Was wir derzeit erleben, ist die Vorbereitung eines neuen Krieges,
der sich diesmal gegen das eigene Volk wendet.
Die herrschende Klasse glaubt, dass das Volk, die Arbeiterklasse und die Werktätigen und Unterdrückten, derzeit wehrlos zu sein scheint. Es gibt keine starke kommunistische Partei, die Gewerkschaften sind fest in den Händen der korrupten Sozialdemokratie; das sozialistische Lager, das in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg als Systemkonkurrent dazu beitrug, dass der
Kapitalismus sich etwas menschlicher darstellen musste, gibt es in Europa nicht mehr und die Zahl
der Arbeitslosen reicht schon an Höhen heran, wie sie vor dem Faschismus in der
Weltwirtschaftskrise gang und gäbe waren.
Wozu also soziale Wohltaten verteilen, wo das - aus Sicht der herrschenden Klasse -
nichts einbringt? Menschlichkeit? Seit wann spielte das im Kapitalismus eine Rolle?
Also gilt es, was man den Sozialstaat nennt, zu beseitigen. Dass dies von der
Arbeiterklasse erkämpfte Rechte sind - denn all diese "Wohltaten" gab man nicht ohne
Not - verstärkt eher noch den Drang, diese lästigen Kostenfaktoren in der ansonsten
blendend guten Bilanz der Konzerne, zu beseitigen.
Es ist ausgemachte Sache, diesmal erfolgt der Generalangriff auf die sozialen Rechte der
Arbeiterklasse: Renten kürzen, Arbeitslosenhilfe zur Sozialhilfe machen, Alte und Kranke
aus Kostengründen "sozial frühableben" lassen, indem notwendige Behandlungen und
Medikamente nicht mehr bezahlt werden, höhere Selbstbeteiligung an den Kosten der
Krankenbehandlung, sogar Eintrittgeld für Arztpraxen, Abbau der Rechte von
Gewerkschaften und Betriebsräten, auf der anderen Seite noch mehr Steuergeschenke
den Reichen.
Da schwafelt Schröder, Fischer, Merkel, Westerwelle vom Vorziehen der Steuerreform
und rechnen vor, die Kleinverdiener bekämen vielleicht hundert Euro im Jahr weniger
Steuern, verschweigen jedoch, dass die Superreichen das etwa pro Minute weniger an
Steuern zahlen - falls sie überhaupt welche zahlen.
Von Teilen der Basis der Gewerkschaften kommt zwar Widerstand und das ist gut so.
Aber nicht einmal alle Gewerkschaften wenden sich gegen diese Agenda 2010 genannte
Kriegserklärung gegen das Volk. Die Chemie-Gewerkschaft z.B. ist sogar dafür,
hier wird jeglicher Widerstand innerhalb der Gewerkschaft ganz einfach abgewürgt.
Aber auch die Chefs der anderen Gewerkschaften zeigen sich Schröder gegenüber
kompromissbereit. Das Gespenst des Verlustes der Regierungsgewalt der
Sozialdemokraten wird ihnen erpresserisch an die Wand gemalt und sie kuschen.
Schröder und seine Partei sind derzeit genau die richtigen für das Monopolkapital, um
diesen Krieg gegen die sozialen Rechte des Volkes zu führen. Bei einer CDU-Regierung
hätte für die herrschende Klasse die Gefahr eines breiten Widerstands gegen diese
Pläne bestanden.
Die SPD jedoch wird noch immer von vielen Arbeitern als eine Partei verstanden, die
Arbeiterinteressen vertritt. Wenn diese Partei "Einschnitte ins soziale Netz" vornimmt,
wenn sie dies tut um den "Sozialstaat zu retten", dann wird der SPD diese Lüge geglaubt,
einem Kanzler Kohl oder Stoiber würde mit Pfiffen, lautem Geschrei, wenn nicht gar
Demos oder Streiks geantwortet.
Wenn also die herrschende Klasse diesen Krieg ohne nennenswerte Verluste gewinnen
will, braucht sie eine Regierung, die dem Volke vorgaukelt, es geschähe zum Nutzen des
Volkes. Dazu brauchen sie eine sozialdemokratische Regierung.
Dabei spielen die bürgerlichen Parteien geschickt mit verteilten Rollen. Die CDU will z.B.
Zahnersatz aus der Krankenversicherung werfen. Die SPD-Ministerin hält das für unsozial
und will stattdessen das Krankengeld kippen, was wiederum von der CDU/CSU als
unsozial verworfen wird. Die FDP ist sowieso immer dafür, wenn es um Abbau von
Sozialleistungen geht. Die Grünen auch. Nur Ströbele und einige Wenige ertönen im Chor
der "linken" SPD und prangern die ungleiche Verteilung der Lasten an und verlangen,
dass die Reichen auch einige Brotkrumen opfern. Der Millionär soll also ebenso wie der
Sozialhilfeempfänger auf - sagen wir - hundert Euro pro Monat verzichten - wollen die
wackeren SPD-Pseudolinken. Ob sie merken, dass sie da eine üble Rolle der Verwirrung spielen,
kann ich nur vermuten.
Die PDS ist, wo sie an der Regierung ist, die beste SPD die es je gab. Wo sie
Opposition ist, macht sie einen auf soziale Gerechtigkeit. Aber das Spiel wird
durchschaut, bei der Bremer Wahl vor einigen Wochen bekamen sie es mit Brief und
Siegel und verloren über 70 % ihrer Stimmen.
Die Pfaffen, die sich so sozial aufspielten und noch vor Monaten die reinsten
Friedensengel beim Krieg gegen den Irak waren, segnen die Waffen dieses Krieges
gegen die sozialen Rechte des Volkes.
Die Industriebosse spielen sich wieder so auf, dass es unübersehbar wird, wer in diesem
Staat das Sagen hat. Hundt, der für das Grobe zuständige Industrieboss, ließ vor einiger
Zeiten den Spruch los, dass Schröder, wenn er seine Reformen nicht durchsetze, zurück
treten müsse. Der DIHT, der Verein dem der rüde Hundt vorsitzt, maßt sich die
Rechte des Parlaments an. Klar, Hundt wollte mal klarstellen, wo die Macht im Staat zu
Hause ist.
Noch wird der Krieg ohne Militär, nur mittels Verdummung und Verrat geführt. Schröder
und Fischer, die sich während des Irak-Krieges als die Friedensapostel aufspielten,
haben sich in ihrer Partei durchgesetzt und beherrschen die geballte Propaganda der
Medien.
Jedoch sie wissen, dass diese Politik ein für die Herrschenden gefährliches Spiel werden
kann. Wenn die bisherigen Methoden der Unterdrückung nicht mehr greifen, wenn sie also
nicht mehr regieren können und die Massen sich nicht mehr so regieren lassen, dann
kann es zu Situationen kommen, die gefährlich für sie werden. Die neuen
verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr sehen deshalb auch Inlandseinsätze
vor. Bei den Massendemonstrationen von 500.000 in Berlin und Hunderttausenden in
anderen Städten im Februar 2003 wurde von der Regierung schon mit Militär und
Gewalt gegen das eigenen Volk gedroht.
Dem Krieg der herrschenden Klasse gegen das Volk muss das Volk seine Kraft
entgegen setzen - mit Streiks, Demonstrationen, Blockaden, Besetzung aller Regierungsgebäude, Rathäuser, aller Fernseh- und Radiosender, aller Telekommunikationseinrichtungen, Banken, aller Pressegebäude, aller Armee-, Polizei-, und Geheimdienstgebäude und -infrastrukturen (Waffenlager, Flugplätze, Bunker, Schiffe, Kommandoeinrichtungen), aller wichtigen Konzerne und Firmen, Blockaden aller Autobahnen, Häfen, aller Grenzübergänge, aller wichtigen Straßen, aller Flughäfen und Bahnhöfe und Innenstädte und mit anderen Massenaktionen, alles dies gewaltlos. Der gewaltlose Widerstand ist wichtig, um den Bonzen keinen Vorwand zu liefern für Propagandaaktionen.
Den Unterdrückten, den Arbeitern, den Sozialisten, Pazifisten, Kommunisten und anderen fortschrittlichen Kräften obliegt eine besondere Verpflichtung, denn nur sie können den Widerstand, also die Defensive in eine Offensive des Volkes um die Macht im Staat zu machen.
Um es klar zu sagen: sozial gerechten Kapitalismus kann es nicht geben, aber die
sozialen Rechte sind keine Almosen der Bourgeoisie, sondern erkämpfte Rechte. Sie
dürfen nicht kampflos aufgegeben werden. Wir fordern: Die Beseitigung des Kapitalismus und Faschismus und seiner Wurzeln, Entmachtung seiner Vertreter und wahrhaft demokratische Volksregierungen und Volksräte, die im Auftrag des Volkes handeln und nicht im Auftrag von Privilegierten, Oligarchen, Räubern und habgierigen Bestien; wir fordern Volksabstimmungen über alle wichtigen Gesetze, Entscheidungen und Pläne.

World Socialist Web Site

Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Russland : soziale Lage end 11960 --> Druckversion -->

Druckversion

end Druckversion -->

Die Lage der Jugend im kapitalistischen Russland

Von Wladimir Wolkow
22. August 2001
aus dem Russischen

Der enorme soziale Niedergang, der sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland entwickelt hat, wirkt sich in erschreckender Weise auf die Mehrheit der Bevölkerung aus. Mit Ausnahme einer äußerst dünnen Schicht von Privateigentümern und Staatsbeamten sind alle anderen gesellschaftlichen Schichten - Arbeiter, Angestellte, Angehörige der Intelligenz, Studenten, Rentner und die ländliche Bevölkerung - gezwungen, um ihr Überleben und im wahrsten Sinne des Wortes um ihr tägliches Brot zu kämpfen.

In den vergangenen zehn Jahren entwickelte sich Russland zu einem Land mit der höchsten sozialen Ungleichheit in der Welt. Nimmt man den Unterschied zwischen dem Einkommen der reichsten 20 Prozent und der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung als Maßstab, so belegt Russland den Angaben des Human Development Report zufolge den ersten Platz. In Russland verdient das reichste Fünftel der Bevölkerung 14,53 mal so viel wie das ärmste, während dieses Verhältnis in den USA 8,91, in Deutschland 5,76 und in Japan 4,31 beträgt.

Gleichzeitig belegt Russland einen der ersten Plätze in der Rangliste der ärmsten Länder Europas. Das mittlere Jahreseinkommen des ärmsten Fünftels der Russen beträgt 881 US-Dollar. In Estland beträgt es 1.191, in Polen 2.186, in Tschechien 4.426, in Frankreich 5.359 und in den Niederlanden 7.109 US-Dollar.

Selbst überzeugte Antikommunisten müssen jetzt zugeben, dass sich das Leben von Dutzenden Millionen Menschen in den letzten Jahren extrem verschlechtert hat. So schreibt Alexander Zipko, ein gewendeter ehemaliger stalinistischer Ideologe in der Literaturnaja Gaseta: "Wenn man mit seinem Gewissen im Reinen und bei klarem Verstand bleiben will, muss man zugeben, dass unsere antikommunistische Revolution zumindest bis zum heutigen Tage dem Volk wesentlich mehr reale Vorzüge genommen als gegeben hat, und dass sie eine Revolution der Minderheit auf Kosten der Mehrheit im Namen privater eigennütziger Interessen war. Unsere antisowjetische Revolution hat zu einer unglaublichen Zerstörung des gesellschaftlichen Lebens geführt ... Das uns verhasste kommunistische Regime war wesentlich humaner als das, was durch unsere Mithilfe auf dessen Ruinen geschaffen wurde."

In seiner deutlichsten Form zeigt sich der soziale Niedergang des postsowjetischen Russlands an der Lage der älteren Generationen. Diejenigen, die ihr ganzes Leben lang viel und schwer gearbeitet haben, verloren im Ergebnis der "Schocktherapie" und der Inflation all ihre Ersparnisse. Ihre Renten befinden sich - vor allem seit der Finanzkrise vom August 1998 - auf einem Niveau, das höchstens die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse sicherstellt.

Vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit wird der Lage der Jugend gewidmet. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man die Berichte der Medien verfolgt. Dabei wird offensichtlich unterstellt, dass sich junge Menschen besser an die neuen Marktbedingungen anpassen können und in der Lage sind, sich auszubilden und sich aus eigener Kraft eine Stellung in der Gesellschaft zu erarbeiten.

Die Wirklichkeit sieht allerdings weniger rosig aus. Eine der schreiendsten und vernichtendsten Tatsachen der heutigen russischen Wirklichkeit besteht darin, dass der größte Teil der Jugend - gegenwärtig und in absehbarer Zukunft - jeglicher Möglichkeit beraubt ist, eine qualitativ gute Ausbildung und danach eine vernünftig bezahlte Arbeit zu bekommen. Selbst die offizielle Kremlpropaganda verspricht für die nächsten 20 bis 30 Jahre keine wesentlichen Verbesserungen für Millionen einfache Menschen, d. h. für das Leben einer ganzen Generation.

In diesem Sinne sehen die Perspektiven der heutigen jüngeren Bewohner Russlands so düster aus, wie niemals zuvor in der gesamten Nachkriegsgeschichte. In ihrer Masse sind sie nicht nur jeglicher Möglichkeit beraubt, das moderne Konsumtionsniveau zu erreichen, das ihnen von der Werbung so nachdrücklich aufgedrängt wird, ihnen fehlt auch die Atmosphäre relativer Solidarität und des Gefühls kollektiver Gemeinsamkeit, die in der Sowjetunion bei allen Unzulänglichkeiten zum Leben der Mehrheit der Menschen gehörte.

