrei wäre der Boden entzogen worden, wenn der Täter sofort aufgehängt worden wäre«. Drei Wochen später beschloß die NS-Regierung das Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe vom 29. März 1933 (»Lex van der Lubbe«), das vom Reichsgericht bei seinem Urteil zum Reichstagsbrand am 23. Dezember 1933 rückwirkend angewendet wurde: Wegen Hochverrats (Paragraph 81 StGB) in Tateinheit u. a. mit aufrührerischer Brandstiftung (Paragraph 307 StGB) verurteilte das höchste deutsche Gericht den aus dem niederländischen Leiden stammenden Maurer und Rätekommunisten, der während des Prozesses mutmaßlich unter dem Einfluß von Drogen bzw. Medikamenten gestanden hatte, zum Tode und beging damit einen bis heute ungesühnten Justizmord.

Zur Rekonstruktion der geschichtlichen Wahrheit gehört auch die Feststellung, daß die Behandlung van der Lubbes durch die antifaschistische Linke - bei allem Verständnis für die vorbehaltlose Unterstützung von Dimitroff und den anderen Mitangeklagten - wenig ehrenvoll war. Das unter Leitung von Willi Münzenberg entstandene und in seiner weltweiten politischen Wirkung nicht zu überschätzende »Braunbuch« denunzierte van der Lubbe als angeblichen Homosexuellen und Nazisympathisanten, der wissentlich im Auftrag bzw. nach Absprache mit den Faschisten gehandelt habe. Lediglich einige niederländische Rätekommunisten und Freunde des Angeklagten solidarisierten sich mit dem ehemaligen Mitglied der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Hollands (KPH), der sich seit 1928 auf Wanderschaft durch Europa befunden hatte und Anfang 1933 wieder nach Deutschland gekommen war, um die deutschen Arbeiter in fataler Verkennung der neuen politischen Situation durch infantile Brandstiftungen zum Kampf gegen Hitler wachzurütteln.

Als publizistische Antwort auf das »Braunbuch« veröffentlichte das »Internationaal van der Lubbe-Comité« 1933 eine Verteidigung in niederländischer Sprache. In deutschsprachiger Ausgabe erschien dieses »Rotbuch«, das van der Lubbes Persönlichkeit als eine »fast kindliche Natur« nachzeichnete, erst 50 Jahre später bei der Edition Nautilus.

Am 10. Januar 1934, drei Tage vor seinem 25. Geburtstag, wurde Marinus van der Lubbe im Lichthof des Leipziger Landgerichts früh 7.30 Uhr durch den Scharfrichter Engelhardt aus Schmölln enthauptet. Neben dem Oberreichsanwalt Dr. Karl Werner ließen sich auch sechs Dezernenten Leipzigs und mehrere Stadtverordnete die Teilnahme an der Hinrichtung nicht nehmen. Entgegen der Strafprozeßordnung verweigerten die NS-Behörden den Angehörigen zunächst die Herausgabe des Leichnams, da sie eine mögliche toxikologisch-chemische Untersuchung der sterblichen Überreste befürchteten. Am 15. Januar wurde van der Lubbe auf dem Leipziger Südfriedhof in einem anonymen Grab in doppelter Tiefe beigesetzt; Den eichernen Sarg mit Zinkeinsatz bedeckte zusätzlich ein riesiger Stein.

Mitte der fünfziger Jahre wurde die Grabstelle Nr. 257 (VIII. Abteilung, 8. Gruppe) geöffnet und die Korrektheit aller im Friedhofsarchiv überlieferten Informationen festgestellt. Ein Jahrzehnt später regte das Georgi-Dimitroff-Museum die Exhumierung der Leiche van der Lubbes an, um die Vergiftungsthese gerichtsmedizisnich überprüfen zu lassen. Auf Grund wirklicher oder vermeintlicher diplomatischer Rücksichtnahmen gegenüber den Niederlanden wurde damals eine auch heute noch vorstellbare - durch die erneute Belegung des Grabes und den inzwischen verstrichenen Zeitraum allerdings wesentlich verringerte - Chance vergeben, eines der großen Rätsel im Reichstagsbrandprozeß wissenschaftlich überzeugend zu lösen.

1967 begann das juristische Nachspiel des Falles Marinus van der Lubbe. 33 Jahre nach seiner Hinrichtung verurteilte ihn das Berliner Landgericht auf Antrag seines Bruders und unter Aufhebung des vormaligen Todesurteils in einem neuen Verfahren wegen »menschengefährdender Brandstiftung« zu acht Jahren Zuchthaus. Im Dezember 1980 erkannte das gleiche Gericht sogar auf Freispruch. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Daraufhin entschied das zuständige Kammergericht, das Wiederaufnahmeverfahren von 1967 sei nicht zulässig gewesen, weil es in der Bundesrepbulik Deutschland kein Nachfolgegericht für das frühere Reichsgericht gäbe. Der ehemalige Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß, Robert Kempner, beantragte im Auftrag des Bruders von van der Lubbe am 25. Februar 1983 ein erneutes Wiederaufnahmeverfahren beim Bundesgerichtshof.

Während in der Bundesrepublik bislang der Versuch scheiterte, Gerechtigkeit für van der Lubbe zu erkämpfen, wurde sein Name in den Niederlanden rehabilitiert: Am 10. Januar 1980, genau 46 Jahre nach der Hinrichtung, weihte sein Jugendfreund Koos de Vink gemeinsam mit ehemaligen rätekommunistischen Mitstreitern in Leiden den »Marinus van der Lubbe«-Hof ein. Auf deutschem Boden steht eine öffentliche Stätte der Erinnerung und damit ein Mindestmaß an postumer Rehabilitierung für Marinus van der Lubbe immer noch aus.

Volker Külow

 

Literatur:

Carl Dirks / Karl-Heinz Janßen


Der Krieg der Generäle
Hitler als Werkzeug der Wehrmacht

Berlin: Propyläen Verlag, 1999
ISBN 3-549-05590-0
DM 39,90

Neue Archivfunde der beiden Zeithistoriker belegen, daß das deutsche Militär nicht erst nach 1933, sondern spätestens 1923 mit der Vorbereitung für einen neuen Weltkrieg begann. Detailliert analysieren die Autoren die geheimen Rüstungsprogramme der 1920er Jahre, die Umwandlung der vom Versailler Vertrag verordneten Rumpfarmee in ein Angriffsheer und die Weltmachtträume der Militärs. Sie zeigen, daß die deutschen Generalität schon lange vor Hitler einen neuen Krieg plante und vorbereitete - Mobilmachung, Anforderungen an die Rüstungsindustrie, Planspiele für den Ostfeldzug -, der im Zweiten Weltkrieg Realität wurde.




 

Dietrich Eichholtz / Wolfgang Schumann (Hg.)
Anatomie des Krieges
Neue Dokumente über die Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1969 (nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Erhard Moritz (Hg.)
Fall Barbarossa
Dokumente zur Vorbereitung der faschistischen Wehrmacht auf die Aggression gegen die Sowjetunion (1940/41)

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1970
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Gerhart Hass / Wolfgang Schumann (Hg.)
Anatomie der Aggression
Neue Dokumente zu den Kriegszielen des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1972
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Wolfgang Schumann (Hg.)
Griff nach Südosteuropa
Neue Dokumente über die Politik des deutschen Imperialismus und Militarismus gegenüber Südosteuropa im zweiten Weltkrieg

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1973
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Wolfgang Schumann / Ludwig Nestler (Hg.)
Weltherrschaft im Visier
Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1975
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Manfred Menger / Fritz Petrick / Wolfgang Wilhelmus (Hg.)
Expansionsrichtung Nordeuropa
Dokumente zur Nordeuropapolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1939 - 1945

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1987 ISBN 3-326-00215-7 (nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)

Von DDR-Historikern sorgfältig ausgewählte und kommentierte Dokumentensammlungen mit Strategiepapieren und Stellungnahmen deutscher Unternehmer, Politiker und Militärs zu den Plänen des deutschen Imperialismus mit Schwerpunkt auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die umfangreiche Edition ist ein Grundlagenwerk, das die Praxis der deutschen "Neuordnung" anhand zahlreicher "Dokumente aus den verschiedensten Instanzen des faschistischen Machtapparats" belegt. In den äußerst sorgfältig edierten Bänden sind die wichtigsten Selbstaussagen zur wirtschaftlichen Ausplünderung und detaillierte Befehle zur Massenvernichtung in den besetzten Ländern versammelt.



, Vertreibungen, ...), Bruch aller Religionsregeln.

Literatur:

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.)
Vernichtungskrieg
Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1945. Ausstellungskatalog

Hamburg: Hamburger Edition, 1996
ISBN 3-930908-24-7
DM 40,-

1945, kaum daß Nazi-Deutschland besiegt war, begann die Verbreitung einer Legende - der Legende von der "sauberen Wehrmacht", die Distanz zum NS-Regime gehalten, mit Anstand und Würde ihre soldatische Pflicht erfüllt habe und über die Greueltaten von Himmlers Einsatztruppen allenfalls nachträglich erfahren hätte. Die Ausstellung zeigt an drei Beispielen,. daß die Wehrmacht 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen "normalen" Krieg führte, sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen.



 

Hannes Heer / Klaus Naumann (Hg.)
Vernichtungskrieg
Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944

Hamburg: Hamburger Edition, 1995
ISBN 3-930908-04-2
DM 68,-

Der Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung dokumentiert die Beteiligung des deutschen Militärs an drei Großverbrechen: an der Vernichtung der Juden, am Massenmord an den Kriegsgefangenen und am Terror gegen die Zivilbevölkerung. Diese Verbrechen, die außerhalb des Völkerrechts und jenseits aller Regeln der Kriegführung verübt wurden, bestimmten vor allem den Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion, fanden aber auch an anderen Fronten statt, so auf dem Balkan und in Italien. Wie gering in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft das Interesse an Aufklärung und Strafverfolgung war, welche Entschuldungen in den Medien verbreitet wurden und wie bereitwillig die militärgeschichtliche Forschung der 1950er und 1960er Jahre die Legende fortschrieb, thematisieren weitere Aufsätze dieses Bandes.



 

Gerhard Schreiber
Deutsche Kriegsverbrechen in Italien
Täter, Opfer, Strafverfolgung

München: Beck Verlag, 1996
ISBN 3 406 39268 7
24,. DM

Der Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, untersucht die Behandlung der über 600.000 italienischen Soldaten, die nach Italiens Kriegsaustritt 1943 als "Militärinternierte" in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. "Ohne Übertreibung konnten die gezwungenermaßen Arbeit leistenden Militärangehörigen als Militärsklaven bezeichnet werden. Die Behandlung der Militärinternierten im deutschen Machtbereich führt dazu, daß sich die Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal unausweichlich zu einer Dokumentation für Inhumanität, Menschenverachtung, Erniedrigungen, die eine sadistische Phantasie zu nicht endenden Exzessen trieb, für seelische und körperliche Qualen sowie erbarmungslose Ausbeutung entwickelt. Über diese besondere Gruppe von Gefangenen des ´Dritten Reiches` schreiben, das heißt, von ihrer Mißhandlung seitens der Bewacher und Aufseher sprechen; von Orten erzählen, wo Menschen durch Nahrungsentzug, Isolierung, körperliche Züchtigungen, fehlende medizinische Versorgung und das Versagen des religiösen Beistands zerbrochen werden sollten; vom Haß berichten, mit dem ihnen die Mehrheit der deutschen Bevölkerung - soweit sie Kontakt mit ihr besaßen - entgegentrat; von Auswirkungen reden, die Krankheiten sowie psychische und physische Entkräftung mit sich brachten; und von allzu häufigen natürlichen, obwohl keineswegs normalen, sowie nicht selten gewaltsamen Todesfällen Zeugnis geben."



 

Friedrich Andrae
Auch gegen Frauen und Kinder
Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in Italien 1943 - 1945

München: Piper Verlag, 1995
ISBN 3-492-03698-8
DM 45,-

Der Autor beschreibt die deutsche Besatzung in Italien, die 1944, als sich die deutsche Herrschaft in Italien dem Ende zuneigt, in einen mit größter Brutalität geführten Krieg der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung mündet. Mit allen Mitteln, inklusive Geiselerschießungen und Zerstörung ganzer Dörfer, versucht die Wehrmacht, die deutsche Herrschaft aufrecht zu erhalten.



 

Christoph Diekmann / Matthias Hamann u.a. (Hg.)
Repression und Kriegsverbrechen
Die Bekämpfung von Widerstands- und Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa

Berlin: Verlag der Buchläden, 1997 (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik Band 14) ISBN 3-924737-41-X DM 26,-

Thema des Heftes sind die polizeilichen und militärischen Strategien der Bekämpfung von Widerstands- und Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa. Widerlegt wird der Mythos, die Deutschen hätten dort eine moderate Besatzungspolitik verfolgt - im Gegensatz zur Vernichtungspolitik und den Massenverbrechen der Wehrmacht in Ost- und Südosteuropa. Die Beiträge rekonstruieren die deutschen Kriegs- und Besatzungsverbrechen, die aus dem antideutschem Widerstand allein nicht erklärt werden können, sondern auf den aggressiven Charakter der deutschen Expansionspolitik verweisen.



 

Hannes Heer
Tote Zonen
Die deutsche Wehrmacht an der Ostfront

Hamburg: Hamburger Edition, 1999
ISBN: 3-930908-51-4
DM 48,-

Der Krieg gegen die Sowjetunion war ein besonderer Krieg, deutlich unterschieden von dem im Westen und Norden Europas. Er war definiert als "Kampf zweier Weltanschauungen" und wurde von der Wehrmacht als Vernichtungskrieg geführt. Das Ergebnis war der millionenfache Mord an Kriegsgefangenen, Juden und anderen Zivilisten. Der Historiker Heer analysiert den Judenmord und den Partisanenkrieg im Osten und geht der Frage nach, wie es möglich war, daß Soldaten der Wehrmacht zu Massenmördern wurden und wie sie ihr Tun legitimierten. Viele Soldaten der Wehrmacht teilten die rassistische Weltsicht und identifizierten sich mit den Eroberungszielen im Osten; unter den Bedingungen des Vernichtungskrieges wurden sie zu Massenmördern. Indem sie den Rotarmisten zur "Bestie" erklärten und den Juden in einen "Partisanen" verwandelten, gelang es ihnen, das Kriegsverbrechen als angemessene Reaktion und den Völkermord als militärische Notwendigkeit zu legitimieren. Nach dem Scheitern des Blitzkrieges und unter dem Eindruck des permanenten Rückzugs wurde das eigene Tun als "Pflicht" gedeutet und zur Tugend veredelt. Dieses Selbstbild wurde zum Kern der Legende der "sauberen Wehrmacht", die nach 1945 die öffentliche Diskussion bestimmte und in den Zeiten des Kalten Krieges zum offiziellen Geschichtsbild wurde.



 

Omer Bartov
Hitler`s Army
Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich

Oxford University Press 1992

Omer Bartov
Hitlers Wehrmacht
Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1995
ISBN 3-499-60793-X
DM 16,90

Die deutsche Wehrmacht sei - so zahlreiche Historiker - an manchen Orten in Unmenschlichkeiten verwickelt gewesen, aber dennoch eine Armee von preußischen Traditionen geblieben: unpolitisch und idiologiefern, Handwerker des Krieges. Der Militärhistoriker Bartov schildert anhand von Kriegstagebüchern, Briefen und unbekannten Dokumenten, wie die Wehrmacht bis zum Ruinenkampf in Berlin in großen Teilen, vom General bis zum einfachen Soldaten, erfaßt blieb von der nationalsozialistischen Ideologie und ihrem alle Realität verzerrenden Fanatismus. Die Gegner, dämonisiert und entstellt aus politischem und rassistischem Glauben, waren für die Wehrmacht keine Menschen mehr, während Adolf Hitler bis zum Ende eine vergötterte Figur blieb.



 

Walter Manoschek (Hg.)
Die Wehrmacht im Rassenkrieg
Der Vernichtungskrieg hinter der Front

Wien: Picus Verlag, 1996
ISBN 3-95452-295-9
DM 39,80

In diesem Band dokumentieren internationale Wissenschaftler, daß die Wehrmacht in der Sowjetunion und auf dem Balkan keinen "normalen" Krieg, sondern gemeinsam mit der SS einen Rassenkrieg gegen Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangene und Zivilisten führte, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Unter der Formel "Kreuzzug gegen den jüdischen Bolschewismus" beteiligte sich die Wehrmacht aktiv an der Verwirklichung der Hauptziele des Nationalsozialismus: "Schaffung von Lebensraum im Osten" durch Dezimierung und Versklavung der "slawischen Untermenschen" und die physische Vernichtung der Juden, Sinti und Roma.



 

Christian Streit
Keine Kameraden
Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 - 1945

Bonn: Verlag J.H.W. Dietz, 1997
ISBN 3-8012-5023-7
DM 49,80

Die Untersuchung belegt - "unanfechtbare Beweise gleich in Mengen aufeinandertürmend" (Süddeutsche Zeitung) - den maßgeblichen Anteil der deutschen Wehrmacht am Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Behandlung dieser Kriegsgefangenen wurde von dem Ziel bestimmt, einen Ausrottungskrieg gegen "Bolschewismus und Judentum" zu führen. Auf dieses Programm hatte sich die Generalität der Wehrmacht bei der Planung des Überfalls auf die Sowjetunion verpflichtet. Mehr als die Hälfte der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurde erschossen, verhungert oder starb an den Folgen unmenschlicher Zwangsarbeit.



 

Paul Kohl
Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941 - 1945
Sowjetische Überlebende berichten

Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch Verlag, 1995
ISBN 3-596-12306-2
DM 19,90

Der Autor bereiste 1985 die Sowjetunion und befragte erstmals Überlebende des Vernichtungsfeldzuges der deutschen Wehrmacht und der Polizei. Kohl folgt den Spuren dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, welcher der Eroberung von "Lebensraum im Osten" diente, die Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus" anstrebte und die Dezimierung der als rassisch minderwertig geltenden russischen Bevölkerung in Angriff nahm. In den eroberten Gebieten sollten die deutschen Herrenmenschen die slawische Bevölkerung in einem sklavenähnlichen Zustand halten und sie wirtschaftlich ausbeuten.



 

Rolf-Dieter Müller
Hitlers Ostkrieg und die deutsche Siedlungspolitik
Die Zusammenarbeit von Wehrmacht, Wirtschaft und SS

Frankfurt (Main): Fischer Taschenbuch Verlag, 1991
ISBN 3-596-10573-0
DM 19,80

"Lebensraum im Osten" - dieses Ziel war bereits im deutschen Kaiserreich verfolgt worden, erfaßte im "Dritten Reich" große Teile der deutschen Führungseliten und fand auch in der deutschen Bevölkerung Widerhall: rund 10 Millionen Deutsche führten zwischen 1941 und 1944 in den Weiten Rußlands einen Kampf zur Versklavung und Vernichtung der dort lebenden Bevölkerung, angespornt durch die Aussicht, als Siedler und "Wehrbauern" in den künftigen Ostkolonien die Herrenschicht zu bilden. Das Buch analysiert und dokumentiert die deutschen Planungen und Maßnahmen zur Ostsiedlung, die Initiativen von Professoren, Ministerien und Wirtschaftsverbänden, an deren Spitze sich die SS mit ihrem "Generalplan Ost" setzte.



 

Christian Gerlach
Kalkulierte Morde Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weissrussland 1941 bis 1944

Hamburg: Hamburger Edition, 1999
ISBN: 3-930908-54-9
DM 98,-

Wie kaum ein Gebiet unter deutscher Herrschaft ist Weißrußland im Zweiten Weltkrieg zerstört und die Zahl seiner Bevölkerung durch brutale Mordaktionen dezimiert worden. Nach drei Jahren deutscher Besatzung Weißrusslands (1941 bis 1944) war nichts mehr wie zuvor. Nahezu 1,7 von zehn Millionen Einwohnern waren ermordet, fast 400.000 als Zwangsarbeiter verschleppt worden. Die Städte des Landes waren zum Großteil in Ruinenfelder verwandelt, drei Millionen Menschen waren obdachlos. Die industrielle Kapazität tendierte gegen Null, und der Viehbestand war um 80% gesunken. Weißrussland schien fast ausgelöscht.
Der Historiker Gerlach untersucht auf breiter Quellenbasis die Praxis der Vernichtungspolitik und den Zusammenhang mit militärischen, wirtschaftlichen und politischen Zielen und Handlungen der deutschen Besatzer. Eindrucksvoll belegt wird die praktische Zusammenarbeit zwischen Organen und Akteuren verschiedener Ebenen, von Reichsministerien, SS, Wehrmacht, Zivilverwaltungen, Wirtschaftsgesellschaften und einheimischer Hilfspolizei. Trotz Rivalitäten unter den beteiligten Institutionen blieb eine gemeinsame Strategie des Terrors bestimmend, die vor allem auf der untersten Handlungsebene effektiv und in einer für die Opfer unheilvollen Weise funktionierte. Sie ging aus von der Umsetzung des Plans, Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene in der Sowjetunion verhungern zu lassen. Dabei zeigt sich: Zwischen Wirtschaftsinteressen und Massenmord bestanden enge Verbindungen.



 

Christian Gerlach
Krieg, Ernährung, Völkermord
Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg

Hamburg: Hamburger Edition, 1998
ISBN 3-930908-39-5
DM 24,-

Der Autor untersucht, von welchen Motive sich die NS-Führung leiten ließ, als sie in den Jahren 1941 und 1942 der Entscheidung zum Völkermord faßte. Dabei zeigt sich, in welchem Umfang auch Reichsbehörden, Parteidienststellen und vor allem Militär- und Zivilverwaltungen in den besetzten Gebieten - insbesondere im Osten - am Vernichtungskrieg teilhatten.

 

Carl Dirks / Karl-Heinz Janßen
Der Krieg der Generäle
Hitler als Werkzeug der Wehrmacht

Berlin: Propyläen Verlag, 1999
ISBN 3-549-05590-0
DM 39,90

Neue Archivfunde der beiden Zeithistoriker belegen, daß das deutsche Militär nicht erst nach 1933, sondern spätestens 1923 mit der Vorbereitung für einen neuen Weltkrieg begann. Detailliert analysieren die Autoren die geheimen Rüstungsprogramme der 1920er Jahre, die Umwandlung der vom Versailler Vertrag verordneten Rumpfarmee in ein Angriffsheer und die Weltmachtträume der Militärs. Sie zeigen, daß die deutschen Generalität schon lange vor Hitler einen neuen Krieg plante und vorbereitete - Mobilmachung, Anforderungen an die Rüstungsindustrie, Planspiele für den Ostfeldzug -, der im Zweiten Weltkrieg Realität wurde.




 

Dietrich Eichholtz / Wolfgang Schumann (Hg.)
Anatomie des Krieges
Neue Dokumente über die Rolle des deutschen Monopolkapitals bei der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1969 (nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Erhard Moritz (Hg.)
Fall Barbarossa
Dokumente zur Vorbereitung der faschistischen Wehrmacht auf die Aggression gegen die Sowjetunion (1940/41)

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1970
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Gerhart Hass / Wolfgang Schumann (Hg.)
Anatomie der Aggression
Neue Dokumente zu den Kriegszielen des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1972
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Wolfgang Schumann (Hg.)
Griff nach Südosteuropa
Neue Dokumente über die Politik des deutschen Imperialismus und Militarismus gegenüber Südosteuropa im zweiten Weltkrieg

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1973
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Wolfgang Schumann / Ludwig Nestler (Hg.)
Weltherrschaft im Visier
Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialismus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1975
(nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)



 

Manfred Menger / Fritz Petrick / Wolfgang Wilhelmus (Hg.)
Expansionsrichtung Nordeuropa
Dokumente zur Nordeuropapolitik des faschistischen deutschen Imperialismus 1939 - 1945

Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1987 ISBN 3-326-00215-7 (nur noch antiquarisch oder über Bibliotheken erhältlich)

Von DDR-Historikern sorgfältig ausgewählte und kommentierte Dokumentensammlungen mit Strategiepapieren und Stellungnahmen deutscher Unternehmer, Politiker und Militärs zu den Plänen des deutschen Imperialismus mit Schwerpunkt auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die umfangreiche Edition ist ein Grundlagenwerk, das die Praxis der deutschen "Neuordnung" anhand zahlreicher "Dokumente aus den verschiedensten Instanzen des faschistischen Machtapparats" belegt. In den äußerst sorgfältig edierten Bänden sind die wichtigsten Selbstaussagen zur wirtschaftlichen Ausplünderung und detaillierte Befehle zur Massenvernichtung in den besetzten Ländern versammelt.