Während die Rentnergeneration, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet hat, ein moralisches Recht empfindet, von der Gesellschaft eine würdige materielle Unterstützung zu erhalten, sehen sich Jugendliche, die gerade die Schule oder die Universität abgeschlossen haben, der Schrankenlosigkeit des Marktes und der sozialen Schutzlosigkeit allein gegenübergestellt. Sie sind gezwungen, ihr Leben unter den Bedingungen eines im vollen Sinne des Wortes darwinistischen Überlebenskampfes zu beginnen.

Diese schockierende gesellschaftliche Realität war anfangs noch durch die Anfang der 90er Jahre aufgekommenen Hoffnungen auf eine Erneuerung überdeckt. Der wirkliche Inhalt der sozialen Veränderungen war dem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht von Anfang an klar. Die Finanzkrise vom August 1998 hat einen Schlussstrich unter diese ursprüngliche Periode der Euphorie gezogen. Jetzt zeitigen die Folgen der zehnjährigen Durchführung kapitalistischer Reformen ihre ersten, wirklich bitteren und schockierenden Früchte.

Hier nur einige charakteristische Grundzüge des modernen russischen Lebens.

· In dem Land mit einer Bevölkerung von 145 Millionen gibt es zwei Millionen Obdachlose.

· Nicht weniger als 270.000 Mädchen und junge Frauen haben etwas mit der Prostitution zu tun. Diese Zahl wurden vom "Runden Tisch" vorgelegt, der Ende vergangenen Jahres in Saratow unter der Bezeichnung "Rechtliche, soziale und moralische Probleme der Prostitution" tagte. Laut den Angaben aus Saratow liegt das Alter der Prostituierten zwischen 18 und 25 Jahren. Die meisten kommen vom Lande. Die meisten davon sind russischer Nationalität, es gibt aber auch Kasachinnen, Tatarinnen, Georgierinnen und Frauen aus Aserbaidschan. 5 Prozent sind verheiratet und 7 Prozent haben Kinder. 6 Prozent haben eine höhere Ausbildung, 50 Prozent eine mittlere. ( Sewodnja, 3. Januar 2001)

· Den Angaben der Arbeitsbehörde zufolge arbeiten nur ungefähr 20 Prozent der Hochschulabgänger in ihrem Beruf. Für St. Petersburg beträgt diese Zahl sogar nur 15 Prozent.

Die Petersburger Studentenzeitung Gaudeamus widmete dieser Besonderheit einen Artikel, der zum Schluss kam, dass es zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildung kaum Berührungspunkte gibt. Im Laufe der 90er Jahre hatten Jura, Management und Ökonomie zu den populärsten Studiengängen gehört, nun gibt es ein Überangebot derartiger Spezialisten. "Jetzt stehen Jura und Ökonomie", schreibt Gaudeaumus, "auf einer so genannten ‚schwarzen Liste‘ der Ausbildungsrichtungen mit den geringsten Anforderungen. In dieser Liste sind ebenfalls Management, Buchhaltung, Finanzen und Controlling aufgeführt." Im Grunde bedeutet das, dass ein bedeutender Teil der Studienabgänger der letzten Jahre niemals in ihrem Beruf arbeiten wird.

Zur Zeit gibt es laut Gaudeaumus eine erhöhte Nachfrage nach Spezialisten in der Textil-, der Bau- und der Lebensmittelbranche sowie im Ingenieur- und technischen Bereich. Das ist aber weder mit einer grundlegenden Ausweitung des Arbeitsmarktes noch mit einer Erhöhung des Lohnniveaus verbunden. Geringfügige Verbesserungen in einigen Sektoren des Arbeitsmarktes können nicht das Beschäftigungsproblem der Jugend als Ganzer lösen.

Auch der Gang in die Selbständigkeit bietet keinen Ausweg. War es Anfang der 90er Jahre noch relativ einfach, eine neue "Firma" zu eröffnen, so hat die Zahl privater Unternehmen ungefähr in der Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt erreicht. Seitdem fällt ihre Anzahl unaufhörlich und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sich diese Tendenz verändert. Die fortschreitende Konzentration von Eigentum in den Händen einiger Weniger treibt den Niedergang der kleinen Privatunternehmen und Kleinbauern eher voran.

Die perspektivlose Lage der heutigen russischen Jugend führt zu einem Anwachsen der Unzufriedenheit und verschärft das Bedürfnisses nach grundlegenden "Veränderungen".

Angesichts des Fehlens jeder gesellschaftlichen Perspektive äußert sich diese Unzufriedenheit nicht selten in zerstörerischen, antisozialen und reaktionären Stimmungen. Soziologen weisen in erster Linie auf das Anwachsen von Aggressivität, Alkoholismus, Drogensucht und Kriminalität hin. Auch nationalistische oder sogar faschistische Demagogen machen sich die verzweifelte Lage der Jugend zunutze. Verschiedenen Angaben zufolge war ausgerechnet Schirinowski Anfang der 90er Jahre einer der bekanntesten Politiker unter Schülern der russischen Provinz.

In einer wesentlich ausformulierteren Form fanden ähnliche Stimmungen innerhalb der Jugend ihre Widerspiegelung in Filmen wie Brat-1und Brat-2[ Bruder-1 bzw.-2], in denen der junge Hauptheld bei seinem Zug durch Tschetschenien seine Feinde unbarmherzig "fertig macht", wo Juden und Ukrainer dämonisiert werden und die nationalistische Losung, "Man muss in Russland und nicht in Amerika leben", das wichtigste Leitmotiv ist.

Die Zeitung Nesawissimaja Gaseta(28. Juni 2001) weist allerdings darauf hin, dass vor allem das "junge Business" Träger der nationalistischen Stimmungen ist, der nationalistische Schwenk also insbesondere jene berührt, die selbständig unternehmerisch tätig sind, und nicht so sehr die Mehrheit. Im Ganzen sind die Stimmungen unter den Jugendlichen sehr instabil und können sich schnell ändern.

Siehe auch:
Der schreckliche Preis der kapitalistischen Restauration
(3. Januar 2001)
Soziale Krise in Russland nimmt afrikanische Ausmaße an
( 27. Oktober 1999)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!

World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11900 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Europa : Osteuropa end 11900 --> Druckversion -->

Druckversion

end Druckversion -->

Ukraine: 10 Jahre Unabhängigkeit - eine soziale Katastrophe

Von Andy Niklaus
24. August 2001

Wenn am heutigen Freitag in der Ukraine die Fahnen geschwenkt und Festreden über die nationale Identität gehalten werden, kann dies nicht über die soziale Katastrophe hinwegtäuschen, die sich in den zehn Jahren seit der "Unabhängigkeit" entwickelt hat.

Mit Prunk und Gloria wollen Staatspräsident Leonid Kutschma, der russische Staatspräsident Wladimir Putin, der neue russische Botschafter in Kiew und ehemaliger Gazprom-Vorsitzende Wiktor Tschernomyrdin sowie der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski und andere Staatsgäste den zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit feiern.

Als am 24. August 1991 die unabhängige Ukraine ausgerufen wurde und am ersten Dezember desselben Jahres neunzig Prozent der Bevölkerung dies in einer Abstimmung bestätigten, erhofften sich davon nicht wenige eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und mehr Demokratie. Wenige Tage später besiegelten dann der erste ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, der russische Präsident Boris Jelzin und das weißrussische Staatsoberhaupt Stanislaw Schuschkjewitsch mit der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) endgültig die Eigenstaatlichkeit der Ukraine.

Seiher bemüht man sich krampfhaft, Schulkindern ein Nationalbewusstsein anzuerziehen. Der 24. August steht dabei im Zentrum der "Aufklärung". In einem Geschichtsbuch für 12-Jährige werden die Kinder aufgefordert, die Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 zu "ehren", den entstandenen Nationalstaat zu "lieben, zu hegen und seine Macht zu stärken" und das "Wahre" gegen das "Falsche, das Sowjetische" zu verteidigen.

Mangels einer eigenen nationalstaatlichen Tradition - das heutige Staatsgebiet der Ukraine war Jahrhunderte lang zwischen Litauen, Polen und Russland umkämpft und gehörte ab dem 19. Jahrhundert fast vollständig zum zaristischen Russland - wird auf vorchristliche Zeiten zurück gegriffen, um den Nationalismus zu begründen. "Bei der Formierung der ethnischen Zusammensetzung des ukrainischen Wesens", fährt das Schulbuch fort, habe "zweifellos die Tryella-Kultur" aus dem Jahre 4000 bis 2000 vor Christi eine außerordentliche Bedeutung gehabt. Das mache den "ukrainischen Menschen" dem "Weißrussen und Russen" überlegen, der Ukrainer verstehe mehr vom "Demokratismus" und habe schon "damals", in der vorchristlichen Welt, große internationale Autorität besessen.

Diese nationalistische Getöse kann allerdings nicht die Tatsache verdecken, dass die Abeiterklasse einen schrecklichen Preis für die Unabhängigkeit bezahlt hat. Ebenso wie in allen anderen, aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten und Russland selbst hat sich auch in der Ukraine gezeigt, dass staatliche Unabhängigkeit und kapitalistische Restauration keine Alternative zur wirtschaftlichen Stagnation darstellen, die das Endstadium der Sowjetunion kennzeichnete. Im Gegenteil, die herrschende Bürokratenschicht hat damit das Zerstörungswerk vollendet, dass sie in den zwanziger Jahren mit ihrem Aufstieg unter Stalin begonnen hatte.

Die Initiative zur Unabhängigkeit ging von den Spitzen der herrschenden Bürokratie selbst aus. Angesichts einer tiefen gesellschaftlichen Krise schufen sie sich mit der Einführung kapitalistischer Eigentumsformen eine neue gesellschaftliche Grundlage. Teile der alten stalinistischen Führungsschicht mauserten sich, unterstützt von den Bankern und Politikern der westlichen Welt, durch Betrug und Diebstahl zur neuen Elite. Dabei zerschlugen sie nicht nur die staatlichen Strukturen der Sowjetunion, sondern auch alle ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften, die letztlich ein Erbe der Oktoberrevolution waren, und erzeugten eine unbeschreibliches Maß an sozialer Ungleichheit.

Die Ukraine hat als größter Flächenstaat Europas fast 50 Millionen Einwohner. Von diesen besitzen 2 Prozent mehr als 94 Prozent des nationalen Reichtums. Diesen wenigen Neureichen steht die Masse von Besitzlosen gegenüber.

Wachsende Armut

46 Prozent der Bevölkerung verdienen heute weniger als 2 Dollar am Tag. Dem stehen westeuropäischen Preise für die meisten Lebensmittel und Textilien gegenüber. Die Löhne für Arbeiter haben sich seit 1990 um 70 Prozent verringert. Doch während der durchschnittliche Monatslohn 1999 noch 47 Dollar betrug, lag der Durchschnittslohn im ersten Quartal 2000 bei nur noch 39 Dollar. Die Rente lag 1999 noch bei 16 Dollar im Monat. Die Mindestrente wird nunmehr mit 15 Dollar beziffert, ein Viertel des Existenzminimums, das offiziell mit 54 Dollar angegeben wird. Die landwirtschaftliche Produktion hat sich gegenüber 1990 halbiert. Die meisten Bewohner von Großstädten versuchen bei Verwandten oder in ihren Vorstadtgärten selbst Gemüse anzupflanzen, um zu überleben.

Laut offiziellen Quellen liegt die Arbeitslosigkeit bei über zwei Million oder 11,4 Prozent. Die Dunkelziffer ist laut Experten aber weitaus höher. Trotz eines Anstiegs des Bruttosozialprodukts von 9,4 Prozent in diesem Jahr beträgt das Bruttoinlandsprodukt heute 60 Prozent weniger als zu Sowjetzeiten. Die Industrieproduktion, die in diesem Jahr um 18,8 Prozent stieg, liegt immer noch 70 Prozent unter dem Niveau von 1991.

In der Ukraine leben heute über 1,5 Millionen Kinder auf der Straße. Die Sterberate junger Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren ist rasch angestiegen. Das früher hohe Niveau der Schulbildung ist enorm gesunken.

Von den geschätzten zwei Millionen Frauen, die international im Frauenhandel geschmuggelt und zur Prostitution gezwungen werden, kommen 40% aus Osteuropa, über 100.000 davon aus der Ukraine. 70-80 Prozent davon sind Mädchen unter 18 Jahren. Die meisten der nur 37 Ermittlungsfälle wegen Frauenhandel, die in der Ukraine in den letzten drei Jahren angestrengt wurden, endeten mit Freisprüchen.

In der Ukraine sterben Menschen bei dem Versuch, Hochspannungsleitungen zu stehlen, um das darin enthaltene Kupfer zu verkaufen. Die Lebenserwartung für Männer ist von 67 Jahren auf 58 Jahre gesunken. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Seit den Anfangsjahren der Sowjetunion besiegte Krankheiten wie Tuberkulose, schwarze Pocken, Gelbsucht, Typhus und Cholera treten immer häufiger wieder in Erscheinung.