 


 

Im Jahr 1999 erschoss ein Bundeswehr-Mordkommandos 2 Jugoslawen eigenhändig erschossen.Neonazis versuchen betrügerisch, die Massenmorde der braunen Kapitalistenmafia im 2.Weltkrieg mit der sogenannten "Haager Landkriegsordnung" zu rechtfertigen, obwohl die Nazis bekanntlich millionenfach diese Gesetze und andere Verträge und Abkommen, Landesgesetze und internationale Verträge zuvor gebrochen hatten (in Deutschland selbst, in der UdSSR, in Polen, der Tschecheslowakei, in Dänemark, Holland, Frankreich, Belgien,Österreich, Ungarn, Bulgarien, Rumänien...). Hier nun Einzelheiten der BRD-Mordaktion in Jugoslawien: (2 von etwa 3000-4000 Mordopfern der BRD-Junta  und US-Junta)

»Der Fahrer hält in der linken Hand eine Handgranate, der Beifahrer feuert mit seiner Kalaschnikow in die Luft. Kurz vor der Kreuzung, die Ferk mit seinem Panzer blockiert, stoppt der Wagen. Die Deutschen geben einen Warnschuss ab. Doch statt die Waffen niederzulegen, lassen die Angreifer - serbische Paramilitärs, offenbar betrunken - den Motor ihres Wagens aufheulen und fahren rückwärts. Falls dies ein Versuch war, doch noch aufzugeben, kommt er zu spät: Die Deutschen sind zum Gegenangriff entschlossen. David Ferk gibt den Feuerbefehl - und er schießt als Erster. Er handelt, wie er es sich vorher immer wieder ausgemalt hat - kalt und professionell. Der MG-Schütze dagegen zögert drei oder vier Sekunden, bis ihm Ferk einen Schlag in den Nacken versetzt. Dann schießt auch er. (...) Aus ihren G-36-Gewehren feuern Ferk und seine Soldaten rund 180 Schüsse ab, außerdem 40 aus Maschinengewehren (...) Eines ist den Einheimischen - Albanern wie Serben - schnell klar geworden: Im Ernstfall fackeln die Deutschen nicht lange.« (SPIEGEL Nr.6/00, S.48).

Eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ein deutscher Soldat befahl auf Menschen zu schießen, ist dem Magazin eine Doppelseite wert. Auch Ziege Scharping entschied sich, die Tat des Offiziers zu würdigen. Er ließ ihm des Ehrenkreuz in Gold verleihen, die höchste Auszeichnung der Bundeswehr, »Für beispielhafte Erfüllung der Soldatenpflicht« - so die offizielle Begründung. Heldentaten stellt man sich gemeinhin jedoch anders vor. Das Erschießen von zwei Betrunkenen in einem Lada, die gerade flüchten wollten, aus der sicheren Deckung eines Panzers heraus und mit 220, offenbar recht planlos abgefeuerten Schüssen, gehört nicht dazu. Ferk und seine Stiefelputzer haben da wohl noch etwas vollbracht, das nicht nur mit dem Soldatenhandwerk zu tun hat. Was das allein beträfe, so sind sie schon eher zu kritisieren, als zu ehren, »eine Materialschlacht, die mit den Kfor-Richtlinien nur schwer zu vereinbaren ist, denn die schreiben vor, dass nicht mehr Schüsse als notwendig abgegeben werden sollen«, so der bereits oben zitierte Artikel. Trotzdem ist man sich darin mit Ziege Scharping, sowie den Kameraden und Vorgesetzten von Ferk einig, dass die Soldaten an jenem 13. Juni 1999 keinesfalls ehrenrührig gehandelt haben, wenn nicht gar sehr verdienstvoll.

Nüchtern betrachtet handelte es sich bei der Erschießung der beiden Ladafahrer um eine nicht besonders aufregende, fast schon stümperhaft ausgeführte Polizeiaktion, wie sie in einem gerade eingenommenen Territorium der Besatzungsmacht obliegt. Was ist da also noch dabei?

In einer Broschüre, die Wehrpflichtigen von der Bundeswehr zugeschickt wird, zwecks Überredung zum Freiwilligmelden für Auslandseinsätze, heißt es nach einem Appell, doch für die Zeit von 1945 bis 1990 die »Blockadepolitik der UdSSR im Ost-West-Gegensatz« zu bedenken, »der durch die schwierige Lage des geteilten Deutschlands (...) bedingte Sonderweg« hätte nun ein Ende. Jetzt »gibt es nur noch [ein] Deutschland als Mitglied« der UN. Soldat Ferk hat die Broschüre offenbar auch gelesen und versteht sich laut SPIEGEL als »Teil einer neuen Generation in einem neuen Deutschland, das sich politisch und militärisch auf derselben Ebene sieht wie dei anderen Staaten Europas«. Dass da was passiert ist mit dem Selbstverständnis der Deutschen, seit dem Anschluss der DDR, ist unverkennbar. Zuvor ein wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg, macht man sich ob wiedergewonnener Souveränität und dazugewonnener Größe auf, auch wieder politisch mit hegemonialem Anspruch aufzutreten. Kaum entzückt von dem neuen Großdeutschland, gaben sich die europäischen Nachbarn Mühe, die Berliner Republik in ein gesamteuropäisches Konzept zu integrieren. Freilich will der politische Wille auch durchgesetzt sein. Wenn sich angeschickt wird, dem Balkan klarzumachen, wer entscheidet ob und wie Staaten im europäischen Hinterhof auszusehen haben, dann dürfen auch deutsche Soldaten nicht fehlen. Schließlich bedeutet Freiheit stets auch Verantwortung. Wie das mit aller historischen Erfahrung ist, wenn deutsche Soldaten sich mit zivilisatorischem Anspruch auf dem Balkan tummeln, fragen da so manche. Aber diese Leute haben es scheinbar einfach nicht kapiert, dass die Berliner Republik ein neues, besseres Deutschland ist, als alle vorherigen. Wenn heute Asylsuchende angezündet werden, Leute vom Grenzschutz umgebracht werden, jüdische Gräber geschändet werden, es einen Konsens darüber gibt, das Serben schlechte Menschen sind, etc., dann ist das nicht mehr politisch, das sind verwirrte Einzeltäter, dumme Unfälle und ähnliches – ein Ideologe, wer glaubt, derartiges sei in der Gesellschaft angelegt. Fast erstaunlich scheint es, dass eine derartige Verausgabung von publizistischen Kräften nötig war, um darauf zu kommen, dass es wieder Krieg für den Frieden gibt, dass Deutschland gerade wegen seiner historischen Verantwortung Soldaten nach Jugoslawien schicken darf und muss. Und ob da auch alles richtig war, das fragt sich der SPIEGEL, und nimmt also den Soldaten Ferk, den ersten Deutschen seit langem, der einen Serben abschießen durfte, mal unter die Lupe. Der Ferk wird zum Testfall für die neue deutsche Selbstverständlichkeit gemacht. So erfahren wir alles Mögliche Zeugs darüber, wie anständig der Junge doch ist, und mit ihm der ganze Rest.

Böse Vorahnung – die dramatischen Qualitäten des deutschen Soldaten; ganz klar: hier fließt das Blut von Goethe und Schiller.

»An diesen 13. Juni 1999, den die Soldaten später "bloody Sunday" nennen werden, ist der deutsche Leutnant David Ferk, 24, in aufgekratzter Stimmung, wie er sie nur nach Nächten schlafloser Anspannung kennt.«(der bereits zitierte SPIEGEL, woraus auch die folgenden Zitate sind). Zunächst jedoch, »lässt [er] sich anstecken von der Begeisterung der Kosovo-Albaner«, bis er doch den Kern des Pudels wieder spürt und »beginnt, dem Hochgefühl zu misstrauen«. Einen Instinkt hat der Junge, bewundernswert. Und dann noch diese menschliche Tragik: »Ich habe nicht getötet, weil ich es wollte, sondern weil ich es musste – und glatt getroffen. Wenn schon, denn schon.«

Der deutsche Soldat tut kein Unrecht

»Beim Bier gehen die Soldaten Schritt für Schritt durch, wie es gelaufen ist, ob sie das nächste Mal etwas besser machen können. Gewissensbisse bekundet niemand. Töten ist für sie eher eine Frage der Rechtsgrundlage. Der zögerliche MG-Schütze fühlt sich an diesem Abend als Versager. (...) Die Staatsanwaltschaft in Koblenz, die dem Fall später bearbeitet, kann kein Fehlverhalten entdecken.«

Der deutsche Soldat ist heimatverbunden und rechtgläubig.

»Über der Eckbank der Familie Ferk hängt neben Zinnbildern mit fliegenden Schwänen das Kruzefix. Seine Jugend hat David Ferk nicht in Diskotheken zugebracht, sondern beim Sport; sein Triathlonteam brachte es bis zum Deutschen Meister. Bis heute pendelt er fast jede Woche zwischen der Kaserne im sächsischen Schneeberg und dem fast 500 Kilometer entfernten Heimatdorf.«

Der deutsche Soldat hat Tradition und Vorbilder.

»Das stolzeste Bauwerk der Gegend ist das nahegelegene Schloss Stauffenberg, das bis 1970 den Nachfahren des bekannten Hitler-Attentäters gehörte. Zu den Freunden der Familie Ferk zählen auch Offiziere, deren Charakter und Geradheit David schon als Kind tief beeindruckt haben.«

Der deutsche Soldat ist sehr kritisch.

»Scharf distanziert er sich von jenen Idioten des Schneeberger Gebirgsjägerbataillons 571, die vor wenigen Jahren rechtsextreme und gewaltverherrlichende Videos gedreht« haben.

Und Spass macht der Beruf auch: »Die Spitze ist der Schusswechsel, der Kampf, das ist das Äußerste, was man erleben kann«. (sg)

Historisches zum Ost-West Gegensatz

DIE GENESIS DES HAUPTFEINDES

Die Geschichte der internationalen "Beziehungen" der Sowjetunion ist das glatte Gebenteil dessen, was sie beweisen soll. Bis herab zum arbeitslosen Jugendlichen mit Sonderschulabschluß weiß in Westdeutschland jedermann, die "Sünden" der"Russen" herzusagen, auch wenn er bis auf Polen keinen einzigen Ländernamen richtig buchstabieren könnte.

Im Bereich der höheren Bildung versteht man es, den Schandtaten der UdSSR auch noch die der Zaren hinzuzufügen, indem man in lustvollen Vergleichen im "ewig russischen Drang ans Meer" das naturgegebene Staatsinteresse oder den russischen Volkscharakter am Wirken sieht und in der sowjetischen Osteuropapolitik den "Panslawismus" auferstehen läßt. Ihren Vorsprung an Bildung beziehen solche Dummheiten gegenüber den oben erwähnten daraus, daß sie nicht einfach von "den Russen" sprechen, sondern gerade über die "Differenzierung" von damals und heute zu einer viel "fundierteren" Denunziation "sowjetischer Aggressivität" gelangen. Einer weit vornehmeren Gedächtnispflege erfreuen sich die Gewalttätigkeiten kapitalistischer Staaten - soweit sie ins vordemokratische Zeitalter fallen, werden sie als "Zeitalter des Imperialismus bis 1918" gegeilßelt. Um nicht alle von den Staaten der "Freien Welt" (die faschistischen Großtaten gar nicht eingerechnet) inszenierten Massaker, Putsche, Drohungen usw. aufführen zu müssen, soll an vier wesentlichen Daten gezeigt werden, wie mit dem historischen Ärgernis umgesprungen wurde, ehe seine Beseitigung zu dem einheitlichen und einmütig beschlossenen Gegenstand der gesamten Weltpolitik erklärt wurde.

1918: Intervention

"Für uns gibt es zur Zeit keine Alternative, als die Truppen, die wir haben, einzusetzen, so gut es geht, und dort, wo wir keine Truppen haben, Waffen und Geld zu liefern." (Lord Balfour, Britischer Außenminister)

Das erste demokratische Wort an die Sowjetmacht war der Einmarsch englischer, amerikanischer, japanischer und französischer Truppen in Rußland, nachdem diese der unerhörten Aggression gegen die Ententemächte für schuldig befunden worden war, den Krieg gegen das Deutsche Reich einfach zu beenden. Sechs Tage nach dem Annexionsfrieden von Brest-Litowsk hatte es die revolutionäre Macht anstelle der deutschen mit alliierten Truppen zu tun, weil die Ententemächte den Bündnispartner mit Gewalt zur Einhaltung seiner Bündnispflichten anhalten, auf jeden Fall die Vernachlässigung der Ostfront nicht ungestraft hinnehmen wollten. Daß es dabei jedoch von Anfang an weniger gegen das "Dekret über den Frieden", also um den erwünschten Beitrag Rußlands im Krieg gegen Deutschland ging, sondern um die bolschewistische Mißachtung des geheiligten Eigentums, also gegen das "Dekret über die Aufteilung des Bodens", zeigt nicht nur die Tatsache, daß die Entente nun einen Krieg an zwei Fronten - gegen die Mittelmächte einsetzte. Das zeigt vielmehr auch die umstandslose Verpflichtung des geschlagenen Feindes auf den Kampf gegen den Bolschewismus, indem nach Artikel 12 des Waffenstillstandsvertrags mit Deutschland, die Truppen erst dann aus den besetzten Gebieten (Baltikum, Ukraine usw.) zurückgeführt werden durften, als "die Allierten, unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete, den Augenblick für gekommen erachten". Daß hier ein Staat sich einrichten wollte, der die ewige Ordnung des Privateigentums außer Kraft setzte, war eine Unerhörtheit, die die siegreiche Entente nicht dulden wollte!

"Die Ententemächte erklären..., daß sie entschlossen sind, keine Störungen in ihrer Tätigkeit für die Wiederherstellung der Ordnung in Rußland und für die Reorganisation des Landes zu dulden, der Tätigkeit, die von den russischen Patrioten mit energischer Unterstützung der Alliierten begonnen worden ist. Die Wiederherstellung Rußlands als einer Macht, die zum siegreichen Block der demokratischen Ententeländer gehört, wird entsprechend den Wünschen aller Patrioten und überhaupt all der Elemente vor sich gehen, die für Ordnung in Rußland sind. Was die südrussischen Gebiete anbetrifft, sowohl die von den Deutschen besetzten, wie die nicht besetzten, aber von den Bolschewiki bedrohten, so erklären die Ententemächte ihren unbeugsamen Willen, auch dort für Ordnung zu sorgen. Diesem unerschütterlichen Beschluß werden in kürzester Zeit Truppen folgen in einer Stärke, wie sie die Umstände erfordern. Außerdem erklären sie, daß sie von nun an alle Partei- und Organisationsführer, ganz unabhängig von ihrer politischen Färbung, die Verwirrung oder Anarchie ins Volk tragen, verantwortlich machen werden." (Erklärung der Vier)

Diese Entschlossenheit setzte den Bolschewiki so zu, daß Lenin trotz des Wissens um die erpresserische Seite einer "Hilfe durch Handel" mit Kapitalisten seine Feinde eben darum ersuchte und weitgehende Zugeständnisse anbot, um Land und Leute nicht noch mehr durch den Krieg zu ruinieren. Daß das kapitalistische Lager aber nicht nur am Handel, sondern vor allem an seinen so schönen politischen Folgen interessiert war, zeigt die Zurückweisung durch die amerikanische Regierung ebenso wie die Befürwortung durch die Opposition: Die US-Regierung ließ das sowjetische Angebot, alle russischen Auslandsschulden anzuerkennen, Kapitalisten russische Rohstoffe ausbeuten zu lassen und enteignetes ausländisches Eigentum zu entschädigen, deswegen scheitern, weil Lenin auf einer Mitsprache bei der Regelung bestand. Die Befürworter des Handels spekulierten gleich ganz offen auf die Hungerwaffe:

"Wenn die Blockade aufgehoben wird und die Sowjetmacht sich mit allem Notwendigen versorgen kann, so wird man dem russischen Volk die Hände mit der Furcht vor einer Einstellung der Hilfesendungen weitaus besser binden als mit der Blockade." (Bullitt)

Daß die Entschlossenheit der alliierten Regierungen nicht den angestrebten Erfolg zeitigte (obwohl am Ende auch noch Polen zu einem Eroberungskrieg ermuntert worden war) und durch erneute britisch-französisch-amerikanische Intervention mit einer Annexion russischen Gebiets belohnt wurde, daß also der Geschichtsfehler nicht gleich korrigiert wurde, lag in erster Linie daran, daß damals der gemeinsame Zweck der kapitalistischen Staaten, überall auf dem Globus ihrem Kapital dem Privateigentum angemessene und darum eindeutig einseitig geordnete Verhältnisse zu schaffen, eben nicht in einem praktischen Willen existierte, der sich und den anderen diesen Zweck als Hauptaufgabe auferlegt. Die Gemeinsamkeit der kapitalistischen Staaten in der Feindschaft gegen die Sowjetunion fand ihre Grenze an der Konkurrenz um die Vorherrschaft bei der imperialistischen Nutzung des Erdballs.

Ebenso wie für den Sieg gegen Deutschland hätten die Ententemächte für ihr Vorhaben der Hilfe der USA bedurft, die an der Ausdehnung der Intervention zu einem regelrechten neuen Weltkrieg nicht interessiert waren. Vielmehr setzten sie auf die zerstörerischen Wirkugen der Intervention, die den friedlichen Vorstellungen von Handel und Wandel seitens der Opposition erst die realistische und vielversprechende Basis verschaffen sollten:

"Ich glaube, man sollte sie (die Russen) ihre eigene Rettung ausarbeiten lassen, auch wenn sie sich dabei eine Weile im Chaos wälzen. Ich stelle mir das so vor: Das ist ein Haufen unmöglicher Leute, die sich untereinander bekämpfen. Mit denen kann man keine Geschäfte machen. Drum sperrt man sie alle in einen Raum, schließt die Tür und sagt ihnen: Wenn ihr euch beruhigt habt, sperren wir wieder auf und machen Geschäfte."

In der Rolle des strengen Aufsehers einer Kinderbewahranstalt, der kräftig am Schaden seiner Lieblinge arbeitet, um ihre Klugheit zu befördern, offenbart der amerikanische Präsident Wilson (Der "Vater des Völkerbundes"), daß der Maßstab der "Vernunft" in der Weltpolitik noch allemal einer der imperialistischen Ordnung ist und daß auch die bloße Zerstörung von Land und Leuten nicht ohne "Sinn", sondern geradezu der Schaden anderer Nationen zu Nutz und Frommen der eigenen gereichen kann.

Auch wenn der Traum von der Öffnung der Weiten Rußlands sich bis heute nicht so recht erfüllt hat, erfolglos war die Intervention nicht: Sie war eine brutale Demonstration, um welchen Preis die Verabschiedung aus der Welt des Privateigentums nur zu haben ist und daß das Lösegeld, wie sich das für Erpressungen gehört, dem Opfer noch lange keine Ruhe beschert. Deshalb waren auch die Worte des Britenpremiers Lloyd George kein Eingeständnis von Schwäche, sondern kündigten die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln an:

"Der Gedanke, den Bolschewismus mit Waffengewalt vernichten zu können, ist glatter Unsinn."

1922: Isolation

"Es ist uns nicht gelungen, Rußland mit Gewalt wiederherzustellen. Aber ich bin überzeugt, daß wir mit Hilfe des Handels dies tun und so Rußland retten können." (Lloyd George, Britischer Premierminister, 1920)

Die "Rettung" und "Wiederherstellung Rußlands" bleibt also westliches Programm. Logisch, daß die Einstellung der militärischen (Ordnungs-)Hilfe nicht das Ende der Ruinierung des Sowjetstaates bedeuten konnte, schließlich sollte mit "Hilfe des Handels" der gleiche Zweck weiterverfolgt werden. Und das geschieht dadurch, daß man zuerst einmal die Früchte der Zerstörung einzufahren gedenkt und den Handel so einsetzt, daß man ihn nicht gewährt, bzw. das Angebot von Warenlieferungen nicht von ihrer Bezahlung, sondern von Bedingungen abhängig macht, die auf einer Selbstaufgabe des sozialistischen Staates beharren. Die Aufhebung der Goldblockade - bis 1920 war es den Banken verboten, russisches Gold anzunehmen - bedeutete noch lange nicht, daß der Sozialismus aus dem Interesse der kapitalistischen Staaten an der Aufstockung ihrer Goldreserven einen Nutzen hätte ziehen können. So wurde alles daran gesetzt, das Handelsmonopol des Staates zu brechen, indem zwar die Blockade eingestellt, den eigenen Kapitalisten aber zur Auflage gemacht wurde, nur mit den Genossenschaften, also nicht mit dem Staat in Verbindung zu treten. Die englisch-französischen Auflagen für die Herstellung diplomatischer Beziehungen zur Verbesserung des Handels dokumentieren den Willen der demokratischen Staaten, die "Freiheit" in Rußland wieder zu installieren.

Neben der Anerkennung der Auslandsschulden verlangten sie die "Wiederherstellung des ausländischen Eigentums" und den Ausschluß westlicher Kapitalisten von der sozialistischen Gesetzgebung, ein Anspruch, den sich kein kapitalistischer Staat von einem anderen aufmachen läßt:

"Unternehmen, die Ausländern gehören oder sich in deren Verwaltung befinden, sollen unter den Bedingungen völliger Freiheit betrieben werden können."

Die Klage über den "Rückzug Rußlands aus dem Welthandel", über die "Verschlossenheit seiner Märkte" erweist sich angesichts dessen, daß die Sowjets nur einen Bruchteil dessen bekamen, was sie gewollt und mit Gold oder Rohstoffen bezahlt hätten, als die Ideologie des Kapitals, das offen bekundet, daß sein Handel nicht mit dem einfachen Austausch von Gütern zu verwechseln ist, sondern auf Bedingungen pocht, die sein segensreiches Wirken profitabel machen - wie z.B. der Ungültigkeit des sowjetischen Arbeitsrechts für ausländische Ausbeuter.

Aus Einsicht in den erpresserischen Charakter dieser Geschäftsangebote vernichtete die Sowjetunion auf die dringend benötigten Lieferungen; der Handel mit den kapitalistischen Staaten hielt sich in engen Grenzen. Zum Haupthandelspartner wurde der Verlierer des Weltkrieges. Grundlage war der Vertrag der "Parias der Staatenwelt", der Rapallo-Vertrag. Nicht daß im deutschen Reich die russische Seele, noch dazu in bolschewistischer Gestalt, besondere Sympathien genossen hätte - immerhin drohten deutsche Politiker den Siegermächten immer mal wieder, wenn man Deutschland weiter so schlecht behandele, werde es dem Bolschewismus erliegen - und dann gnade ihnen Gott! Die Anbiederung der Deutschen als antibolschewistisches Bollwerk wurde bei den Siegermächten zwar nicht ungern vernommen, aber dafür den eben erst besiegten Konkurrenten um die Hegemonie in Europa zu stärken, lag weder im Interesse der beiden europäischen Großmächte, noch hatten sie die Mittel dazu. Und die USA hatten zwar den Weltkrieg entschieden, aber eben zugunsten der Großmächte England und Frankreich, die jetzt sogar mehr Territorium beherrschten als vorher. Mit dem von ilinen geförderten und eingerichteten Cordon sanitaire (Staaten zwischen UdSSR und Deutschland) wollten etwa die Franzosen zwei Gegner schlagen: den Erbfeind und den sich abzeichnenden Hauptfeind.

Aus dem praktischen Gegensatz der Großmächte, der noch nicht dem einen Gegensatz untergeordnet war, resultiert also, daß Deutschland auch als Verlierer behandelt und nicht gleich als Brückenkopf aufgebaut und gefördert wurde wie später die BRD. Mit Mangel an "Weitsicht" (=Haupfeind nicht gesehen, deshalb nicht sofort vernichtet) hat das nur bei Historikern zu tun, die bei atomarer Überlegenheit, Marschallplan und NATO ins Schwärmen geraten und nach 1945 eine höhere Vernunft der Geschichte Werke sehen als nach 1918, obwohl auch dann eigentlich noch viel zu spät. Der Versailler Vertrag war eben nicht der "gescheiterte Versuch einer europäischen Friedensordnung", sondern das diktierte Interesse der Siegermächte.

Von deutscher Seite aus war Rapallo erstens ein diplomatisches Druckmittel an die Adresse der Sieger, Versailles zu revidieren, und zweitens ein Mittel, seine Bestimmungen zu unterlaufen. Schon der gleichberechtigte Handel war da ein Vorteil angesichts der Bestimmung, daß Deutschland allen Siegermächten Meistbegünstigung zu gewähren hatte, ohne sie selbst zu erhalten. Aulßerdem verzichteten die Sowjets auf Reparationen, die die Sieger ihrem "wiederhergestellten Rußland" freundlicherweise mit in den Vertrag geschrieben hatten. Und schließlich erlaubte der geheime Zusatz die Umgehung der militärischen Beschränkungen (Waffenbau und Ausbildung der Reichswehrkader in der RSFR).

Dafür verzichtete Deutschland auf Ansprüche auf enteignete deutsche Kapitalien und Guthaben, jedoch nicht ohne sich die Zukunftsoption zu bewahren:

"Vorausgesetzt, daß die Weigerung der Russischen Föderativen Sowjetrepublik auch ähnliche Ansprüche dritter Staaten nicht befriedigt." (Art. 1 des Rapallo-Vertrages)

Die Gegensätze im imperialistischen Lager waren also die Grundlage dafür, daß der damalige Handel tatsächlich nur zum "gegenseitigen Vorteil" geriet und nicht zum Hebel der Wiederherstellung Rußlands durch die Ruinierung der SU wurde. Das Interesse der europäischen Siegermächte hatte Deutschland in einen Zustand versetzt, in dem es jenseits aller prinzipiellen Gegnerschaft darauf angewiesen war, sich ein paar Selbstverständlichkeiten eines souveränen Staates heimlich zu genehmigen, anstatt die Bedingungen zu diktieren.