So veröffentlichte am Dienstag der Fernsehsender Ukraina Novyy Kanal in der Ostukraine eine Erklärung der Millionenstadt Dnipropetrowsk, wonach sich in der Stadt eine Tuberkulose-Epidemie ausbreite. Bisher erkrankten 17.000, darunter 9.000 Kinder, wobei die Dunkelziffer weitaus höher vermutetet wird. Der stellvertretende Bürgermeister Vasyl Povkow erklärte im Fernsehen, das "bereits 170 Menschen in diesem Jahr der Tuberkulose erlegen sind". Das sind doppelt so viele wie im Vorjahr.

Im Grenzfluss zwischen Moldawien und der Ukraine, dem Dnestr, wurde vergangene Woche das Cholera-Gen "El Tor Vibrio" entdeckt, das bei einer etwas höheren sommerlichen Wassertemperatur zum Auslöser einer Cholera-Epidemie werden kann. Das Dnestr-Gebiet ist ein Kur- und Erholungsgebiet mit internationalem Ruf. Seit 1996 ist dies der fünfte derartige Fall.

"Ein zweites Tschernobyl"

Der Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids in Osteuropa und den GUS-Staaten erhöhte sich innerhalb des Jahres 2000 von 420.000 auf über 700.000 Fälle. Dramatisch angestiegen ist die Zahl in der Ukraine und Russland, wo sie sich mehr als verdoppelt hat. Ende 2000 waren es etwa 300.000 Fälle, im Jahr zuvor noch 130.000.

In der Ukraine haben sich laut einem Bericht der Vereinten Nationen (Unaids) im vergangenen Jahr mehr als 240.000 angesteckt. Mitte Juni gab die UNO in Kiew bekannt, dass dort inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen infiziert sind.

Der Vorsitzende des ukrainischen Komitees zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht und zur Vorbeugung gegen Aids, Waleri Iwasjuk, hatte schon 1997 vor einem "zweiten Tschernobyl" gewarnt. Die erste deutliche Zunahme war zwischen 1995 und 1996 zu beobachten, als sich die Infektionen innerhalb eines Jahres verzehnfachten. Das HIV-Virus breitet sich seitdem in Osteuropa schneller als anderswo auf der Welt aus, wie die polnische Wochenzeitung Polityka unter Berufung auf internationale Statistiken schreibt. Besonders viele Fälle werden aus den Zentren der Schwerindustrie in Donesz, Charkow und Dnipropetrowsk sowie von der Krim gemeldet.

Laut der Unaids werden im Jahre 2010 sechs Prozent der ukrainischen Bevölkerung mit AIDS infiziert sein. Als Gründe dafür nennt der Bericht: "Keine öffentliche Aufklärung, Armut und Arbeitslosigkeit sowie der Zugang zu billigen Drogen haben diese dramatische Entwicklung hervorgebracht".

Katastrophen in der Industrie

Das jüngste Beispiel des wirtschaftlichen Niedergangs seit der Unabhängigkeit ist eine ganze Serie von Methangasexplosionen in ukrainischen Bergwerken.

Am vergangenen Sonntag verbrannten 37 Bergarbeiter aus dem Doneszgebiet in der südostukrainischen Stadt Zasiadko bei einem Feuer im größten Bergwerk der Ukraine. Dutzende von Arbeitern wurden mit schweren Verbrennungen in die Krankenhäuser eingeliefert. Viele schweben noch in Lebensgefahr. Zehn der Bergleute werden noch immer vermisst. Für sie besteht keine Hoffnung mehr, da das Feuer in 1200 Meter Tiefe mit dem vorhandenen technischen Gerät der Feuerwehr nicht gelöscht werden kann. Auch kann die Feuerwehr das Feuer nicht mit Wasser löschen, da die Grube sonst geflutet würde.

Im gleichen Bergwerk waren schon im Mai 1999 41 Bergleute bei einer Explosion zu Tode gekommen. Die ukrainischen Bergwerke gelten nach den chinesischen als die unsichersten der Welt. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine kürzte jede Regierung die Subventionen im Bereich der Sicherheit und der Beschaffung von neuer Ausrüstung, was zur ständig steigenden Anzahl von Unfällen führte. Laut offiziellen Zahlen starben im letzten Jahr 318 Bergarbeiter und in diesem Jahr sind es schon 121.

Die Bergarbeiter von Zasiadko stehen unter starkem Druck seitens der Geschäftsleitung und der Regierung Kutschma, da das Jahresziel von 4 Millionen Tonnen Kohle erreicht werden soll. Mit dem Erreichen dieses Abbauziels steigen auch die Chancen für eine erfolgreiche Privatisierung, ließ die Geschäftsleitung die Arbeiter wissen.

In anderen Bereichen der Wirtschaft sieht es genauso aus. An jedem Tag des letzten Jahres verletzten sich 95 Arbeiter, 30 davon so schwer, dass sie auf Dauer körperlich behindert bleiben. Diese offizielle Statistik veröffentlichte das Arbeitsministerium in Kiew. Insgesamt verloren 1325 Arbeiter im letzten Jahr ihr Leben am Arbeitsplatz. 800.000 Mechaniker haben keine ausreichenden Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz. Rund 9000 Fabriken sind in einem gefährlichen Zustand. Eine kurze Überprüfung ergab, das 37.000 Arbeiter gesundheitlich gefährdet sind.

Pressezensur und demokratische Rechte

Ein Sozialwissenschaftler aus Moskau meinte kürzlich, die stark behinderte Presse Russlands blühe "in vollster Demokratie", wenn man sie mit der Pressefreiheit der Ukraine vergleiche. Dort werden unliebsame Zeitungen, TV- und Radiostationen mit hohen Steuern belegt oder mit fingierten und falschen Unterlagen versorgt, um sie auszuschalten.

Wenn dies nicht funktioniert, werden Journalisten ermordet oder verschleppt. Der bekannteste Fall war der Mord an Georgij Gongadse vor einem Jahr, der sich bis April dieses Jahres zu einer Staatskrise ausweitete. Gongadse, ein ehemaliger Mitarbeiter Kutschmas, hatte Dokumente veröffentlicht, die diesen kompromittierten.

Wie die Journalistengewerkschaft mitteilte, sind in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit bisher 41 Journalisten durch Gewalt ums Leben gekommen. Teils fielen sie mysteriösen Unfällen zum Opfer, teils wurden sie auf offener Strasse erschossen. Weder die Täter noch die Auftraggeber wurden je ermittelt.

Der jüngste Fall ist der brutale Mord an dem TV-Journalisten Igor Alexandrow aus der ostukrainischen Stadt Slowyansk nahe der Großstadt Donesz. Er wurde am 4. Juli von mehreren Schlägern mit Baseballschlägern in seinem Büro totgeschlagen. Alexandrow hatte in seiner Sendung Tor über die Korruption und Verschwörungen zwischen Polizei, Industriekapitänen, Politikern und einem Oligarchen aus Donesz berichtet.

Politische Verhältnisse

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine prägen Intrigen und ständige Machtkämpfe zwischen verschiedenen Flügeln der ehemaligen stalinistischen Elite das "demokratische" Bild des Parlaments.

Die Karriere des Präsidenten Leonid Kutschma ist exemplarisch für den Aufstieg vom alten engstirnigen Bürokraten zum selbstsüchtigen Vertretern des Kapitals. Kutschma, als Geheimdienstmann jahrelang Direktor der größten und damals wichtigsten Raketenfabrik in Dnipropetrowsk, stützte sich seit Beginn seiner Machtübernahme 1994 auf verschiedene Gruppen aus allen politischen Lagern - von Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberalen, Konservativen über Grüne bis hin zu rechten Ultranationalisten.

Seit April bilden Kommunisten und russlandnahe Oligarchen seine wichtigste parlamentarische Basis. Die Gongadse-Krise überlebte er nur dank dieser Gruppierungen. Sie organisierten im April eine Mehrheit im Parlament und setzten mit einem Misstrauensvotum den eher westlich orientierten ehemaligen Banker Juschtschenko als Ministerpräsident ab.

Keine der politischen Fraktionen und Gruppen im 445 Sitze starken Parlament (Rada), weder in Kutschmas Bündnis noch im neuen Siebenparteienbündnis der Oppositionsführer Julia Timoschenko (Mutterlandspartei) und Alexander Moros (Sozialistische Partei der Ukraine (SPU)), vertritt die Interessen der breiten Bevölkerung.

Julia Timoschenko, auch "schöne Julia" oder "Gasprinzessin" genannt, ist Millionärin und stammt ebenfalls aus dem Clan von Dnipropetrowsk. Dieser Clan übernahm Mitte der 90er Jahre die politische Macht in der Ukraine, spaltete sich jedoch später in verschiedene Teile. Timoschenko war Direktorin eines der größten Energieunternehmen, bevor sie unter Kutschma als Energieministerin die Gaswirtschaft reorganisierte. Im Januar dieses Jahres wurde sie abgesetzt und lief zur Opposition über. Seither besitzt sie die Sympathien westlicher Banken und Politiker und wird als ernst zu nehmende Kandidatin für die Wahlen im März nächsten Jahres angesehen.

Die derzeit größte Partei ist die alte Kommunistische Partei der Ukraine (KPU). Sie erreicht als einzige einen Wähleranteil von bis zu 25 Prozent und belegt zur Zeit 112 Sitze im Parlament. Ihren Einfluss nutzte sie schon mehrmals zur Aufrechterhaltung der politischen Stabilität in Krisenzeiten. Immer wenn die soziale Lage sich zuspitzt - wie während der Bergarbeiterproteste 1998 oder der Gongadse-Krise - verteidigt die KPU den Status Quo.

Siehe auch:
Der Tod von Georgij Gongadse
(20. Januar 2001)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11910 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Europa : Osteuropa : Polen end 11910 -->

Polens soziale Lage zum Zerreißen gespannt

Von Brigitte Fehlau
6. Oktober 1999

Die extremen Sozialkürzungen, mit denen die polnische Regierung die Bedingungen für einen EU-Beitritt erfüllen wollte, haben seit Jahresbeginn immer wieder starke Proteste ausgelöst. Einmal gingen die Bauern auf die Straße, ein anderes Mal die Bergarbeiter, Stahlarbeiter oder Krankenhausbeschäftigten. Erst vor einer Woche protestierten 30.000 in Warschau gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Buzek-Regierung, die sich aus einer Koalition von AWS (Wahlaktion Solidarnosc) und UW (Freiheitsunion) zusammensetzt. Beide Organisationen bestehen fast ausschließlich aus ehemaligen Mitgliedern und Führern der Gewerkschaft Solidarnosc.

1997 hat die Koalition aus AWS/UW die Regierung übernommen und sich das Ziel gesetzt systematisch alle Wirtschaftsbereiche zu sanieren. Heute ist die soziale Lage in allen Bereichen so angespannt wie noch nie und die Regierung so verhasst wie keine ihrer Vorgängerinnen seit 1989. Nach jüngsten Meinungsumfragen wünschen 45 Prozent der Polen den Rücktritt Buzeks. Sein Wahlbündnis AWS, das in den vergangenen Wahlen 33,8 Prozent erhielt, steht heute bei 17 Prozent. Die Freiheitsunion würde heute statt 13,4 nur noch 10 Prozent der Stimmen erhalten.

Von den Kandidaten für die EU-Osterweiterung wurde Polen in der Vergangenheit stets am positivsten beurteilt, nun aber macht sich Skepsis breit. Anlässlich eines Besuchs des Präsidenten der EU-Kommission Prodi vergangene Woche in Polen erklärte Jan Kulakowski (Chefunterhändler mit der EU), dass Polen nun nicht mehr unbedingt einen Beitritt zum Ende des Jahres 2002 anstrebe. Man sei schon zufrieden, wenn der EU-Gipfel in Helsinki im Dezember irgend ein festes Datum nenne. Ungenannte "westliche Diplomaten" werden mit den Worten zitiert, der wirkliche Grund für diese Kehrtwende seien die extremen inneren Spannungen in Polen infolge des Versuchs, den EU-Beitrittskriterien gerecht zu werden.

Schaut man sich die Situation in der Landwirtschaft, der Stahlindustrie, dem Bergbau oder dem öffentlichen Dienst genauer an, so schwebt alles über dem Abgrund.

Für den größten Teil der Polen ist die Lage alles andere als rosig: Arbeitslosigkeit, Löhne, von denen man sein Leben nicht bestreiten kann, Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, Verschlechterung der Schulausbildung, völlige Perspektivlosigkeit auf dem Lande.

In nahezu jedem Wirtschaftszweig gibt es fast unüberwindliche Probleme, da Polen mit seiner veralteten Landwirtschaft, dem Bergbau, der Stahl- und Werftindustrie nicht konkurrenzfähig produzieren kann, und jede Maßnahme, die Wirtschaft zu modernisieren um die Anforderungen des Weltmarktes zu erfüllen, heftige soziale Konflikte auslöst.

Immer wieder hat die Buzek-Regierung angesichts anhaltender Proteste großer Teile der Bevölkerung Zugeständnisse gemacht. So ist die von der Weltbank geforderte Sanierung des Steinkohlebergbaus noch nicht annähernd erreicht worden, weshalb die Weltbank in dieser Woche bekannt gab, ihre Kreditzahlungen an Polen vorläufig auszusetzen. Sie fordert einen umfassenden Stellenabbau, vor dem Polens Regierung aus Angst vor der Reaktion der Bergleute bisher zurückgewichen ist. Von den ursprünglich 67 Gruben sind immer noch 53 in Betrieb. Im Juni diesen Jahres gab die Regierung einen Abfindungsplan bekannt. 44.000 Zloty (ca. 22.000 Mark) wurde den Bergleuten angeboten, die ihren Arbeitsplatz freiwillig aufgeben. Mit der Annahme dieser Prämie, deklariert als Starthilfe in die Selbständigkeit, sollte jeder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verwirkt sein. Trotzdem meldeten sich 17.000 Bergleute, worauf das Programm sofort gestoppt wurde, mit der Begründung, dass gar nicht genügend Geld für die Auszahlung der Abfindungen vorhanden sei. Viele erhielten daher statt des Geldes einen Wechsel auf einen Teilwert der Grube.