1939: Hitler-Stalin-Pakt

"Wollte man in Europa Grund und Boden, dann konnte dies im großen und ganzen nur auf Kosten Rußlands geschehen, dann mußte sich das neue Reich wieder auf der Straße der einstigen Ordensritter in Marsch setzen, um mit dem deutschen Schwert dem deutschen Pflug die Scholle, der Nation das tägliche Brot zu geben." (Hitler, Mein Kampf, 1924)

"Sollte der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können - wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten. Und wir werden auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen." (Stalin, 1925)

Ausgerechnet dieses Stalinzitat dient ganzen Historikergenerationen als Beleg für den sowjetischen Willen zu Aggression und Expansion. Dabei dokumentiert es nichts als den Fehler der Stalinutischen Außenpolitik. Während Lenin der Auffassung war, daß "Gegensätze und Widersprüche zwuchen zwei kapitalistischen Mächten" den Druck auf die Sowjetunion vorübergehend abmildern könnten, beginnt mit Stalin der Eintritt der Sowjetunion in die Weltpolitik mit der gefährlichen Illusion, sie könne als Schiedsrichter und Nutznießer innerimperialistischer Händel gewinnen. Daß die Sowjets den Sozialismus in einem Lande aufbauen mußten, kann ihnen nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß sie daraus aber ein politisches Programm verfertigten, ist ein Fehler, der den Opportunismus Stalins gegenüber den kapitalistischen Ländern ebenso begründet wie das taktische Verhältnis gegen die Kommunisten in aller Welt, die er für eben diese außenpolitischen Zwecke funktionalisierte. Mit dieser Entscheidung war an die Stelle der Festlegung der KPR (B) auf die Weltrevolution ("die Außenpolitik der RFSR ist das Programm der Kommunistischen Internationale") die Außenpolitik eines sozialistischen Staates getreten, der die Prinzipien des Umgangs zwischen Staaten zur Richtschnur seiner Außenp olitik gemacht hatte und die antikapitalistische Opposition immer dann anordnete und wieder unterband, wenn es ihm in seine Bündniserwartungen paßte. Daß die Rechnung zumindest insofern aufgegangen ist, daß die SU nach dem 2. Weltkrieg ihren Machtbereich erweitern konnte, ist keineswegs die Rechtfertigung dieser Hoffnung.

Einen Nicht-Angriffs-Pakt mit dem erklärten und vielfach bewährten Feind des Kommunismus zu schließen, ist schon ein Fehler. Er war sicher kein Mittel, sich Hitler noch für eine Zeit vom Hals zu halten. Auf eine Unterstützung der Westmächte brauchte er nicht zu rechnen. Die hatten ihn an der "Verteidigung" Polens gegen Hitler beteiligen wollen, ohne die SU in Polen Krieg führen zu lassen (Verweigerung der Durchmarschrechte durch Polen). Deswegen sich in dem Vertrag auch noch über die beidseitigen Annexionen zu einigen, hat mit dem Ziel der Sicherung der UdSSR nichts zu tun. Eher dagegen mit einer Taktik "Friedlicher Koexistenz" bis zur letzten Konsequenz.

Ebensowenig wie die Lüge vom machthungrigen Aggressor trifft also die sowjetische Legende vom gelungenen Zeitgewinn für die Vorbereitung des "Großen Vaterländischen Kriegs" den Kern des Pakts. Tatsächlich hat die SU an diesen Pakt geglaubt und gehofft, die imperialistischen Mächte möchten sich selbst zerfleischen. Darum drängte Stalin auf die Einhaltung der Termine für Lieferungen von Rohstoffen und Getreide an die Deutschen noch im Monat vor dem deutschen Überfall, während diese mit ihren Maschinenlieferungen immer mehr in Verzug gerieten. Über Nacht wurde die antifaschistische Propaganda in der Sowjetunion eingestellt und es wurde der Versuch unternommen, die französischen Kommunisten zur Neudefinierung ihrer Hauptkampflinie zu bewegen.

Die Vorbereitung der Sowjetu nion gegen einen Überfall bestand jetzt auch darin, Territorien zu annektieren (Bessarabien, Baltikum und das finnische Karelien). Man hielt sich an die mit den Deutschen vereinbarte Grenze der Interessensphären, an die jene sich - zumindest auf dem Balkan - schon nicht mehr hielten.

1941: Krieg gegen die UdSSR

"Wenn wir sehen, daß Deutschland den Krieg gewinnt, sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen. Auf diese Weise sollen sie sich so viel wie möglich gegenseitig umbringen." (Truman nach dem deutschtn Überfall auf die Sowjetunion)

Derselbe Truman soll dann 1945 als frischgebackener US-Präsident aus lauter Unerfahrenheit die frühzeitige Realisierung des Ziels der amerikanischen Nachkriegspolitik vergeigt haben, anstatt auf den Rat des erfahrenen Churchill zu hören, nicht das "falsche Schwein" zu "schlachten"! Tatsache ist es, daß die USA eben nach obigem Motto schon unter Roosevelt gehandelt haben: Die Sowjetunion ist als Mittel im Kampf gegen Hitler einzusetzen, wobei sie gerade soweit zu unterstützen ist, daß sie Deutschland einen Schaden zufügt, der den des Westens in Grenzen hält.

Erstens wurde dementsprechend die Lieferung von Material reguliert. Unterbrechungen ergaben ach "zwangsläufig" aus der "Gefährdung der Transporte durch deutsche U-Boote". Die sowjetischen Proteste gegen die Verschleppung versprochener Lieferungen legen davon Zeugnis ab. Die Unterstützung der SU war gebunden an diese ihre Dienstleistung. Die Teilhabe daran sollte sie sich erst verdienen: Auf ein Ersuchen der Sowjets um 6 Mrd. Dollar Nachkriegskredite erklärte US-Botschafter Harriman noch mitten im Krieg:

"Den Russen muß klar gemacht werden, daß unsere Bereitschaft zur ehrlichen Zusammenarbeit bezüglich ihrer schwierigen Probleme beim Wiederaufbau abhängig ist, von ihrem Verhalten in internationalen Fragen." (Januar 1945)

Der Yankee dachte dabei an Segnungen der Freiheit, wie die Mitarbeit im Gatt, also die Anerkennung amerikanischer Handelsbedingungen, und an einen hervorragenden US-Einfluß in Osteuropa. Die sofort nach Kriegsschluß erfolgte Kündigung des Lendlease-Programms seitens der Amerikaner ließ an diesbezüglicher Klarheit nichts zu wünschen übrig. Zweitens aber sorgen die erfolgten Materiallieferungen durchaus dafür, daß der Krieg in Rußland weitergeht, während die von Stalin dringend verlangte, für 1942 versprochene "Zweite Front" im Westen erst 1944 mit der Landung in der Normandie verwirklicht wird, als die Entscheidung im Osten schon gefallen ist, die deutschen Truppen sich auf dem Rückzug befinden.

Die Bindung der deutschen Truppen durch die Russen erlaubt drittens den Krieg der Westmächte im Atlantik, Pazifik, Nordafrika - angeblich zwecks "Sicherung der Lieferungen für die Sowjetunion". Die USA errichten systematisch ihr weltweites Netz von Stützpunkten durch Eroberung oder auch dadurch, daß sie sich die Materiallieferungen an die Briten durch deren Verpachtung entgelten lassen. Die Briten erkennen schon früh die Bedeutung der Südflanke der NATO und intervenieren in Griechenland, aber weder gegen die Deutschen - die befinden sich gezwungenermaßen auf dem Rückzug - noch gegen eine sowjetische Bedrohung - Churchill verweist darauf, daß Stalin sich an die Abmachungen bezüglich der Aufteilung des Balkans gehalten und sich nicht in Griechenland eingemischt hat. Die Briten intervenieren gegen die griechische Befreiungsfront, die zwar nicht sowjetfreundlich war, aber für die strategische Bedeutung Griechenlands nicht das nötige Maß an Zuverlässigkeit bot. Im Fernen Osten wurde sogleich der Wert eines geschlagenen Gegners erkannt: Gefangene Japaner wurden in Korea und Indochina in amerikanische Unifomien gesteckt und beim Kampf gegen nationalistische und Hungeraufstände eingesetzt: Am 8. Mai 1945 ist die Sowjetunion bis an die Elbe vorgedrungen und - von allen Seiten eingekreist! Von einem Partner, der die Ernsthaftigkeit seines Werbens um freundschaftliche Beziehungen mit einer eindrucksvollen Demonstration unterstrichen hat: Zwei Bomben und Hunderttausende von Toten.

In der bürgerlichen Geschichtsschreibung wird die Propagierung des "Großen Vaterländischen Krieges" (verbunden mit der Einführung zaristischer Uniformien, Orden und heldenhafter Vorbilder: Im Film treibt Peter der Große seine leibeigenen Soldaten in den Kampf gegen die Schweden mit dem Ruf: "Vorwärts, Genossen!") als trickreicher Einfall des "teuflischen Georgiers" behandelt, der damit das hehre Ideal des Nationalismus für das Ziel der kommunistischen Weltrevolution mißbraucht habe. Tatsächlich vollendete er damit den mit der Theorie vom "Sozialismus in einem Land" begonnenen Abschied von der Absicht, die Welt zu revolutionieren, und etablierte die Sowjetunion als Vaterland, das mit den anderen Vaterländern um Macht und Einfluß in der Welt konkurriert. Deren Zufriedenheit, sich als Nummer 2 etabliert zu haben und deshalb allenthalben ihre "Friedensliebe " herauszukehren, ist konfrontiert mit der weltweiten Bedrohung durch die Nummer 1 und ihre Bündnispartner, die Tag für Tag in vielen Sprachen ihre Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Weltordnung proklamieren und den Umsturz der bestehenden Verhältnisse tatkräftig vorantreiben.


Kapital - Verbrechen

Raubzüge

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital - Verbrechen
Raubzüge
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 13. Mai 2002, 17.00-18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 14. Mai 2002, 00.00-01.00 Uhr
Dienstag, 14. Mai 2002, 08.00-09.00 Uhr
Dienstag, 14. Mai 2002, 14.00-15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Jacques Pauwels : Der Mythos vom guten Krieg. Die USA und der 2. Weltkrieg, PapyRossa Verlag
  • Sherman W. Garnett, Alexander Rahr und Koji Watanabe : Der Kaspische Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung. Die Verantwortung der Trilateralen Staaten für die Stabilität der Region. Ein Bericht an die Trilaterale Kommission, Verlag Leske + Budrich
 
 
Playlist :
Laibach : War
Jennifer Rush : Silent Killer
Darude : Sandstorm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Wozu sind Kriege gut?
Kapitel 2 : Das Wesen des Zweiten Weltkriegs
Kapitel 3 : Kriegsmotive
Kapitel 4 : Trilaterale Raubzüge
Kapitel 5 : Schluß

 

Wozu sind Kriege gut?

Jingle Alltag und Geschichte
Ansage auf Polnisch

Kuriose Meldungen vernebeln unsere Wahrnehmung des neuen deutschen Militarismus. Die Bundeswehr wird als chaotisch-inkompetente und schlecht ausgerüstete Truppe hingestellt, um den Umbau zu einer Söldnerarmee mitsamt High-Tech-Ausstattung zu beschleunigen. Scharpings Alleingang mit Transportfliegern, die nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht benötigt würden, lassen erahnen, daß neue Einsätze in weiteren neu erschaffenen Krisenherden bevorstehen.

Die folgende Meldung jedenfalls verschleiert wieder einmal, daß die Bundeswehr längst auf Menschenjagd gegangen ist. Im neuesten SPIEGEL ist zu lesen: Unmut über ungewöhnliche Aufgaben regt sich bei den deutschen Heeresfliegern in Kabul. Seit Wochen müssen die Hubschrauberbesatzungen ihre Helikopter auf dem Flugplatz von Kabul rund um die Uhr selbst bewachen. Als Grund wird angegeben, daß die für Schutzaufgaben eingesetzten Fallschirmjäger überlastet sind und allenfalls zeitweilig aushelfen können. Zusätzliche Mannschaften könne die Bundeswehr jedoch nicht einfliegen, weil das Bundestagsmandat nur insgesamt 1200 Soldaten genehmigt habe. [SPIEGEL 20/2002, Seite 19]

Das kann ich nur sagen: schlecht geplant, Herr Scharping. Derweil plagen die Bundesregierung ganz andere Probleme. Wieder sind die leidigen Menschenrechte im Weg. Auch hier vermeldet der SPIEGEL:

Die Bundesregierung läßt durch Rechtsexperten des Verteidigungs-, des Justiz- und des Außenministeriums die Rechtsgrundlage des KSK-Einsatzes in Afghanistan prüfen. Nach einem vorläufigen Gutachten sei die Teilnahme an der [Menschen-]Jagd auf Taliban und [Al] Qaida-Verdächtige von der UNO-Charta zwar gedeckt, aber die [US-] amerikanische Regierung müsse den Status der Gefangenen und deren Haftbedingungen klären. Die Juristen sind zu dem Schluß gekommen, daß ein "zeitlich unbegrenztes Festhalterecht ohne richterliche Überprüfung" mit "zwingenden internationalen menschenrechtlichen Mindeststandards unvereinbar" sei. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Möglichkeit, daß den mit deutscher Hilfe Festgenommenen auch die Todesstrafe drohen könne. Das Gutachten vertritt die Auffassung, daß die Übergabe von Verdächtigen an die USA dann unzulässig sei, wenn "bereits von vornherein erkennbar" sei, daß ihnen dort die Todesstrafe drohe. [SPIEGEL 20/2002, Seite 147]

Also - solche Menschenrechtsprobleme möchte ich einmal haben. Haben Fischer, Scharping, Schröder und Co. die gute alte US-amerikanische Menschenrechtsdoktrin vergessen, daß nur ein toter Afghane ein guter Afghane sei? Und dann macht ihr euch ernsthaft Probleme um die mögliche Todesstrafe für diejenigen, die eure Menschenjagd mit Thermobomben und Urangeschossen überlebt haben? Unglaublich! Aber so ist sie eben, die blaßrosarot-olivgrüne Menschenrechtsfraktion.

Bleibt nur noch die Frage zu klären: mit welchem Einsatzbefehl habt ihr die an den Hubschraubern vermißten Fallschirmjäger losgeschickt? Nun gut (oder in diesem Fall eher: nun schlecht!) - Deutschland führt Krieg. Damit gibt es ja gewisse historische Erfahrungen. Manchmal waren deutsche Soldaten auf der falschen Seite und haben verloren. Doch Schröder, Fischer, Scharping und Co. machen es diesmal besser. In einer Allianz gegen den Terror (und damit meinen sie nicht den Terror der Ökonomie, den sie mitgestalten) sind sie immer auf der Seite der Guten.

Doch gibt es überhaupt gute Kriege? Jacques Pauwels untersucht in einem Buch über den 2. Weltkrieg den nach Kriegsende gepflegten Mythos vom guten Krieg. Schon im 2. Weltkrieg war für manche Beobachterinnen und Beobachter nicht so genau zu unterscheiden, auf welcher Seite die Guten und auf welcher die Bösen waren.

Anders gesagt: schauen wir auf die Motive der kriegsführenden Mächte. Der Schutz der von der Vernichtung bedrohten Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, von Behinderten und sogenannten Untermenschen gehörte jedenfalls nicht dazu.

Und wenn wir schon bei guten Kriegen sind - dann sollten wir vielleicht auch einmal in die aktuellen Diskussionen der Reichen und Mächtigen dieser Erde hineinhören. Ein Bericht an das Zentralorgan der westlichen Welt, die Trilaterale Kommission, untersucht den Kaspischen Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung. Debattiert wird darin die Verantwortung der Trilateralen Staaten für die Stabilität der Region. Was sich hinter diesem Wortgeklüngel verbirgt, dazu mehr im Verlauf dieser Sendung.

Es gibt nur eine Antwort auf die Frage, wozu Kriege gut sind, aller Menschenrechtsrhetorik zum Trotz. Und Joschka Fischer, den die NATO-BündnisGRÜNEN als ihren Strahlemann für den Bundestagswahlkampf aufgebaut haben, weiß dies nur zu gut. 1994 sagte er aus aktuellem Anlaß: "Das ist mein großes Problem, wenn ich sehe, wie die Bundesregierung den Bundestag an der Nase, an der humanitären Nase, in den Bosnienkrieg führen will." [zit. nach Jürgen Elsässer (Hg.) : Nie wieder Krieg ohne uns, Konkret Literatur Verlag, Seite 7]

Allerdings ist zu ergänzen, daß sich der Bundestag auch an der Nase herumführen lassen will. Das ist ja kein Haufen von Ahnungslosen. Und wenn es heute noch BündnisGRÜNE gibt, die an den Weihnachtsmann glauben, dann kann ich ihnen nur raten, erwachsen zu werden und die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Doch wer lieber an den Weihnachtsmann glauben möchte, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was Menschenrechte im Kapitalismus bedeuten, was Zivilgesellschaft bedeutet und was Frieden in einer wahnhaft gewalttätigen Profitgeierwelt bedeutet, die oder der zieht auch im Namen von Menschenrechten und der Zivilgesellschaft humanitär intervenierend in den Krieg, um eine ganz banale imperialistische Blutspur zu hinterlassen.

Das ist - in Abwandlung eines Begriffs aus der Friedensbewegung - Frieden mit olivgrünen Waffen zu schaffen. Nur verstecken sie sich dann immer noch feige hinter ihren Floskeln oder heucheln Gewissensbisse, anstatt dazu zu stehen und zu sagen: "Ja, wir sind die Guten. Und wir bestimmen, was gut für andere ist. Mit Waffen eben. Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt."

Und so liegt Fischers Bosnien zunächst im Kosovo und heute in Afghanistan; und morgen womöglich im zentralasiatischen Raum. Doch dazu komme ich noch zu sprechen. Für die Redaktion Alltag und Geschichte bei Radio Darmstadt begrüßt euch Walter Kuhl. Also jetzt: what is it good for?

Laibach : War

 

Das Wesen des Zweiten Weltkriegs

Der wohl bedeutendste marxistische Wirtschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Ernest Mandel, beschrieb den Charakter des 2. Weltkrieges als eine Verschränkung von fünf gleichzeitigen, zum Teil miteinander verbundenen Kriegen weltweit.

Erstens, so schrieb er in einem Aufsatz 1985, als sich Helmut Kohl und Ronald Reagan auf dem SS-Soldatenfriedhof in Bitburg die Hand gaben, war es ein Krieg zwischen den imperialistischen Mächten Deutschland, Italien und Japan auf der einen, USA, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite.

Zweitens gab es den chinesischen Verteidigungskrieg gegen die japanische Aggression, also der Besetzung der Mandschurei und Teilen von Nordchina. Dieser Krieg begann schon Anfang der 30er Jahre und wurde als innerchinesischer Bürgerkrieg 1949 mit dem Sieg der Arbeiterinnen, Bauern und Kommunisten unter der Führung Mao Zedongs beendet. In diesem Bürgerkrieg stand Chiang Kaishek als Verbündeter der nächsten imperialistischen Macht, nämlich der USA, die schon ein begehrliches Auge auf China geworfen hatte, auf der Verliererseite.

Drittens war die Sowjetunion nicht Teil der innerimperialistischen Auseinandersetzung, sondern führte einen Verteidigungskrieg gegen die Nazi-Aggression. Stalins Problem war während des gesamten Zeitraums 1939 bis 1945, ob sich die Imperialisten beider Lager letztlich nicht doch zusammenraufen würden, um gemeinsam gegen die Sowjetunion vorzugehen. Auch um dies zu verhindern, verbündete sich Stalin zunächst 1939 mit Hitler und anschließend mit den westlichen Alliierten. Allerdings gab es selbst 1945 noch Planspiele einer westlichen Allianz mit den Nazis gegen die Sowjetunion. Daß Stalin so ganz nebenbei diesen Krieg benutzt hat, um die Grenzen der Sowjetunion nach Westen zu verschieben, ändert nichts daran, daß die Sowjetunion nicht der Aggressor, sondern das Opfer war.

Viertens, oftmals vergessen, gab es die nationalen antikolonialen Befreiungskriege in Asien und Afrika auch während dieser innerimperialistischen Auseinandersetzung. Für die Menschen des Südens war es relativ uninteressant, welche der Raubritterfraktionen die Oberhand gewinnen würde. Von keiner Seite war etwas Positives zu erwarten. Vietnam ist das beste Beispiel dafür. Hier gaben sich die Imperialisten beider Lager die Klinke in die Hand. Die Japaner vertrieben die Franzosen aus Indochina zu Beginn des 2. Weltkriegs, den die USA dann gegen Japan gewannen. Die Franzosen kehrten wieder zurück, um selbst 1954 in Dien Bien Phu von der vietnamesischen Armee vernichtend geschlagen zu werden. Und danach kam die US Army, um die Menschenrechte standesgemäß durchzusetzen. 1975 hatten mehr als drei Millionen Vietnamesinnen und Vietnamesen ihr Menschenrecht auf Leben verloren. Ein wichtiger Grund übrigens für Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl, ihre Sympathien für die US-Regierung zu zeigen. So wie Willy Brandt die Freiheit des Westens in Berlin verteidigen wollte, zogen die USA für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nach Vietnam. Mit den richtigen Vokabeln läßt sich jedes Verbrechen begründen.

Übrigens: deutsche Firmen haben an diesem Massenmord gut verdient. Etwa das Chemie- und Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, das der US Army den Grundstoff für den chemischen Kampfstoff Agent Orange geliefert hat. Agent Orange wurde in Vietnam flächendeckend eingesetzt und führt noch heute zur Geburt mißgebildeter Kinder. Geschäftsführer dieses Unternehmens war ein gewisser Richard von Weizsäcker. Zur Belohnung für seinen tapferen Einsatz für Freiheit und Demokratie wurde er später zum Bundespräsidenten gewählt.

Aber antikoloniale Befreiungskriege gab es während des 2. Weltkrieges auch in Indien, auf den Philippinen, in Indonesien und Burma.

Der fünfte Krieg war ein besonderer, nämlich ein internationaler Klassenkrieg. Dazu Ernest Mandel:

Ich würde sagen, daß er im gesamten vom Nazi-Imperialismus besetzten Europa vonstatten ging, aber ganz besonders fand er in zwei Ländern statt, in Jugoslawien und Griechenland, weitgehend in Polen und in seinen ersten Stadien in Frankreich und Italien. Das war ein Befreiungskrieg der unterdrückten Arbeiter und Bauern und der städtischen Kleinbourgeoisie gegen die deutschen Nazi-Imperialisten und deren Handlanger. [was tun 405, 9.5.1985, Seite 9]

Wir ersehen daraus, daß der 2. Weltkrieg mehr war als ein Krieg gegen die Nazis und ihre Verbündeten. Daß im Anschluß daran eine ideologische Verklärung stattfand, wonach die Guten gegen das Reich des Bösen gesiegt hätten, ist logisch. Denn die Sieger bestimmen immer die Geschichtsschreibung. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, daß die USA in den europäischen Teil dieses 2. Weltkriegs nicht eingegriffen haben, um die Menschenrechte wiederherzustellen. Krieg ist vor allem und zuerst eine ökonomische Frage. Und für die USA gab es in diesem Krieg viel zu gewinnen.

Doch bevor ich auf das Buch von Jacques Pauwels mit dem Titel Der Mythos vom guten Krieg zu sprechen komme, möchte ich zwei Vorbemerkungen machen. Erstens legitimieren die mit dem Eintritt in den damaligen Krieg verbundenen Absichten der US-Regierung keinesfalls die Kriegsführung und Kriegsziele der anderen Seite, also vor allem Nazideutschlands. Und zweitens ist es wichtig zu begreifen, warum und worum Kriege geführt werden, und warum und worum nicht. Die Tatsache, daß die Judenvernichtung den westlichen Alliierten bekannt war, ohne daß sie dies zum moralischen Antrieb ihrer Kriegsführung gemacht hätten, zeigt nur, daß Ernest Mandel mit seiner Einschätzung des 2. Weltkrieges als einer innerimperialistischen Auseinandersetzung nicht allzu falsch liegen kann.

 

Kriegsmotive

Jürgen Elsässer hat seinem Buch Kriegsverbrechen, das von den tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihren Opfern im Kosovo-Konflikt handelt, ein Vorwort vorangestellt, das vom newspeak nicht nur der deutschen Menschenrechtsregierung handelt.

O-Ton : Jürgen Elsässer liest aus seinem im Konkret Literatur Verlag erschienenen Buch Kriegsverbrechen
Seite 7: "Im Jahr 2000 ..." bis Seite 8: "... Lügen sind akzeptiert."
und Seite 13: "Aber die Zeiten haben sich geändert. Wir schreiben jetzt 1984 und Ozeanien führt Krieg."

Um Interpretationen geht es auch im Buch von Jacques Pauwels. Er hat mit seinem im PapyRossa Verlag erschienenen Buch Der Mythos vom guten Krieg zwar keine neue Fakten zusammengetragen, sondern eine neue Interpretation des 2. Weltkriegs als einer innerimperialistischen Auseinandersetzung unter Einschluß eines sowjetrussischen Verbündeten versucht. Einiges davon hätte ich mir klarer und nicht durch eine leicht antiamerikanische Brille gewünscht. Dennoch hat das Buch seine Stärken, weil es die Fakten neu bewertet und zu Schlüssen gelangt, die der herrschenden Geschichtsschreibung widersprechen.

Es wird allgemein angenommen - schreibt Pauwels -, daß die Kriegsziele der Vereinigten Staaten und ihres britischen Partners am besten in der sogenannten Atlantikcharta zusammengefaßt wurden, jenem Dokument, dessen Inhalt Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill bei ihrem Treffen auf einem Kriegsschiff in den Küstengewässern von Neufundland am 14. August 1941 der Welt gemeinsam verkündeten. [...]

In dieser Charta erklärten die beiden angelsächsischen Partner, es gehe beim Kampf gegen Hitler-Deutschland um das Selbstbestimmungsrecht aller Völker sowie um die sogenannten vier Freiheiten, d.h. Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit von materiellem Mangel und Freiheit von Furcht [...].