Die Landwirtschaft macht einen nicht unerheblichen Teil der polnischen Wirtschaft aus. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche nimmt 18,5 Mio. Hektar ein, was etwa 59,1 Prozent der Gesamtfläche Polens ausmacht. Weit über ein Drittel der Bevölkerung lebt auf dem Land und die meisten sind mangels anderer Industriezweige von der Landwirtschaft abhängig. Das heißt aber nicht, dass es für sie Arbeit gibt, sondern gerade auf dem Land steigt die Arbeitslosigkeit unaufhörlich an. In einem Bericht des polnischen Handelsrates von 1996 heißt es dazu bereits: "Charakteristisch für den Arbeitsmarkt auf dem Lande ist die latente Arbeitslosigkeit unter den Landleuten..."

Die Lage der einfachen Landarbeiter und die der Bauern selbst unterscheidet sich in sozialer Hinsicht kaum voneinander. Millionen polnischer Bauern leben am Rande des Existenzminimums oder darunter. Das Durchschnittseinkommen auf dem Land ist um 60 Prozent niedriger als in der Stadt. Selbst die 10 Prozent der Landwirte, die in der Statistik als "gut verdienend" geführt werden, kommen gerade mal auf einen Gewinn von ca. 2.800 Mark im Jahr.

Die Aussicht auf einen EU-Beitritt Polens, verbunden mit der Hoffnung auf Subventionen, hatte unter den Großbauern zu Anfang Unterstützung gefunden. Nicht wenige von ihnen nahmen Kredite auf um ihre Höfe zu modernisieren. Nun droht ihnen jedoch der Konkurs, denn sie können die Kredite nicht mehr abbezahlen.

Die Hälfte der Höfe gehören zu der Kategorie Kleinbauern mit einem Hektar Land, auf dem Kartoffeln und Kohl angebaut werden, einer Kuh und ein paar Schweinen im Stall. Es gibt keine anständige Versorgung mit Wasser; Telefon besitzen in der Gemeinde nur der Pfarrer und der Ortsvorsteher.

Für die Kinder und Jugendlichen gibt es keinerlei Perspektive, denn es fehlt an Schulen und Arbeitsplätzen in anderen Wirtschaftszweigen. Als Folge davon wachsen Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und der Alkoholismus.

46 Prozent der polnischen Landwirte lehnen mittlerweile einen EU-Beitritt Polens ab. Sie fürchten ein Massensterben ihrer Höfe. Dies ist sicherlich realistisch, weil die EU nicht mehr bereit ist, die Subventionen für die Bauern in den alten Mitgliedsstaaten weiter zu bezahlen wie bisher, geschweige denn diese Art von Unterstützung für die Beitrittskandidaten aus dem Osten überhaupt erst einzuführen. Gleichzeitig überschwemmt die EU Osteuropa gegenwärtig mit billigen Lebensmitteln. Für die polnische Landwirtschaft sind im Zuge dessen die für sie so wichtigen Exportmärkte in der Ukraine und Russland völlig weg gebrochen, was zur Folge hat, dass die polnischen Bauern kaum noch etwas verkaufen können, die Preise in den Keller gefallen sind und sie ihre Kosten nicht mehr decken können.

Der Unmut über diese Zustände entlud sich zu Beginn dieses Jahres, als Bauern mit Straßen- und Grenzblockaden für eine Verbesserung ihrer sozialen Lage protestierten und sich dabei Schlachten mit der Polizei lieferten. Organisiert wurden die Proteste von der "Land-Solidarität", dem Bauernverband und Samoobrona (Selbstverteidigung). Sie forderten einen Import-Stopp von Fleisch, Getreide und Milchprodukten sowie höhere Preise für ihre Produkte. Der Preis für 1 Kilo Schweinefleisch war inzwischen auf umgerechnet 90 Pfennig gesunken, Käufer gab es trotzdem nicht. So war die Regierung gezwungen, selbst Schweinefleisch in großen Mengen aufzukaufen und eine Reform der Landwirtschaft zu versprechen, um die Bauern von der Straße zu bekommen.

Extrem nationalistisch und dabei bemüht sich als der Wortführer aufzuspielen trat während der Proteste Andrzej Lepper auf. Er ist eine schillernde Figur, war vor 1989 Mitglied der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei und Leiter zweier landwirtschaftlicher Produktionsgemeinschaften. Lepper gründete 1991 zusammen mit anderen, wie er selbst hochverschuldeten Landwirten den Bauernverband "Samoobrona". Seitdem versucht er systematisch seinen Einfluss unter den Bauern, aber auch unter Berg- Stahl- und Werftarbeitern auszubauen, indem er sich als deren Verteidiger aufspielt. Er wettert gegen die Fremdbestimmung Polens und gegen den Ausverkauf Polens durch die gegenwärtige Regierung: "Beim Konzept der Rückkehr Polens nach Europa geht es um nichts anders als um die fortschreitende Degradierung Polens auf den Rang eines EU-Hinterlandes." "Was Bismarck und Hitler mit Gewalt nicht geschafft haben, wird den Deutschen jetzt mit Samthandschuhen gereicht: Polen."

Sein Programm mit dem Titel "Der dritte Weg" orientiert sich stark an China. Dort blieben die Unternehmen trotz Privatisierung in nationaler Hand, d.h. Ausländer können nur 49 Prozent an Aktienbeteiligungen erwerben.

Im Laufe diesen Jahres hat er einige Unterstützung unter den Bauern gewonnen, "Somoobrona" soll mittlerweile 500.000 Mitglieder haben, und Lepper strebt sogar an bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.

Die Buzek-Regierung steckt seit Wochen in einer tiefen Krise. Im Bankrott dieser Regierung liegt auch die Gefahr, dass solche Figuren wie Lepper aufsteigen und weitere Unterstützung gewinnen können.

Unter dem Druck der gesellschaftlichen Opposition zersplittert das regierende Wahlbündnis in seine Einzelteile, was zunächst die Form des "polnischen Stasi-Skandals" annahm. Die gesamte Spitze des Innenressorts wurde inzwischen ausgewechselt. Innenminister Janusz Tomaszewski (AWS) musste im September zurücktreten, nachdem herausgekommen war, dass er vor seinem Amtsantritt Kontakte zum Geheimdienst (Stasi) SB verschwiegen hatte. Danach übernahm Janusz Palubicki (AWS), der als Oppositioneller unter dem Stalinismus mehrfach inhaftiert war, kommissarisch das Amt. Palubicki entließ sofort den stellvertretenden Innenminister Wojciech Brochwicz sowie General Slawomir Petelicki, den Kommandeur einer Spezialeinheit namens "Grom" ("Donner"). Ausgerechnet führende Politiker der Freiheitsunion nennen Palubicki einen "jedes Augenmaß verlierenden antikommunistischen Eiferer", der zu einem Stabilitätsrisiko werde. Denn offenbar wartet die Presse täglich mit neuen Einzelheiten in einer Schlammschlacht auf, wer früher alles Stasi-Kontakte hatte.

Im Zusammenhang mit den schlechten Meinungsumfragen und Protesten fordert die Freiheitsunion nun ultimativ eine Regierungsumbildung und die Entlassung des Vorsitzenden der Sozialbehörde Stanislaw Alot, der von der AWS unterstützt wird. Wenn dies in einer Woche nicht gelinge, müsse Buzek abgelöst werden.

An fast jeder Regierung seit 1989 waren die Führer der damaligen Gewerkschaft Solidarnosc beteiligt, die Anfang der achtziger Jahre die Proteste und Streiks gegen das stalinistische Regime Polens angeführt hatten. So hatte der heutige Finanzminister Leszek Balcerowicz (UW) schon in vier Regierungen dieses Amt inne, so auch in der ersten von Solidarnosc geführten Regierung unter Mazowiecki, als er mit seiner Politik der Schocktherapie weite Teile der Bevölkerung an den Rand des Existenzminimums brachte, um die Schulden an die westlichen Banken zu begleichen.

Siehe auch:
Gesundheitswesen als Wirtschaftsfaktor - Beispiel Polen
(21. Juli 1999)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 03000 -->WSWS : WSWS/DE : Soziales end 03000 --> Druckversion -->

Druckversion

end Druckversion -->

Der schreckliche Preis der kapitalistischen Restauration

Zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Osteuropa und den GUS-Staaten

Von Elisabeth Zimmermann
3. Januar 2001

Etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion (den heutigen GUS-Staaten) zwischen fünf und 14 Jahre alt waren, leben heute nicht mehr.

Zu diesem schrecklichen Ergebnis kommt das Innocenti Research Centre, Florenz, Italien, das im Auftrag des UN-Kinderhilfswerks Unicef eine Studie über Junge Leute in sich verändernden Gesellschaften erstellt hat. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Situation der 65 Millionen jungen Leute im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, der sogenannten "Übergangsgeneration", in den 27 Ländern Osteuropas und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (den Ländern, die früher Bestandteil der Sowjetunion waren) seit 1992.

Während die Autoren des Berichts die Ursache für die furchtbare Situation von Millionen Kindern und Jugendlichen und natürlich auch der Bevölkerung insgesamt in dieser Region nicht beim Namen nennt, sind die Fakten, die der Bericht zusammenträgt, selbst die größte Anklage gegen die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Der vollständige Bericht mit zahlreichen Grafiken und statistischem Material ist in englischer und russischer Sprache erhältlich, eine Zusammenfassung auch in italienisch. (http://www.unicef-icdc.org)

In ihrem Vorwort weisen die Verfasser der Studie darauf hin, dass der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden für die Generation, die diesen Übergang seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und den damit verbundenen ökonomischen und politischen Veränderungen erlebt, ohne Beispiel ist: "Die heutige junge Generation erlebt, dass Institutionen, Ressourcen und soziale Normen, die früher den Übergang von einer Generation zur nächsten erleichterten, entweder schwach sind, sich im Prozess grundlegender Veränderung befinden oder gar nicht mehr existieren."

Von der gesamten jugendlichen Bevölkerung der untersuchten Region (insgesamt 65 Millionen) befanden sich 1999 26 Millionen (41 Prozent) in der Schule und Ausbildung, 21 Millionen (32 Prozent) arbeiteten, 18 Millionen (27 Prozent) befanden sich weder in Ausbildung noch hatten sie Arbeit.

1989 lebten 67 Millionen Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren in der untersuchten Region. Etwa eine Million von ihnen hatte diese Region bis 1999 verlassen. Nur wenige von ihnen haben es geschafft, bessere Verhältnisse in anderen Teilen der Welt zu finden. Andere wurden aufgrund völliger Mittellosigkeit und bitterer Not in Fronarbeit und den Sexhandel gezwungen. Es gab auch größere Wanderungsbewegungen innerhalb der Region, meistens verursacht durch wirtschaftliche Härten, ethnische Konflikte oder Krieg. In den meisten Ländern sind mehr junge Leute fortgegangen als wiedergekommen.

Die Verfasser der Studie schätzen, dass etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche aus dieser Generation zwischen 1989 und 1999 gestorben sind, fast die Hälfte davon allein in Russland. 1998 starben 85.000 junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, 30 Prozent mehr als 1989. Die Sterberate unter Jugendlichen stieg in 11 Staaten, besonders innerhalb der GUS; sie fiel in 16 Ländern, einschließlich der Baltischen Staaten und den Staaten Osteuropas. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind größer geworden. So war die Gefahr ums Leben zu kommen für Jugendliche in Russland und Kasachstan 1998 drei Mal höher als in der Slowakei, der Tschechischen Republik oder in Ungarn.

Die meisten Todesfälle von Jugendlichen wurden durch Unfälle, Gewalt, Totschlag, Selbstmord, Infektionskrankheiten, Unter- und Mangelernährung sowie Probleme bei Schwangerschaft und Geburt verursacht. Das heißt, sie hatten alle vorrangig gesellschaftliche Ursachen und wären unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen zum größten Teil vermeidbar gewesen.

So stellt der Bericht heraus, dass Russland von den untersuchten Ländern die höchste Rate von Verletzungen hat, die zum Tode führen. Sie ist sieben Mal höher als in den Niederlanden. Der Bericht hebt ebenfalls hervor, dass die weit verbreitete Armut und der schwächere gesellschaftliche Zusammenhalt die Probleme verschärft haben, die zu schlechter Gesundheit und riskantem Verhalten führen. Er führt in diesem Zusammenhang mangelhafte Ernährung, riskante sexuelle Beziehungen und Drogenmissbrauch an.