Wir müssen die schönen und ziemlich verschwommenen Worte jedoch nicht rundweg für bare Münze nehmen. Bestimmt lag es nicht in der Absicht Washingtons und Londons, die Bevölkerung der eigenen kolonialen Besitzungen und Protektorate (wie beispielsweise Britisch Indien oder die von den USA dominierten Philippinen) in den Genuß all dieser Freiheiten kommen zu lassen. Und in den Vereinigten Staaten selbst sollte nach dem gemeinsamen Sieg, der sozusagen im Namen all dieser [Freiheiten] erkämpft worden war, so gut wie nichts unternommen werden, um das Problem des bitteren materiellen Mangels [...] für Millionen schwarzer und auch weißer Amerikaner zu lösen. [...]

Die Atlantikcharta trug jedenfalls dazu bei, die Vorstellung ins Leben zu rufen, die USA kämpften gemeinsam mit ihrem britischen Bundesgenossen allein für Recht und Freiheit. [...] Die offizielle Sprache schuf somit eine offizielle Wahrheit - oder besser gesagt, eine offizielle Mythologie -, derzufolge rein idealistische Motive die Rolle der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg bestimmt hätten. [Pauwels, Seite 17-18]

Gut - solche Mythen gehören auch heute zum imperialistischen Menschenrechtskriegsalltag. Oder zur Antiterrorbekämpfung. Der russische Präsident Wladimir Putin beispielsweise spielt diese Klaviatur hervorragend, während seine Truppen in Tschetschenien keinen Unterschied zwischen Rebellen und Zivilbevölkerung machen. Das Demoralisieren der Zivilbevölkerung ist ja bekanntlich ein wichtiges Ziel moderner Kriegsführung.

Doch kommen wir auf den 2. Weltkrieg bzw. seine Vorgeschichte zurück. US-Firmen haben sich besonders in den 20 Jahren in Deutschland engagiert. Opel wurde von General Motors übernommen, IBM besaß die Lochkartenfirma DEHOMAG, Ford hatte eine Filiale in Köln, um nur einige zu nennen. Und sie hatten durchaus gewisse Sympathien für Hitler und dessen Politik, insbesondere für die Politik, aktive Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten auszuschalten. IBMs deutsche Filiale lieferte den Nazis dann auch die Lochkartentechnik, um sowohl Eisenbahnen pünktlich fahren zu lassen und Jüdinnen und Juden zum Zweck der Enteignung zu erfassen. Denn es gibt bekanntlich nur eine Freiheit, und das ist die Freiheit des Kapitals, das ist die Freiheit, unter allen Umständen Profit zu machen. Das ist das Menschenrecht schlechthin. Aber auch DuPont, der Konzern, der General Motors finanziell kontrollierte, hatte in deutsche Waffenfabriken investiert. Zur Verbesserung der Konzernbilanz wurden darüber hinaus über die Niederlande Waffen und Munition nach Deutschland geschmuggelt. Ähnlich wie Krupp im 1. Weltkrieg profitierten hier US-Konzerne auch von der deutschen Kriegsführung.

Auch am Antisemitismus Hitlers und seiner faschistischen Konsorten störte man sich seinerzeit in den USA wenig oder gar nicht. Antisemitismus war in den 20er und 30er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten groß in Mode. In den eleganten Clubs und Hotels beispielsweise waren Juden häufig nicht zugelassen. Der bekannteste Antisemit der USA war der Industrielle Henry Ford, [...] der Hitler bewunderte, finanziell unterstützte und sogar mit seinem antisemitischen Buch The International Jew, das schon in den 20er Jahren erschienen war, inspirierte. [Pauwels, Seite 35]

Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Jacques Pauwels mit diesen zugegebenermaßen drastischen Beispielen wirklich die Stimmungslage des US-Kapitals exakt widergibt. Sicher, Henry Ford stand nicht alleine da, und auch der Flieger Charles Lindbergh war mit Hermann Göring befreundet, was beim medial inszenierten Jubiläumsflug seines Enkels vor einigen Wochen natürlich nicht Erwähnung fand. Aber von einzelnen Stimmen auf die gesamte Stimmungslage in den USA zu schließen, halte ich für problematisch. Dennoch ist es ist richtig, wenn Jacques Pauwels darauf verweist, daß

wegen Hitlers antisemitischer Worte und Taten die USA sicher nicht bereit [waren], einen Kreuzzug in Europa zu führen. Übrigens erhielten nur bitter wenige jüdische Flüchtlinge aus Deutschland die Genehmigung, sich in den USA niederzulassen [...]. Einem mit jüdischen Flüchtlingen überfüllten Schiff aus Deutschland - der St. Louis - wurde noch im Frühjahr 1939 von den US-Behörden die Genehmigung verweigert, seine Passagiere von Bord gehen zu lassen. Das Schiff mußte nach Deutschland zurückkehren, erhielt jedoch im letzten Moment von den dortigen Behörden die Genehmigung, Antwerpen anzusteuern. [Pauwels, Seite 35-36]

Interessant wird jedoch die Interpretation von Jacques Pauwels, wenn es um die US-Interessen am 2. Weltkrieg ging. Zurecht weist er darauf hin, daß das keynesianische Infrastrukturprogramm Franklin Delano Roosevelts, der New Deal, letztendlich die Wirtschaftskrise von 1929 nicht entscheidend lösen konnte. Nur ein gigantisches Rüstungsprogramm war in der Lage, neue Bedingungen zu schaffen, um den US-Konzernen und der US-Wirtschaft Absatzmärkte und Profit zu ermöglichen. Nachdem Hitlers Armeen blitzkriegartig die europäische Landkarte 1939/40 verändert hatten, blieb nur Großbritannien als Absatzmarkt in Europa übrig. Spannender war jedoch der Gedanke, einen langfristigen Absatzmarkt in Europa zu schaffen, wenn es gelang, das Kriegsende entscheidend herauszuzögern. Nachdem klar war, daß die Wehrmacht England nicht erobern konnte, konnte man dieses Programm auch gelassen verfolgen. Dahinter steckte natürlich auch der Gedanke, die Nazis und die Sowjets sich gegenseitig bekämpfen zu lassen.

Daß die Nazis auf diese Weise Herrscher über den europäischen Kontinent blieben und überall ihre neue Ordnung verkündeten, ließ Washington eigentlich ziemlich kalt. Je länger der europäische Krieg dauerte, desto besser für die Vereinigten Staaten; und wie dieser Krieg letzten Endes ausgehen würde, darum würde man sich später sorgen. [Pauwels, Seite 59]

Insofern wurde nicht etwa in Frankreich eine neue Front eröffnet, mit dem erst 1944 verfolgten Ziel, Richtung Deutschland zu marschieren, sondern an einer Stelle, die garantiert kein schnelles Ende des Krieges versprach - in Nordafrika. Abgesehen davon, hatten die USA noch ein Problem im Pazifik zu lösen, nämlich Japan daran zu hindern, sich ein eigenes Imperium aufzubauen. Die dortigen Rohstoffe und Märkte hatten die USA schon in den 30er Jahren als ureigenstes nationales Interesse definiert.

Erst als nach der Schlacht um Stalingrad abzusehen war, daß Stalins Armeen siegreich nach Westen marschieren würden, begann man umzudenken. Stalin Deutschland zu überlassen, war im Drehbuch nicht vorgesehen. Und so wurde im Sommer 1944 in der Normandie eine zweite Front aufgebaut, die weniger Hitler daran hindern sollte, sich gegen die Sowjetarmeen zu behaupten, sondern vor allem Stalin daran hindern sollten, zuerst Berlin zu erreichen. Doch man kam zu spät, bekam mit einer eigenen Besatzungszone aber dennoch ein Stück vom Kuchen.

Doch bis es soweit war, mußte die US-amerikanische Rüstungsproduktion geschmiert werden. Also begann man Deutschland aus der Luft zu bombardieren. Jacques Pauwels verweist zwar darauf, daß es darauf ankam, die deutsche Industrie an der Rüstungsproduktion zu hindern, und vor allem darauf, die deutsche Bevölkerung zu demoralisieren. Aber es weist auch darauf hin, daß die deutschen Filialen der US-Konzerne weitestgehend verschont blieben oder erst dann bombardiert wurden, nachdem die wichtigsten Komponenten ausgelagert worden waren.

Denn der Kontakt zwischen deutschen Filialen und US-amerikanischen Konzernzentralen riß nie ab. Doch überhaupt galten die Bombenangriffe mehr den Städten als der kriegswichtigen Industrie. Denn diese wollte man nach einem gewonnenen Krieg schließlich selbst nutzen. Untersuchungen zeigen, daß die deutschen Industriekapazitäten 1945 (also nach dem verlorenen Krieg) trotz oder wegen der gezielten Bombardements größer waren als 1937. Statt dessen wurden gezielt die deutschen Städte bombardiert. Krieg gegen die Zivilbevölkerung eben.

Nur daß diese im Falle Deutschlands alles andere als unschuldig war.

Jacques Pauwels weist hierbei möglicherweise zurecht darauf hin, daß die Bombardierung Dresdens Stalin zeigen sollte, was der Sowjetunion blühen könnte, falls er sich nicht kooperativ bei der Aufteilung Europas zeigen würde. Eine ähnliche Funktion hatten im übrigen die Atombombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki, die keine kriegswichtige Funktion hatten, aber Stalin vor Augen hielten, daß die USA eine Waffe besaßen, gegen die die Sowjetunion schutz- und machtlos sein würde.

Jacques Pauwels' Buch Der Mythos vom guten Krieg ist bei aller Detailkritik ein Beispiel dafür, wie hilfreich es sein kann, hinter die Kulissen der Macht zu schauen. Er demontiert die ideologischen Nebelschleier von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, oder was sonst auch immer angeführt wird, um einen banalen kapitalistischen Raubzug zu begründen. Dabei ist es jedoch wichtig zu begreifen, daß die schonungslose Kritik am Imperialismus der einen kriegsführenden Partei nicht Parteinahme für die andere Seite bedeutet und bedeuten darf.

Der 2. Weltkrieg war für die USA ein guter und erfolgreicher Krieg. Er legte den Grundstock für das Wirtschaftswunder bis weit in die 60er Jahre hinein. Der Kalte Krieg war die beste Gewähr dafür, daß die militärkeynesianische Rüstungsproduktion weiterhin auf vollen Touren laufen konnte. Absatz und Gewinn waren garantiert. Doch auch dieses Modell geriet unweigerlich in eine Krise. 1967 fand die erste globale Rezession nach dem 2. Weltkrieg statt und markierte das Ende dieses Wirtschaftswunders.

Hier erweist es sich dann als konsequent, wenn die USA zur Sicherung des eroberten Deutschlands auf Nazis in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft setzten. Denn moralische Probleme hatten die führenden Kreise in den USA - wie schon gezeigt - mit der Nazi-Ideologie nicht. Und dann ist es überhaupt kein Zufall (manchmal kommt eben alles zusammen), wenn schon wieder der SPIEGEL in der neuesten Ausgabe auch diese Kollaboration benennt. Dort heißt es:

General Reinhard Gehlen, damals designierter Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), hegte im Frühjahr 1956 staatsstreichartige Pläne. Dies belegt die Gesprächsnotiz eines hochrangigen CIA-Verbindungsmanns, die der US-Geheimdienst jetzt freigegeben hat. [...] Die SPD, so befürchtete der zuvor in Hitlers Generalstab für den Aufklärungsdienst Fremde Heere Ost zuständige Gehlen, könne sich mit Adenauer-Gegnern der nationalistischen Rechten zu einer neutralistischen Koalition verbünden. Eine derartige Regierung aber werde früher oder später dem Einfluß des Ostens erliegen. Falls es soweit komme, fühle er sich moralisch berechtigt, alle denkbaren Gegenmaßnahmen zu ergreifen - einschließlich der Bildung eines illegalen Apparats in der Bundesrepublik zur Bekämpfung der deutschen Anhänger einer prosowjetischen Politik. Einen entsprechenden Plan wollte Gehlen in Washington im kleinsten Kreis konspirativ erörtern. Ob es dazu kam, ist ungeklärt. Im April 1956 wurde Gehlen zum BND-Chef ernannt [...]. [SPIEGEL 20/2002, Seite 20]

Wir könnten jetzt darüber spekulieren, ob der Bundesnachrichtendienst dieser illegale Apparat war und ist. Es wäre zumindest naheliegend, denn Gehlens Bundesnachrichtendienst war in das antikommunistische geheime Terror-Netzwerk namens Gladio integriert, welches, o Wunder!, von einer geheimen NATO-Zentrale in Brüssel koordiniert wurde. Gladio soll übrigens nach seinem Auffliegen 1990 aufgelöst worden sein. Wer's glaubt ...

Zeitgleich mit dem angeblichen Ende von Gladio, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also dem Wegfall des aufgebauschten Kalten-Kriegs-Grundes, ergeben sich neue Chancen, Märkte und Kriegsgründe, um die Claims neu abzustecken. Doch das ist eine andere Geschichte, die ich zumindest noch kurz anreißen möchte. Der Mythos vom guten Krieg von Jacques Pauwels ist im PapyRossa Verlag erschienen und kostet 16 Euro 50.

Jennifer Rush : Silent Killer

 

Trilaterale Raubzüge

Der 11. September, bei dem schon gar nicht mehr gefragt wird, warum auch das Pentagon ein völlig logisches Ziel von Osama bin Laden oder wem auch immer war, eröffnete den kriegsheischenden Politikerinnen und Militärs in West und Ost ungeahnte Perspektiven. Endlich hatten die USA wieder einen greifbaren Feind. Endlich konnte man die Rüstungsproduktion wieder ankurbeln, um die lahme US-Wirtschaft aufzupäppeln. George W. Bush, früherer Geschäftspartner des bin Laden-Clans, ergriff die Gelegenheit beim Schopfe.

Nun ist der Krieg gegen Afghanistan nicht erst am 11. September 2001 geplant worden. Die Taliban waren den US-Kriegsherren schon vorher ein Dorn im Auge. Wobei Afghanistan selbst von seinen Ressourcen her uninteressant ist, und die Menschen, die unter den Mudschaheddin verschiedenster Fraktionen zwei Jahrzehnte lang zu leiden hatten, sowieso. Schließlich wurden diese Mordgesellen von den USA und ihrem Geheimdienst CIA selbst an die Macht gebracht, um ihr blutiges Handwerk zu verrichten. Nein, wie immer geht aus hier um Öl, genauer: um eine geplante Ölpipeline durch Afghanistan.

Und zwar für Öl aus dem Kaspischen Raum. Weitgehend unbemerkt von der westlichen Medienöffentlichkeit wurden dort in den 90er Jahren ein gigantisches Reservoir an Erdöl und Erdgas gefunden und Erdölfelder ausgebeutet. Das Ölvorkommen im Kaspischen Raum wird von seiner Dimension her in der gleichen Liga wie der Arabische Golf angesiedelt. Das Problem ist der Transport des Öls nach Europa, Japan und in die USA. Denn das Kaspische Meer liegt geostrategisch etwas ungünstig. Die vorhandenen Pipelines führen durch Tschetschenien, den Iran oder durch Rußland - Gebiete also, die nicht so recht unter westliche Kontrolle zu bringen sind. Und darüber machen sich Konzerne, Politiker und Militärs natürlich so ihre Gedanken.

Ein wichtiger Think Tank, vielleicht sogar der wichtigste, ist die Trilaterale Kommission. Ihr gehören Vertreter und einige wenige Vertreterinnen der drei wichtigsten Zentren des kapitalistischen Weltmarktes an. Sie kommen vorzugsweise aus den USA, aus Japan und den Ländern der Europäischen Union. Und es sind nicht irgendwelche drittklassigen Vertreter, sondern die creme de la creme. Handverlesen. Die Trilaterale Kommission wurde 1973 gegründet, um die unterschiedlichen Interessen der drei wirtschaftlichen Machtblöcke zu bündeln.

In den Führungsgremien sitzen derzeit - nur um die Funktionen zu nennen - ein früherer Sprecher des US-Repräsentantenhauses und Botschafter in Japan, der Vorsitzende des Erdölgiganten BP Amoco oder ein früherer südkoreanischer Außenminister. Frühere Führungsleute waren ein Notenbankchef der USA, David Rockefeller, Graf Lambsdorff oder ehemalige japanische Premierminister. Natürlich finden wir dort auch Namen wie Zbigniew Brzezinski, Thorvald Stoltenberg, Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Volker Rühe, Kurt Biedenkopf, Bill Clinton oder George Bush sr. Ein illustrer Kreis eben, dessen Zusammensetzung die Verschwörungstheoretiker in aller Welt zu den wildesten Spekulationen verführt hat. Gibt man und frau im Internet in eine beliebige Suchmaschine den Begriff Trilaterale Kommission ein, landet sie oder er sofort bei Illuminaten und anderen finsteren Mächten, die die Welt in ihrem Griff haben.

Dabei funktionieren Kapitalismus und kapitalistische Machtpolitik völlig anders. Mag sein, daß da mitunter auch die eine oder andere Verschwörung mit im Spiel ist. Aber das ist eine Sichtweise, die mehr auf Karl und Lieschen Müller (oder die Anhängerinnen und Anhänger von Tobi Blubb) zugeschnitten ist. Eine ernsthafte Analyse hilft da doch weiter. Manchmal ist es sogar nützlich, die Schriften der Trilateralen Kommission zu studieren. Daraus ist mehr zu lernen als aus albernen Verschwörungstheorien.

Sherman W. Garnett, Alexander Rahr und Koji Watanabe, die drei Autoren des Berichts Der Kaspische Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung, standen jedoch vor einem Problem. Sie mußten die unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen der drei Machtblöcke USA, Japan und Westeuropa miteinander in Einklang bringen. Offensichtlich war dies nicht möglich, weshalb ihr Bericht an die Trilaterale Kommission eigentlich aus drei Teilen und unterschiedlichen Sichtweisen besteht. Nun ist dies auch im trilateralen Denken kein Schaden. Auf diese Weise werden Probleme pointierter herausgearbeitet, um dann dennoch eine gemeinsame Strategie für die Ausbeutung einer Region zu finden. Natürlich sprechen sie nicht von Ausbeutung oder gar Ausplünderung. Sie sprechen davon, daß alle Beteiligten, inklusive der Auszuplündernden, zu den Gewinnern gehören sollen. Sie sprechen von Reformen und Demokratisierung, von politischer und wirtschaftlicher Stabilität. Aber letztlich geht es dann doch nur um Einfluß, Macht und Öl.

Sherman W. Garnett, Rußlandexperte und ehemaliger Mitarbeiter des US-Kriegsministeriums, versucht daher erst einmal klarzulegen, worin die US-amerikanischen Interessen in der zentralasiatischen Region bestehen könnten. Offensichtlich genießt diese Region nicht gerade höchste Priorität, weshalb sich Garnett eine Strategie überlegt, wie US-amerikanische Interessen trilateral so definiert werden können, daß andere die Kastanien für die USA aus einem möglichen Feuer holen könnten.

Koji Watanabe war in den 90er Jahren erst japanischer Botschafter in Italien und anschließend in Rußland. Heute dient er den Spitzenverbänden der japanischen Wirtschaft als Berater. Da auch Japan keine wirklich eigenständigen Interessen in Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan oder Usbekistan besitzt, sieht er Japans Rolle in der Region eher als eine begleitende. Sozusagen als Infrastrukturmaßnahme, damit sich die Länder der Region an das rauhe westliche kapitalistische Klima gewöhnen können. Ein bißchen Wirtschaftshilfe hier, ein bißchen Förderung des Gesundheitswesens dort. Klingt alles harmlos, hat aber Methode:

Das Hauptziel der [japanischen] Wirtschaftshilfe ist die aktive Unterstützung der Anstrengungen dieser Länder zur Einführung marktorientierter Volkswirtschaften. Ein besonderes Schwergewicht wird bei der technischen Hilfe auf die Entwicklung menschlicher Ressourcen und bei der finanziellen Hilfe auf die Abmilderung der mit dem wirtschaftlichen Reformprozeß verbundenen Schwierigkeiten gelegt. [Trilaterale, Seite 73]

Das liest sich wie eine Drohung. Entwicklung menschlicher Ressourcen, wahrscheinlich weniger durch Klonen, als vielmehr durch die Erziehung der Menschen zu richtigem marktkonformen Denken und Handeln. Und daß der Reformprozeß abgemildert werden muß, ist schon entlarvend genug; doch welche menschlichen Tragödien mit diesem Reformprozeß verbunden sein mögen, das können wir nur erahnen, wenn wir Drittwelt-Verhältnisse zum Maßstab nehmen. Dies abzumildern ist also die japanische Aufgabe bei der Ausplünderung Zentralasiens.

Was machen dann die Europäer? Alexander Rahr, ebenfalls Rußlandexperte, entwirft das leicht konfliktträchtige Szenario aus europäischer Sicht. Und da seit Ende der 60er Jahre mit Beginn der sog. Entspannungspolitik eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und später mit Rußland die außenpolitische Option der EU-Staaten schlechthin ist, sieht Rahr nur die Möglichkeit, mit den Russen zusammen die Region auszubeuten. Konsequent schreibt er:

Europa muß seine Politik gegenüber [den] anderen Regionalmächten - Iran, Türkei, China, ganz zu schweigen von Rußland - deutlicher machen, selbst wenn diese Politik mit der amerikanischen im Konflikt liegt. [Trilaterale, Seite 89]

Denn:

Die Suche nach Erdöl und Erdgas ist aber nicht die Hauptsache in dem neuen Great Game in der Region. Der wahre geopolitische Wettbewerb konzentriert sich auf die Pipeline-Strecken, und dieser Wettbewerb erfordert einen stärkeren politischen Einsatz von der EU. [Trilaterale, Seite 88]

Und das ist ja auch wahr: wer die Pipelines kontrolliert, hat den Hebel am Ölhahn in der Hand. So werden hier vorsichtig unterschiedliche geostrategische Interessen angedeutet. Insbesondere in der Frage der Erdölpipelines. Während die USA ein Projekt befürworten, nämlich eine Pipeline vom Kaspischen Meer zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan unter Umgehung russischen und iranischen Territoriums, ist Rahr pragmatischer. Deutschland hat sowohl gute Kontakte zu Rußland wie auch zum Iran. Und die sollen nicht gefährdet werden.

Damit dieses geostrategische Interesse aber in der öffentlichen Diskussion richtig behandelt wird, müssen andere Vokabeln thematisiert werden: der wahnsinnig gefährliche Drogenschmuggel aus Afghanistan über Zentralasien beispielsweise. (Dabei dachte ich immer, daß die CIA der größte Drogenhändler sei.) Deshalb müsse der Drogenschmuggel an der Quelle bekämpft werden. Als Vorbild nennt Rahr die Antidrogenpolitik der USA in Kolumbien, die ja in Wirklichkeit die Unterstützung der terroristischen Politik des kolumbianischen Militärs gegen jede fortschrittliche Stimme darstellt.

Dann überhaupt der Terrorismus und der Islam - die Schreckgespenster des 21. Jahrhunderts. Hinzu kommt das Bevölkerungswachstum und Migrationsbewegungen aus diesem Gebiet. Und da muß ein Sicherheitsexperte wie Alexander Rahr den Schilys und Stoibers dieser Republik konsequent zuarbeiten. "Diese Themen", so sagt er, "stehen den Alltagssorgen europäischer Bürger so nahe", daß hier dringender Handlungsbedarf besteht. Doch auch hier müssen die Vokabeln richtig übersetzt werden. Das Migrationsproblem ist ja eher das Problem der hermetisch abgeriegelten Festung Europa und nicht das Alltagsproblem von mir oder meinen Hörerinnen und Hörern. Doch mit Rassismus läßt sich eben leicht Politik machen.

Woraus für Alexander Rahr folgt, daß sich die europäische Politik stärker mit der zentralasiatischen Region beschäftigen muß. Zwar gibt es außer Erdöl und Erdgas nicht viel zu holen, aber die Kontrolle der Region sollte man nicht undurchsichtigen korrupten Regimes überlassen, die nicht die richtige Gewähr dafür bieten, die Interessen des Westens angemessen zu beachten. Oder in Orwellscher newspeak: Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand. Zu ergänzen: für die lokalen Machteliten und die internationalen Konzerne.

Und letztlich ist dies auch der Tenor dieses Berichtes an die Trilaterale Kommission.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte -

heute mit einer Sendung, die ich unter das Motto Raubzüge stellen möchte. Hierin habe ich zwei Bücher vorgestellt, nämlich zum einen das Buch

Der Mythos vom guten Krieg von Jacques Pauwels, das die Rolle der USA im 2. Weltkrieg kritisch beleuchtet. Dieses Buch ist im PapyRossa Verlag erschienen und kostet 16 Euro 50.

Zum anderen der Bericht an die Trilaterale Kommission, verfaßt von Sherman W. Garnett, Alexander Rahr und Koji Watanabe. Sein Thema ist Der Kaspische Raum vor den Herausforderungen der Globalisierung. Darin wird die Verantwortung der Trilateralen Staaten für die Stabilität der Region umrissen. Dieses zum Verständnis neuer ideologischer Begründungen für ganz banale Raubzüge nicht uninteressante Buch ist im Verlag Leske + Budrich zum Preis von 14 Euro 90 erschienen.

Und wer mehr über Gladio - Die Geheime Terrororganisation der NATO erfahren möchte, sollte einen Blick in das gleichnamige von Jens Mecklenburg im Elefanten Press Verlag herausgegebene Buch werfen.

http://www.alltagundgeschichte.de/schema.html ist überhaupt die Homepage unserer Redaktion mit Hinweisen auf unsere nächsten Sendungen auf Radio Darmstadt.

 


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