Die Zunahme der Selbstmordrate unter Jugendlichen ist der extremste Ausdruck von weit verbreiteter Hoffnungslosigkeit und Stress. Während sie in einigen Übergangsländern bei jungen Männern im Alter zwischen 15 und 24 Jahren gesunken ist, ist sie in 16 Ländern angestiegen. In Litauen, Weißrussland, Russland und Turkmenistan hat sie sich mehr als verdoppelt. Besonders hoch (mit steigender Tendenz) ist sie auch in Slowenien, Estland, Litauen, der Ukraine und Kasachstan. In der gesamten Region nehmen sich pro Jahr 10.000 männliche und 2.000 weibliche junge Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren das Leben. Weitere 5.000 junge Männer und 1.500 junge Frauen fallen Morden zum Opfer.

Die Studie beklagt den Mangel an Information und Beratungsmöglichkeiten für junge Leute in Gesundheitsfragen, die seit dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime noch schlechter geworden sind oder gar nicht mehr existieren. Dies findet seinen Ausdruck unter anderem in der starken Zunahme von jugendlichen Rauchern und Alkoholmissbrauch. 1993-94 rauchten 10 Prozent aller 15jährigen Mädchen und 22 Prozent aller Jungen in diesem Alter regelmäßig. Vier Jahre später waren diese Zahlen auf 18 und 29 Prozent angestiegen. Wesentlich mehr junge Männer rauchen in diesen Ländern als in Westeuropa.

Erschreckende Zahlen weist die Studie auch beim Drogenmissbrauch auf. So ergab eine Untersuchung von 1999, dass 25 Prozent aller 16jährigen in Ungarn bereits Drogen unterschiedlicher Art benutzt haben. In der Ukraine wurde bei 1.000 von 13.000 Drogenabhängigen, die in den ersten drei Monaten 1999 untersucht wurden, festgestellt, dass sie HIV-positiv sind, d. h., sie haben sich höchstwahrscheinlich über die Drogenspritzen mit Aids infiziert.

Während es 1995 nur 12.000 bekannte Fälle von HIV-Infektionen in allen Altersgruppen in dieser Region gab, waren es Ende 1998 bereits über 50.000 bekannte Fälle. Die UN-Organisation Unaids schätzt, dass sich bis Ende 1999 über 360.000 Menschen mit Aids infiziert haben. Auch in diesem Bereich sind junge Leute die Hauptleidtragenden. So sind in Litauen und der Tschechischen Republik ein Drittel aller bekannten HIV-Fälle junge Leute im Alter von 15 bis 24 Jahren. In Weißrussland beträgt ihr Anteil sogar zwei Drittel.

Schule und Ausbildung

Ein erschreckendes Bild zeichnet die Studie auch beim Schulbesuch und dem Zugang zu weiterführenden Schulen. Die Anzahl der Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren, die die Schule verließen, stieg von sechs Millionen 1989 auf neun Millionen 1998 an. Das ist mehr als jeder Dritte aus dieser Altersgruppe, der vorzeitig und ohne Abschluss eine weiterführende Schule verließ. Auch hier gibt es Unterschiede in den verschiedenen Ländern. Osteuropäische Länder und die Baltischen Staaten verzeichnen einen bescheidenen Anstieg beim Besuch weiterführender Schulen. Alle anderen Länder der Region verzeichnen einen starken Rückgang. Ganz besonders stark betroffen sind Tadschikistan und Turkmenistan. In Tadschikistan fiel der Schulbesuch von 61 Prozent 1989 auf 24 Prozent im Jahr 1998; in Turkmenistan fiel er im gleichen Zeitraum von 68 Prozent auf 30 Prozent.

Insgesamt vollenden immer weniger Kinder auch nur die Hauptschule und gehen mit 15 Jahren oder noch früher von der Schule ab. Während 1989 fast alle Kinder zumindest einen Hauptschulabschluss hatten, ging deren Anzahl in den GUS-Staaten bis 1997 um 10 bis 20 Prozent zurück. In einigen Teilen Osteuropas gab es einen noch stärkeren Rückgang. Am schlimmsten betroffen sind Albanien, Bulgarien und Rumänien, wo der Anteil der Kinder, die ihre Hauptschulausbildung beendeten, 1997 um 80 Prozent gegenüber 1989 gefallen war.

Wie schon in Bezug auf die Gesundheitsversorgung weist der Bericht darauf hin, dass junge Leute aus armen Familien, ländlichen Gegenden, ethnischen Minderheiten und junge Leute mit Behinderungen überdurchschnittlich betroffen sind. Sie stellen den Hauptteil derjenigen, die die Schule vorzeitig verlassen und erst gar keine Chance haben, eine weiterführende Schule zu besuchen, von einem Studium gar nicht zu reden.

Gründe dafür sind nicht nur, dass arme Kinder und deren Eltern Schulgeld, Geld für Bücher, Studiengebühren und andere Kosten für den Unterhalt von Kindern in Ausbildung nicht aufbringen können. Die Kinder und Jugendlichen müssen oftmals selbst arbeiten, um zum Lebensunterhalt der Familien beizutragen.

Auch die schlechten Bedingungen, insbesondere die Bezahlung, der Lehrer in den meisten Ländern der untersuchten Region verschärfen das Problem. So ist es in Moldawien üblich, dass Eltern Hunderte von US-Dollars an Gebühren und Bestechung zahlen müssen, damit ihre Kinder Unterricht in Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften erhalten.

Die Autoren der Studie haben zu ihren verschiedenen Untersuchungsbereichen auch immer wieder junge Leute aus der betroffenen Region befragt. Im Zusammenhang mit dem Schulbesuch wird die Aussage des 15-jährigen Gairat zitiert, der sagt: "Manchmal sehe ich meine Lehrerin an und dann tut sie mir leid. Ich sehe, dass sie sich nicht konzentrieren kann, weil sie an andere Dinge denkt. Und ich wünschte mir, dass sie sich nicht über all diese alltäglichen Dinge Sorgen machen müsste. Dass sie genug Geld hätte, damit sie sich darauf konzentrieren könnte, ihre Arbeit zu machen und uns gut auszubilden."

Arbeitslosigkeit

In fast allen Ländern der untersuchten Region ist die Jugendarbeitslosigkeit etwa doppelt so hoch wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Ein Problem, das vor 1989 nahezu unbekannt war. 1998 betrug die durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit in den 18 Übergangsländern, für die Daten zugänglich waren, 30 Prozent. Viele der arbeitslosen Jugendlichen, insgesamt 40 Prozent, waren bereits länger als ein Jahr arbeitslos. Auch in diesem Bereich gibt es große Unterschiede. So beträgt die offizielle Jugendarbeitslosigkeit in der Tschechischen Republik 7 Prozent, in der Jugoslawischen Republik Mazedonien über 70 Prozent.

Aber selbst diese offiziellen Zahlen, so erschreckend sie sind, sind nur ein Teil des Bildes. Von 18 Millionen jungen Leuten, die 1998 weder eine Schule besuchten noch eine Arbeit hatten, galten schätzungsweise 8 Millionen als arbeitslos, das heißt als arbeitsfähig und arbeitssuchend. Dies lässt 10 Millionen junge Menschen außerhalb der Arbeitslosenstatistik, obwohl sie weder Arbeit haben, noch sich in Ausbildung befinden. Viele von ihnen leben im südlichen Teil der untersuchten Region. Es gibt auch eine Vielzahl von Beweisen dafür, dass bestimmte Gruppen von Jugendlichen besonders vom Ausschluss vom Arbeitsmarkt betroffen sind. Dazu gehören die schlechter Ausgebildeten, junge Frauen, diejenigen, die in abgelegenen und ländlichen Gebieten leben, und die Angehörigen von Minderheiten.

Die Studie hat auch herausgefunden, dass, ähnlich wie in den westlichen Industriestaaten, Wirtschaftswachstum nicht automatisch zu mehr Arbeitsplätzen führt. In Polen, Ungarn und Slowenien hat das Wirtschaftswachstum seit 1995 zu einer höheren Beschäftigung besonders für junge Leute geführt. In den Baltischen Staaten, der Tschechischen Republik und der Slowakei war das Gegenteil der Fall. Trotz wirtschaftlichen Wachstums gab es einen Rückgang bei der Beschäftigung junger Menschen. Russland, dass zwischen 1995 und 1998 einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um 7 Prozent hinnehmen musste, verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Rückgang bei der allgemeinen Beschäftigung um 4 Prozent, bei jungen Leuten fiel die Beschäftigung sogar um 23 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass es für viele junge Menschen in Osteuropa und den GUS-Staaten kaum möglich ist, ein unabhängiges Leben zu führen oder eine eigene Familie zu gründen. So vermerkt der Bericht, dass der Anteil der jungen Erwachsenen im Alter von 20 bis 24 Jahren, die noch bei ihren Eltern leben, auf fast zwei Drittel gestiegen ist.

Die Geburtenrate ist zwischen 1989 und 1998 in den meisten Ländern der Region um ein Drittel oder mehr gesunken; in Armenien und Litauen sogar um die Hälfte. Sollte dieser Trend anhalten, würde die Anzahl der jungen Leute im Alter zwischen 15 und 24 Jahren in Osteuropa in den nächsten 20 Jahren um ein Drittel sinken.

Ein weiterer Teil des Berichts befasst sich mit der Zunahme von Kriminalität von Kindern und Jugendlichen, was teilweise Bestandteil ihres Überlebenskampfs ist. Er weist auf den besorgniserregenden Umgang mit jugendlichen Straftätern hin, die in einigen Ländern wie Schwerverbrecher behandelt werden. So werden Jungen zum Beispiel in Kirgisien für kleine Diebstähle wegen "schwerwiegender" Verbrechen angeklagt und oftmals allein dafür für sechs Monate eingesperrt. Die barbarischen Haftbedingungen sehen keinen Zugang zu Schulbildung und kein Recht auf Besuche von Familienangehörigen vor. In Albanien können Jugendliche noch vor einem Gerichtsprozess über acht Monate eingesperrt werden. Mangels Einrichtungen für jugendliche Straftäter werden sie zusammen mit angeklagten Erwachsenen eingesperrt.

Ein Untersuchungsbericht von 1995 für die Ukraine bringt zu Tage, dass jeder zweite Jugendliche im Gewahrsam des Innenministeriums über ungewollte sexuelle Kontakte berichtete, 30 Prozent der Befragten wurden vergewaltigt. Untersuchungen von Unicef für die fünf zentralasiatischen Länder fanden heraus, dass in allen untersuchten Ländern Jugendliche in Einzelhaft gesteckt wurden und - mit Ausnahme von Kasachstan - kaum von ihren Familien besucht werden durften. In anderen Ländern wie Georgien mangelt es an rechtlichen Voraussetzungen. So kann dort z. B. eine Kommission für Jugendangelegenheiten jugendliche Wiederholungstäter ohne Gerichtsprozess für bis zu drei Jahre in geschlossene Anstalten einweisen. Überall fehlt es an jugendgerechten Einrichtungen und entsprechend ausgebildetem Personal.

Die Autoren der Studie weisen auf viele Missstände hin und fordern mehr öffentliche Aufmerksamkeit und Ausgaben, um in die Zukunft von jungen Menschen zu investieren. Sie fordern auch eine größere Beteiligung der Jugendlichen an der Gestaltung ihrer eigenen Zukunft. All dies ist nicht verkehrt. Es ist jedoch illusorisch, diese Veränderungen von den politischen Parteien und Kräften zu erwarten, die für den jetzigen Zustand verantwortlich sind und sich zum großen Teil daran bereichert haben.

Interessanterweise berichten die Autoren, dass der größte Teil der von ihnen befragten Jugendlichen kein Vertrauen in die sogenannten neuen demokratischen Institutionen (eine mehr als beschönigende Bezeichnung) haben. Eine Umfrage in Litauen 1998 fand heraus, dass 89 Prozent der zwischen 18 und 25jährigen denken, dass die Aktivitäten der politischen Parteien für sie keine Bedeutung haben. Eine ähnliche Umfrage in Russland stellte fest, dass zwei Drittel der jungen Leute zwischen 18 und 29 Jahren eine stark negative Einstellung zu den staatlichen Institutionen hatten.

Dies ist aber offensichtlich nicht gleichzusetzen mit einer Ablehnung von demokratischen Rechten. Die Umfrage in Litauen fand ebenfalls heraus, dass 85 Prozent der jungen Leute am politischen Leben ihres Landes interessiert sind. Die russische Umfrage fand heraus, dass es zwei Drittel der befragten jungen Leute für "unzulässig" hielten, Präsidentschaftswahlen auszusetzen oder Versammlungen oder Demonstrationen zu verbieten.

Siehe auch:
Weitere Berichte zu Osteuropa

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

Soziale Krise in Russland nimmt afrikanische Ausmaße an

Von Patrick Richter
27. Oktober 1999

Am Freitag den 23. Oktober trat der bekannte amerikanische Russlandexperte Murray Feshbach mit einer schockierenden Erklärung über die soziale Lage in Russland an die Öffentlichkeit.

Feshbach ist Professor für Demographie an Washingtons Georgetown University und ist Verfasser der detaillierten Studien Environmental and Health Atlas of Russia(1995) (Umwelt- und Gesundheitsatlas Russlands) und Ecological Disaster: Cleaning up the Hidden Legacy of the Soviet Regime(1995) (Umweltdisaster: Das Aufräumen mit dem versteckten Erbe des Sowjetregimes).

Auf einer Pressekonferenz in Washington warnte er, dass Russlands Bevölkerung bis zum Jahr 2050 um ein Drittel schrumpfen könnte. Statt der derzeit 146 Millionen Einwohner würden lediglich 80 bis 100 Millionen übrigbleiben, wenn keine grundlegenden Verbesserungen im Sozial- und Umweltbereich durchgeführt werden. Bis zum Jahr 2016 könne russischen Projektionen zufolge die Bevölkerung um 9 bis 17 Millionen zurückgehen.

Ein solcher Bevölkerungsrückgang hätte dramatische politische und ökonomische Konsequenzen für Russlands ohnehin immer stärker unterhöhlte Stabilität. Man bedenke nur, dass im riesigen und rohstoffreichen und daher von vielen Mächten heißbegehrten Sibirien lediglich 24 Millionen Menschen leben, während das angrenzende China mit seiner explodierenden Bevölkerung von 1,25 Milliarden buchstäblich aus allen Nähten platzt.

Ursache für diese katastrophalen Aussichten ist der enorme Anstieg von Tuberkulose (TBC), AIDS, Unfruchtbarkeit und anderen Krankheiten, insbesondere von Geschlechtskrankheiten. Allein im vergangenen Jahr habe es den unvollständigen und selten korrekten russischen Daten und Statistiken zufolge 450.000 Syphiliserkrankungen gegeben. Zum Vergleich: in den Vereinigten Staaten mit einer Bevölkerung von 260 Millionen Menschen gab es 8.000 Krankheitsfälle.

Die Verbreitung der unheilbaren Immunschwächekrankheit AIDS gleicht zunehmend Verhältnissen, die an die zentralafrikanischen Länder erinnern. Gestützt auf einen Bericht des Russischen Zentralbüros für Epidemiologie sagte Feshbach, dass es bis 2002 in Russland zwei Millionen HIV-Infizierungen bzw. AIDS-Erkrankungen geben werde. Allein die Krankenziffern für Moskau hätten sich im ersten Halbjahr 1999 gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum verzwölffacht. Die Krankheitsfälle "steigen hypergeometrisch an... und werden sich in der kommenden Dekade auf die Sterblichkeitsrate niederschlagen".

Auch die Tuberkulose scheint ungebrochen ihren Vormarsch fortzusetzen. Offiziellen russischen Angaben zufolge hat es im vergangenen Jahr 108.000 Krankheitsfälle gegeben, laut Weltgesundheitsorganisation WHO sogar 150.000. Im Vergleich zu den USA, wo es 18.000 Erkrankungen gab und nur einige wenige Fälle tödlich endeten, seien 1997 in Russland 24.777 Menschen an der Krankheit gestorben.

In einem Bericht des amerikanischen Zentrums für Krankheitskontrolle vom August wird festgestellt, dass die russische TBC-Rate seit 1991 von 34 Fällen bezogen auf 100.000 Einwohner auf 78 im Jahre 1998 hochgeschnellt sei. Nach WHO-Maßstäben redet man ab 50 Fällen pro 100.000 Einwohner von einer Epidemie.

Die größte Gefahr auch für Westeuropa und die restliche Welt geht von der mittlerweile sehr gut untersuchten multiarzneimittelresistenten Tuberkulose aus. Sie entsteht, wenn die Behandlung von Tuberkulose vorzeitig abgebrochen wird, weil der Patient keine Beschwerden mehr verspürt. In dieser Zeit entwickeln die stark geschwächten Erreger Resistenzen gegen das bisherige Medikament, lassen die Krankheit erneut ausbrechen und machen eine weitere Heilung damit unmöglich. In Russland gebe es von diesen Fällen bereits 30.000, wovon 20.000 in den Gefängnissen anzutreffen sind.

Über sein Spezialgebiet, die Umweltverschmutzung, sagte Feshbach, dass die katastrophale Lage im Lande ebenfalls ein wichtiger Faktor für den Bevölkerungsrückgang sei. Chemikalien und Schwermetalle im Trinkwasser sind insbesondere für Kinder und Schwangere gefährlich und unterstützen die Entstehung von genetischen und anderen Erkrankungen.

Der hohe Tabak- und Alkoholkonsum wie auch die vitaminarme Ernährung der Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der ständigen Missernten und miserablen und chaotischen Nahrungsmittelversorgung würden die Sterblichkeit weiter nach oben treiben. Was die Selbstmordrate betrifft habe Russland in den 90er Jahren die Weltspitze erreicht und die bisherigen Rekordhalter Ungarn und Japan weit hinter sich gelassen.

"Wenn man all das zusammennimmt, ist die Belastung für die russische Bevölkerung enorm." Auf Fragen, ob es denn keine Pläne seitens der russischen Behörden gebe, antworte er, dass diese zwar "immer besorgter wegen dieser Fragen sind, ein Großteil ihrer Vorhaben ist jedoch undurchführbar."

Siehe auch:
Weitere Artikel zur sozialen Lage in Russland

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

UN-Bericht zu Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion

Der "freie Markt" führt zu sozialer Katastrophe

Von Nick Beams
21. August 1999
aus dem Englischen (5. August 1999)

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder zu Beginn dieses Jahrzehnts wurde auf der ganzen Welt als Triumph des "freien Marktes" bejubelt. Die Abschaffung des Staatseigentums werde, so glaubten viele, die historische Überlegenheit des Kapitalismus praktisch demonstrieren und beweisen, dass er die einzig mögliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisationsform sei.

Zehn Jahre später kann man die Ergebnisse betrachten. Sie sind in einem Bericht des UN Entwicklungsprogramms (UNDP) dokumentiert, der Anfang des Monats veröffentlicht wurde, und der detailliert nachweist, dass man das, was dort stattgefunden hat, nur als eine Katastrophe bezeichnen kann.

Die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis wird mit Recht als Holocaust und als eines der großen Verbrechen des Jahrhunderts bezeichnet. Aber man fragt sich, wie eine Entwicklung zu bezeichnen ist, die zum vorzeitigen Tod von 9,7 Millionen Menschen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas geführt hat - als direkte Folge der "freien Marktwirtschaft".

Die Fakten und Zahlen dieses Desasters stechen aus beinahe jeder der über einhundert Seiten des Dokuments hervor - die Wirtschaftsleistung wurde halbiert, die Armutsrate hat sich verachtfacht, ein rasantes Ansteigen von Selbstmorden und Alkoholismus ist zu verzeichnen, früher ausgerottete Krankheiten wie die Tuberkulose sowie neue wie Aids sind stark auf dem Vormarsch, Millionen wurden obdachlos und die Mangelernährung bei Kindern greift um sich; gleichzeitig bereichert sich eine kleine Minderheit und ganze Teile des Staatsapparats wurden von kriminellen Mafiosi übernommen.

In den meisten offiziellen Publikationen werden die Länder der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) und Osteuropas als "im Übergang" beschrieben - soll heißen, dass die Privatisierung und die "freie Marktwirtschaft" bald zu steigender Produktion und steigendem Lebensstandard führen werden. Solche Bezeichnungen sollen aber nur verschleiern, was wirklich vor sich geht.

In dem Bericht liest sich das folgendermaßen: "Der ‚Übergang‘ in den meisten Ländern des früheren Sowjetblocks in Mittel- und Osteuropa und der GUS ist ein schönfärberischer Begriff für die Wirklichkeit: eine Große Depression. Das Ausmaß des Zusammenbruchs der Produktion und das Hochschießen der Inflation sind historisch ohne Beispiel. Die Folgen für die Lebensbedingungen der Menschen waren verheerend. Nach vorsichtigen Schätzungen sind mehr als 100 Millionen Menschen in Armut geworfen worden und wesentlich mehr befinden sich nur knapp oberhalb dieser Grenze."

Die Wende zur Marktwirtschaft sollte die wirtschaftliche Effizienz erhöhen und das Wirtschaftswachstum beschleunigen. Aber sie hatte die gerade entgegengesetzte Wirkung. "Die Investitionen brachen zusammen, Produktion und Einkommen fielen stark und die Wachstumsraten wurden negativ."

Im Durchschnitt war das Bruttosozialprodukt (BSP) in Mittel- und Osteuropa 1997 fast 12% niedriger als 1990. Aber in vielen Ländern war die Lage noch viel schlimmer. In Lettland und Litauen zu Beispiel betrug das BSP im Vergleich zu 1990 nur noch 59%. Noch schlimmer war die Lage in der GUS (eingeschlossen die bevölkerungsreichsten Länder Russland und die Ukraine), wo das BSP im Vergleich zu 1990 nur noch 55% betrug.

In einigen Ländern wie zum Beispiel Kasachstan, Armenien, Georgien, Litauen und Moldawien sind die Investitionen so stark zurückgegangen, dass es nicht einmal möglich war, das vorher vorhandene Kapital zu erhalten.

Soziale Polarisierung

Der dramatische Verfall der Einkommen war von einer "bemerkenswerten Zunahme der Ungleichheit bei der Einkommensverteilung" begleitet. Vor dem Beginn der "Wirtschaftsreformen" war die Verteilung des Einkommens relativ gleichmäßig. Während der Übergangsperiode haben sich die Einkommensunterschiede jedoch erheblich verschärft und in einigen Ländern hat die Ungleichheit inzwischen Ausmaße angenommen,... die einigen unterentwickelten Ländern nahe kommt. Das ist besonders im größten Land, der Russischen Föderation, der Fall, in der die Ungleichheit inzwischen mit den Zuständen in einigen lateinamerikanischen Ländern vergleichbar ist."

Das Ergebnis der Privatisierung war "die Schaffung einer kleinen und reichen Klasse von Kapitalisten und einer stark polarisierten Gesellschaft" und eine Verschiebung in der Verteilung des Einkommens "von der Arbeit zum Kapital, wie auch eine starke Zunahme der Lohn- und Einkommensdifferenzierung."

Die Auswirkung auf den Lebensstandard zusammenfassend heißt es in dem Bericht: "Die Kombination von fallenden Durchschnittseinkommen und der Zunahme von Ungleichheit führte zu einer bedeutenden Zunahme der Einkommensarmut. Ausgehend von einer Armutsgrenze von 4 Dollar pro Tag (die Kaufkraft des Devisendollars von 1990 zugrunde gelegt) schätzt das UNDP, dass die Armut in Osteuropa und der GUS von vier Prozent der Bevölkerung 1988 auf 32 Prozent 1994 zugenommen hat, bzw. von 13,6 Millionen auf 119,2 Millionen. Mit anderen Worten war Massenarmut vor dem Übergang zur Marktwirtschaft unbekannt: alle arbeitsfähigen Menschen hatten eine Arbeit und damit eine Unterhaltsquelle; ein ausgefeiltes System von Sozialleistungen stellte sicher, dass die Alten, die Kranken und Behinderten vor größter Not geschützt waren. Während der Übergangszeit wurde das soziale Schutzsystem immer schwächer, die Arbeitslosigkeit nahm zu und die Reallöhne fielen. Die unvermeidliche Folge waren verbreitete Armut und Verelendung."

Die Folgen dieses scharfen Einkommensrückgangs werden anhand mehrerer Statistiken aufgezeigt. In Moldawien z.B. ging der Verbrauch von Fleisch zwischen1990 und 1996 um 57 Prozent, von Milch und Milchprodukten um 48 Prozent und von Zucker um 60 Prozent zurück.

In Polen, neben Slowenien das einzige Land mit einer Zunahme des BSP, fand eine kürzliche Studie heraus, dass etwa 60 Prozent der Kinder in der einen oder anderen Weise an Mangelernährung leiden und 10 Prozent ständig unzureichend ernährt werden.

Schlechte Ernährung ist ein ernstes Problem in Ländern wie Weißrussland, der Russischen Föderation und der Ukraine. In Russland hat die durch Protein- und Kalorienmangel in früher Kindheit hervorgerufene und später nicht mehr zu behebende Wachstumsschwäche bei Kindern unter zwei Jahren von 1992 bis 1994 von 9,4 auf 15,2 Prozent zugenommen.

In dem Bericht wurde festgestellt, das Eisenmangel in der Region eine der meist verbreiteten Mangelerscheinungen ist.

"Zum Beispiel hat sich die Anzahl der russischen Frauen, die gegen Ende ihrer Schwangerschaft an Blutarmut leiden, von 1989 bis 1994 beinahe verdreifacht. In der Ukraine ist der Prozentsatz schwangerer Frauen mit Blutarmut von etwa 11 Prozent 1990 auf ungefähr 34 Prozent 1995 gestiegen. Eine Untersuchung in Usbekistan von 1994 ergab, dass ungefähr 65 Prozent aller Frauen von 15 bis 50 Jahren, 59 Prozent aller Vorschulkinder, und zwischen 82 und 75 Prozent aller Kleinkinder unter Blutarmut litten."

Zunehmende Sterblichkeitsrate

Eine der augenfälligsten Folgen der Einführung der Marktwirtschaft ist die Zunahme der Sterblichkeitsraten. Die stärkste Zunahme hat es bei Männern mittleren Alters gegeben, aber auch bei Jugendlichen ist die Sterblichkeit auf dem Vormarsch.

Von 1980 bis 1995 ging die Lebenserwartung russischer Männer um vier Jahre zurück, stärker als in jedem anderen Land, und die Lebenserwartung russischer Männer beträgt heute gerade einmal 58 Jahre. Auch die Geburtenrate fällt, so dass "entsprechend dem ökonomischen Zusammenbruch die Länder der Region auch einem demographischen Rückgang unterliegen." Schon 1995 hatten zehn der sogenannten Länder im "Übergang" einen Rückgang der Bevölkerung erlitten.

Um die demographische Wirkung des Übergangs zur Marktwirtschaft zu quantifizieren, weist der UNDP-Bericht auf den abnormal niedrigen Anteil von Männern an der Gesamtbevölkerung hin. Als "fehlende Männer" wird die Differenz zwischen dem Anteil von Männern an der Bevölkerung bei einer normalen Verteilung der Geschlechter und ihrer tatsächlichen Anzahl bezeichnet. Die Studie kommt für die Russische Föderation auf 5,9 Millionen fehlende Männer, und für die Ukraine auf 2,6 Millionen. Die Zahl für die GUS beträgt neun Millionen und für die ganze Region 9,7 Millionen.

"Der Übergang ist den Völkern der Region teuer zu stehen gekommen", fährt der Bericht fort, "nicht nur hinsichtlich zunehmender Krankheiten, höherer Sterblichkeit und geringerer Lebenserwartung, sondern auch, was den Zerfall der sozialen Verhältnisse betrifft, der sich in erhöhtem Alkoholkonsum, einer dramatischen Zunahme der Drogenabhängigkeit und einem Anstieg der Selbstmordrate äußert."

In beinahe allen Ländern ist die Selbstmordrate höher als im Durchschnitt der Europäischen Union. In Ungarn ist sie fast dreimal so hoch, in Russland, Litauen und Lettland mehr als dreimal so hoch.

Der Bericht bezeichnet die Gründe zwar als zahlreich und komplex, sie sind aber hauptsächlich in der verbreiteten Unsicherheit zu suchen. Die wichtigsten Faktoren dabei sind: der Verlust des Einkommens, zunehmende wirtschaftliche Unsicherheit, besonders in einer Zeit der Hyperinflation, steigende Arbeitslosigkeit, der Verfall der Kaufkraft der Renten und die schwächer werdende Gesundheitsversorgung. Kurz gesagt: "Der Übergang zur Marktwirtschaft war für eine große Anzahl Menschen buchstäblich tödlich."

Krankheiten sind auf dem Vormarsch. Von 1993 auf 1994 hat sich das Vorkommen von Tuberkulose in Russland verdoppelt, in der Ukraine und in Georgien soll sie zugenommen haben. Das Auftreten sexuell übertragener Krankheiten hat sich explosionsartig vermehrt. In Russland gab es 1995 172 Fälle von Syphilis pro Hunderttausend Einwohner gegenüber vier pro Hunderttausend 1989. Von 1994 bis 1997 explodierten die HIV-Infektionen in Osteuropa um das sechsfache, in den am schlimmsten betroffenen Regionen sogar um das 70fache.

Alkoholismus und Drogenabhängigkeit haben in der ganzen Region epidemische Ausmaße angenommen. Eine Untersuchung über Kirgisistan stellte 1997 fest, dass "Trunksucht und Drogenabhängigkeit die Ausmaße einer nationalen Tragödie annehmen. Es ist weitgehend anerkannt, dass die hohe Rate von Kleinkinder- und Kinderkrankheiten mit dem Alkoholismus der Eltern zu tun hat.... Die Drogenabhängigkeit hat in den letzten Jahren um über 300 Prozent zugenommen."

Organisierte Kriminalität auf dem Vormarsch

Der Bericht hält fest, dass "eine der auffälligsten und bedrohlichsten Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs während des Übergangs in vielen Ländern der Region der dramatische Anstieg der Kriminalität ist.

In scharfem Gegensatz zu der Zeit vor dem Übergang sind die Menschen ihrer persönlichen Sicherheit beraubt - oft sind sie der Gnade organisierter Krimineller ausgeliefert, die sich in Zusammenarbeit mit korrupten Regierungsbeamten etablieren konnten."

Die Kriminalstatistik ging nach 1989 beträchtlich in die Höhe. Aber die offiziellen Zahlen beschönigen die wirkliche Lage eher. Eine Schätzung besagt, dass nicht mehr als ein Viertel bis zu einem Drittel der Verbrechen in Russland angezeigt worden sind. Die sogenannte Wirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit dem Export und dem Transit von Waren und mit anderen Geschäftsaktivitäten ist auf dem Vormarsch.

Zum Beispiel Estland: "Das Verbrechen ist organisierter und professioneller geworden; neue Verbrechenstatbestände sind aufgetreten (z.B. Kreditkartenbetrug)... Allgemein scheint man sagen zu können, dass die Kriminellen sich von Gewalttaten und Eigentumsdelikten (Diebstahl) in die Wirtschaftssphäre umorientieren, d.h. frühere "Straßenkriminelle" versuchen ihre illegalen Aktivitäten in der Wirtschaft fortzusetzen."

Oder Kirgisistan: "Der Markt für kriminelle Dienstleistungen wächst aufgrund von Auftragsmorden und des illegalen Glücksspiels. Nach der Meinung von Experten versuchen die Mitglieder verschiedener krimineller Gruppen ständig, die staatlichen Behörden zu unterwandern, sogar die Gesetzgebung. Wirtschaftskriminalität, staatliche Kriminalität und das gewöhnliche Verbrechen üben in Kirgisistan Einfluss auf Wirtschafts- und Justizreformen aus. Die neuen ökonomischen Verhältnisse führen in Kirgisistan zu neuen Formen von Verbrechen."

Ein ähnlicher Bericht über Tadschikistan sagte folgendes aus: "Schon 1996 hatte sich das organisierte Verbrechen stark ausgebreitet; das Verbrechen wurde zu einem Staat im Staate und gewann die Kontrolle über bestimmte Teile der Wirtschaft... Die Kriminellen haben nicht nur ihre Fähigkeiten verbessert, sondern sind von Dieben, Fälschern und Kleinkriminellen zu Auftragsmördern, Entführern und Gewaltkriminellen aufgestiegen... das Verbrechen hat sich politisiert und die Politik hat sich kriminalisiert.... Duschanbe [die Hauptstadt von Tadschikistan] ist das Zentrum des organisierten Verbrechens und der Korruption."

Die "Kosten des Übergangs" zusammenfassend hält der UNDP Bericht fest: "Es gibt eine dramatische weitverbreitete Verschlechterung der Lebenssituation. Es gibt keine sichere Beschäftigung mehr und keine sicheren Einkommen. Das alte System von garantierter Vollbeschäftigung gibt es nicht mehr, ohne Aussicht auf seine Rückkehr. Für viele Menschen ist die Einkommensarmut für die absehbare Zukunft zu einem Teil ihres Lebens geworden. Auch die Heimat ist nicht mehr sicher, es gibt massenhafte Wanderungsbewegungen innerhalb der Länder im Übergang, zwischen ihnen und auch in Länder außerhalb der Region. Regionale Konflikte und Spannungen haben zur Anzahl der Entwurzelten und Flüchtlinge beigetragen. Die Sicherheit der Lebensbedingungen hinsichtlich verfügbarer Sozialleistungen und sozialer Absicherung ist in tragischer Weise zusammengebrochen. Es gibt keinen gesicherten Anspruch auf Bildung, ein gesundes Leben oder ausreichende Ernährung mehr. Angesichts steigender Sterblichkeitsraten und potentiell verheerender Epidemien am Horizont ist das Leben selbst zunehmend bedroht."

Angesichts dieser beispiellosen sozialen Katastrophe kann man von den Verteidigern der "freien Marktwirtschaft" zwei Reaktionen erwarten.

Einige werden die Katastrophe schlicht ableugnen. Ein typisches Beispiel dafür war der kürzliche Kommentar des für diese Region zuständigen Vizepräsidenten der Weltbank, Johannes Linn, der auf einer Pressekonferenz erklärte, dass "marktorientierte Reformen in Verbindung mit sozialen Reformen und einer Stärkung der Institutionen die früheren sozialistischen zentralen Planwirtschaften aus ihrer Lethargie gerissen haben und sie auf einen Weg nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums und sozialen Zusammenhalts bringen können."

Ein weiteres übles Argument wird sein, dass die Verantwortung für die Situation bei der Oktoberrevolution liege. Das war die Linie eines Artikels von Martin Wolf, dem Wirtschaftsredakteur der Financial Times, der vor kurzem erschienen ist. Er zeigte den wirtschaftlichen Zusammenbruch in den Staaten der GUS auf und schloss dann, dass die Wurzel des Problems in der "rücksichtslosen Revolution" von 1919 liege, die "die gewaltsame Schaffung eines selbstlosen Menschen beabsichtigte", und dass "Lenins wahnsinniges Ziel in seinem Gegenteil geendet hat - in einer brutaleren, korrupteren und ungleicheren kapitalistischen Wirtschaft, als selbst er sie sich hätte vorstellen können."

Solche Erklärungen werden zweifellos jene zufrieden stellen, die jedwede Fähigkeit zu selbständigem Denken verloren haben.

Aber sie werden keinen Bestand haben vor kritischeren Geistern. Diese werden erkennen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse, die sich jetzt in der früheren UdSSR entfalten - sinkender Lebensstandard, niedergehende Gesundheitsversorgung, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, zunehmende Ungleichheit und soziale Polarisierung - im einen oder anderen Maße überall wirksam sind und nichts anderes darstellen, als den konzentriertesten Ausdruck der allgegenwärtigen Folgen des "freien Marktes".

Siehe auch:
Artikel zur sozialen Lage in Russland

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

Rußland - Eine Gesellschaft im freien Fall

Die soziale Krise verschärft sich immer mehr

Von Patrick Richter
1. April 1999

Ein halbes Jahr nach der Finanzkrise vom August 1998 ist von der einstigen Weltmacht kaum mehr ein Schatten ihrer selbst übriggeblieben. Die Ohnmacht der russischen Politiker, innen- wie außenpolitisch auch nur eines der brennenden Probleme anzugehen, findet ihren dramatischsten Ausdruck in den verheerenden sozialen Verhältnissen des Landes.

Verschiedene Studien und Untersuchungen, die gegenwärtig veröffentlicht werden, geben ein konkreteres Bild über das wahre Ausmaß der sozialen Krise. Es zeichnet sich ab, daß die vergangenen zehn Jahre für die große Mehrheit der russischen Bevölkerung eine Katastrophe bedeuteten, von der nahezu jeder Lebensbereich nachhaltig betroffen ist.

Von den bescheidenen sozialen Zugeständnissen aus Sowjetzeiten ist fast nichts mehr übrig geblieben. Sie machten Armut, Unsicherheit und Kriminalität Platz, die das tägliche Leben der breiten Masse der Bevölkerung heute bestimmen. Nur einer dünnen Schicht korruptester und rücksichtslosester Bürokraten und Krimineller gelang es, einen byzantinischen Reichtum anzuhäufen, der in immer größeren Gegensatz zum Leben der übrigen Bevölkerung steht. Die Kriminalitätsrate kann nur noch mit der Kolumbiens verglichen werden.

Allein das äußere Bild Moskaus vermittelt den Eindruck einer surrealen Welt. Neben schweren westlichen Limousinen reicher Mafiabosse oder hoher Regierungsbeamter sieht man auf den Straßen überall Rentner, die betteln oder irgend etwas verkaufen, weil sie mit ihrer Rente von umgerechnet 25 DM (bzw. 13 Dollar) pro Monat nicht überleben können. In den Vorortzügen, einer Art S-Bahn, versuchen sich Unzählige als Verkäufer und bieten alle möglichen Kleinigkeiten an, um sich über Wasser zu halten. Die Hauptstraßen sind nachts mit jungen Mädchen überfüllt, die sich in ihrer Verzweiflung zum Teil für weniger als 5 DM (3 Dollar) anbieten.

Die jüngsten Arbeitslosenstatistiken von Ende Januar 1999 gehen von einer bisher unbekannten Arbeitslosenquote von 12,4 Prozent aus. Das entspricht 8,96 Millionen Arbeitslosen. Aufgrund des Rückgangs der Produktion um 5 bis 10 Prozent seit vergangenem Sommer kam es allein in den beiden Monaten Dezember und Januar zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 0,6 Prozentpunkte oder 700.000 Menschen. Seit August haben mehr als 1 Million ihre Arbeit verloren. Das ist der größte Anstieg der Arbeitslosigkeit seit vier Jahren.

Der Gipfel ist aber noch nicht erreicht. Weltbankökonom Kuddo Arvo erklärt, daß Rußlands Bruttoinlandsprodukt in den Jahren seit der Perestroika mit einer um 26 Prozent höheren Geschwindigkeit geschrumpft sei, als die Beschäftigung. In naher Zukunft müsse daher von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 12,5 bis 13 Millionen ausgegangen werden.

Das Problem bestünde darin, daß 42 Millionen Beschäftigte (66 Prozent der arbeitenden Bevölkerung) in großen bzw. mittleren Betrieben arbeiten, die mit ihren Jahrzehnte alten Maschinen und Anlagen eine viel zu geringe Arbeitsproduktivität aufwiesen und in Kürze gezwungen sein werden, größere Entlassungen vorzunehmen. Selbst ein 10prozentiger Anstieg der Nachfrage nach Industrieprodukten könne die Lage auf dem Arbeitsmarkt höchstens stabilisieren, jedoch nicht lindern.

Besonders betroffen sind Frauen. Sie machen über 60 Prozent der Arbeitslosen aus und stellen mehr als zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen. 80 Prozent der Frauen, die seit August ihre Arbeit verloren haben, gehören der Kategorie "schwach geschützt" an. Dazu zählen alleinerziehende Mütter, Mütter mit drei und mehr Kindern oder Frauen, die sich um einen Angehörigen kümmern müssen (wie zum Beispiel ihre Eltern - eine weit verbreitete Erscheinung in Rußland).

Frauen unter 30 Jahren mit einem Kind gehören zu den ersten, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Die vollständige Abschaffung jeglicher Art staatlicher Unterstützung zwingt junge Mütter zu Hause zu bleiben. "Nach Jahrzehnten mystischer Befreiung sind die russischen Frauen mehr denn je an die traditionelle Rückständigkeit gebunden", erklärt Jelena Mesentzewa vom Zentrum für Geschlechterforschung.

Mit der Verschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt leiden Frauen vor allem am Wegfall besser bezahlter und qualifizierter Arbeitsplätze. Sie werden aus dem Berufsleben gedrängt und gezwungen, schlecht bezahlte, unqualifizierte und nicht selten sogar illegale Arbeit anzunehmen.

So sind beispielsweise 70 Prozent der 10 Millionen Kleinhändler auf den Märkten Frauen. Sie müssen oft länger als 10 Stunden bei jedem Wetter auf der Straße stehen und sind dabei ganz allein für den Transport der schweren Waren auf den Markt verantwortlich. Teilweise müssen sie unter Schwarzmarktbedingungen arbeiten und haben dann keinerlei Rechte und keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Denjenigen, denen das nicht gefällt, bleibt nur noch der "traditionelle" Arbeitsplatz in der Küche und zu Hause.

Doch auch dort haben die Leiden insbesondere seit August enorm zugenommen. Frauen und Kinder bekommen die gesellschaftlichen Spannungen zu spüren. Der Psychologin Albina Panschina zufolge habe sich die Gewalt zu Hause seit der Krise verdoppelt. Es handele sich dabei nicht nur um physische Gewalt, sondern auch um psychologische Unterdrückung oder die bloße Androhung von körperlicher Gewalt, was im Endeffekt ebenso verheerend sei.

Jüngsten Zahlen zufolge wurden im vergangenen Jahr 15.000 Frauen von ihren Männern ermordet. Im Vergleich dazu liegt diese Zahl in den USA, deren Bevölkerung nahezu doppelt so groß ist, bei 1.500.

Die heutige Kindergeneration wächst unter Bedingungen heran, die von zerrütteten Familienverhältnissen und ökonomischer Unsicherheit geprägt sind. Moralische und physische Schäden sind die Folge.

Die Qualität des Familienlebens hat ein absolutes Tief erreicht. Ein Fünftel aller russischen Haushalte lebt mittlerweile unterhalb des Existenzminimums, wobei die Lage für Familien mit Kindern unter 16 Jahren noch schlechter ist. Fast ein Drittel der Kinder wächst in Armut auf, und je mehr Kinder in einer Familie leben, desto größer wird die Armut. Über 50.000 Kinder verlassen jährlich das Elternhaus und 2.000 begehen Selbstmord.

Die Anzahl außerehelich geborener Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verdoppelt. Sie machen heute 20 Prozent aller geborener Kinder aus. Selbst für Kinder, die in traditionellen Familien aufwachsen, ist das Risiko sehr hoch, zumindest einen Elternteil zu verlieren, bevor sie das 18. Lebensjahr erreichen. Die Scheidungsraten nehmen zu, und die Elternsterblichkeit ist auf 16,2 Prozent angestiegen. Von 1989 bis jetzt ist der Anteil der Kinder, die einen Elternteil durch Scheidung oder Tod verloren haben, von 50 auf 64 Prozent angestiegen. Die Zahl der Vollwaisen hat sich im gleichen Zeitraum auf 600.000 mehr als verdoppelt.

Ebenso dramatisch entwickelt sich der Gesundheitszustand Jugendlicher. Ein Bericht des Verteidigungsministeriums über die Musterung Wehrpflichtiger vom vergangenen Herbst stellt fest, daß sich der allgemeine Gesundheitszustand weiter verschlechtert hat. 30 Prozent der Männer im wehrpflichtigen Alter seien für den Militärdienst untauglich.

An der Spitze der Erkrankungen stehen mit 31,2 Prozent Herz-, Nieren- und Verdauungsstörungen. 20,7 Prozent wurden wegen angeborener oder posttraumatischer Sprachbehinderungen ausgemustert, 19,3 Prozent aufgrund psychologischer Deformationen. Die Anzahl junger Männer mit Geschlechtskrankheiten oder anderen ansteckenden Krankheiten ist steigend. Das selbe trifft auf die Zahl Süchtiger zu.

Seit 1992, als die Russische Armee gegründet wurde, ist die Rate an Syphilis Erkrankter um 1.000 Prozent angestiegen. Fälle von Alkoholismus, Drogensucht und Lösungsmittelmißbrauch haben um 100 Prozent zugenommen. Fast 30 Prozent der für den Wehrdienst als tauglich Eingestuften leiden an Untergewicht, während mehr als zwei Drittel der 10.500 eingezogenen Moskauer die einfachsten Sporttests nicht bestanden haben.

Eine Studie, die Anfang März von der Komsomolskaja Prawda veröffentlicht wurde, führt an, daß unzählige Faktoren, wie zunehmende Armut, schlechtere Umweltbedingungen und belastende emotionelle Sorgen den durchschnittlichen Russen physisch und psychisch immer mehr schwächen. Die Leute sterben öfter und früher.

So sprechen viele Soziologen, was die Entwicklung des Bevölkerungswachstums betrifft, mittlerweile von einer "demographischen Krise". Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkrieges übersteigen die Sterberaten die Geburtenraten. Rußlands Bevölkerung, die sich gegenwärtig auf 150 Millionen beläuft, wird bis zum Jahr 2010 um 12 Millionen sinken. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht in Sicht.

Siehe auch:
Rußland nach acht Jahren kapitalistischer Reformen - Eine soziale Krise ohne Parallelen
(30. Januar 1999)
Rußlands Finanzkrise soll auf den Rücken der Arbeiterklasse abgewälzt werden.
( 8. Juli 1998)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

Rußland nach acht Jahren kapitalistischer Reformen

Eine soziale Krise "ohne Parallelen"

Von Patrick Richter
30. Januar 1999

Die Augustkrise vom vergangenen Jahr hat den letzten Illusionen und Hoffnungen den Boden entzogen, die kapitalistischen Reformen in Rußland würden irgendwann zu einem Aufblühen von Wirtschaft und Lebensniveau führen. Die soziale Lage hat sich inzwischen drastisch verschlechtert.

Die Schuldenpyramide, mit der die Jelzin-Regierung verzweifelt versucht hatte, ihren Balanceakt zwischen den Interessen der einfachen Bevölkerung, der Finanzoligarchen (den russischen Neureichen, die einen Großteil des Finanzkapitals kontrollieren) und des internationalen Kapitals zu finanzieren, war am 17. August wie eine Seifenblase geplatzt. Der Rubel verlor innerhalb weniger Tage zwei Drittel seines Wertes, und Milliarden Dollar ausländischen Kapitals flossen in kürzester Zeit außer Landes.

Bereits vorher war die russischen Wirtschaft im Rahmen der Reformpolitik, die die Regierung seit der Auflösung der Sowjetunion verfolgt hatte, um nahezu 50 Prozent geschrumpft. Das Lebensniveau der einfachen Bevölkerung war dramatisch gesunken. Die Lebenserwartung für Männer betrug nur noch 55 Jahre, womit sich Rußland unter den Ländern der Welt hinter Platz 100 katapultiert hatte. Permanente Streiks, Protestbewegungen und Verzweiflungstaten hatten die "Reformperiode" geprägt.

Die Hoffnungen auf eine Veränderung richteten sich auf die neuen Mittelschichten, die - konzentriert vor allem auf Moskau und Petersburg - aus Bankangestellten, Unternehmern, Kleinhändlern und Spekulanten bestehen. Sie sollten die Stützpfeiler der neuen Ordnung und wegweisend für das ganze Land sein. Die 1997 erstmals um 0,5 Prozent gewachsene Wirtschaft und die auf unter 20 Prozent gesunkene Inflationsrate galten als ökonomischer Beleg für den kommenden Umschwung.

Die Augustkrise hat nun auch diesen Hoffnungen den Boden entzogen. Allein 200.000 bis 400.000 Bewohner Moskaus haben seitdem ihren Arbeitsplatz verloren. Die Mehrzahl von ihnen war in Banken, im Handel und den unzähligen neu entstandenen Dienstleistungsunternehmen beschäftigt. Nur noch die wenigsten hoffen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Statt dessen kämpfen sie sich mit Gelegenheitsjobs durch den Alltag. So ist die Anzahl der Banken seit Anfang 1998 von 1700 auf derzeit 1476 zurückgegangen. Weitere 700 stehen jetzt schon vor dem Aus. Reisebüros, private Baufirmen, Anwaltskanzleien und Finanzberatungen, die mit ihnen aufs engste verbunden waren, wurden mit in den Abgrund gezogen.

Die Kaufkraft ist mit der Rubelabwertung rapide gesunken. Kostete eine DM vor der Krise 3,60 Rubel, muß man jetzt 13 Rubel dafür bezahlen. Importprodukte sind unerschwinglich geworden. Der Anteil der unter der Armutsgrenze Lebenden stieg nach offiziellen Angaben sprunghaft um 8 auf 30 Prozent. Der monatliche Durchschnittslohn von DM 200 sank auf DM 70, die Durchschnittsrente fiel von DM 90 auf DM 30. Das gilt für diejenigen, die ihre Bezüge überhaupt bekommen. Lehrer erhalten in Moskau DM 50, in der Provinz noch weniger.

Ebenso verheerend stellt sich das Bild in den Bereichen dar, die vom Staatshaushalt abhängen. Ganzen Regionen wie Kamtschatka, dem fernen Osten oder Teilen Sibiriens fehlt es in diesem Winter an Lebensmittel- und Heizmaterialvorräten. In unzähligen Ortschaften fielen Heizungen und Stromversorgung aus, weil die maroden Anlagen nicht mehr in Stand gehalten werden können oder das Brennmaterial zu Ende gegangen ist.

Auch die Krise des Gesundheitswesens hat sich weiter verschärft. Im Haushaltsentwurf für 1999, der die einschneidendsten Kürzungen seit zehn Jahren vorsieht, sind gegenüber dem Vorjahr 10 Prozent weniger Mittel für den Gesundheitssektor eingeplant. Der Anteil von 2,3 Prozent am Staatshaushalt ist europaweit ohnehin schon der mit Abstand geringste. In den USA liegt er bei 14 Prozent.

Die Gehaltsschulden gegenüber dem medizinischen Personal beliefen sich Ende 1998 auf über 4 Milliarden Rubel, umgerechnet über DM 300 Mio., die Zahlungsrückstände teilweise auf sechs bis acht Monate. Aus Geldmangel werden in mehr als einem Duzend Moskauer Kliniken seit August keine Patienten mehr aufgenommen, die älter als 65 Jahre sind.

Nach der Zerschlagung eines Großteils der "ineffizienten" einheimischen Pharmaindustrie durch die Reformer und auf Betreiben großer ausländischer Konzerne, die lediglich die Vertriebsstrukturen übernommen haben, um ihre eigenen Produkte abzusetzen, ist Rußland mittlerweile zu 60 Prozent von importierten Medikamenten abhängig. Seit der Abwertung haben sich deren Preise im Durchschnitt nahezu vervierfacht.

Der Staat ist jetzt nicht mehr in der Lage, die teuren Importe, darunter Herzpräparate und Insulin, zu bezahlen. "80 Prozent der notwendigen Medikamente müssen die Patienten künftig selbst bezahlen", erklärte Gesundheitsminister Starodubow. Doch wer hat das Geld dafür? Allein in Moskau sind 1,5 Millionen alte oder chronisch kranke Menschen auf die kostenfreien Rezepte angewiesen.

Für Diabetiker beläuft sich der monatliche Insulinbedarf auf durchschnittlich 40 Dollar, wobei in Rubel heute dreimal so viel bezahlt werden muß. Rußland stellt kein eigenes Insulin her und hat nur noch Vorräte für höchstens zwei Monate. 200 Millionen Dollar sind nötig, um das Land ein Jahr mit Insulin zu versorgen.

Die immer stärkere Verarmung der Bevölkerung führt zu einer schnellen Verbreitung von sozial bedingten Krankheiten, wie Drogensucht, Alkoholismus, Aids und Tuberkulose. Die Zahl der Tuberkuloseerkrankungen verdoppelte sich in den vergangenen fünf Jahren und liegt nun bei 73 Fällen bezogen auf 100.000 Einwohner. Internationalen Standards zufolge spricht man ab 50 Fällen von einer Epidemie. In den Gefängnissen und Straflagern leidet sogar jeder zehnte Häftling an dieser Krankheit.

1998 erkrankten 365.000 an Syphilis und 10.000 waren HIV-infiziert. Prognosen erwarten für das Jahr 2000 ein Ansteigen der Zahl der Infizierten auf nahezu 800.000. Insgesamt wurde bei 40 Prozent der Bevölkerung eine Schwächung des Immunsystems festgestellt. Jeder zweite Bewohner des Landes trinkt Wasser, das nicht den internationalen Normen entspricht. Mehr als 11 Millionen Menschen oder 7 Prozent der Bevölkerung sind Invalide. Jeder sechste von ihnen ist jünger als 45 Jahre.

Die soziale Krise hat mittlerweile Ausmaße angenommen, wie sie seit den Jahren der Weltkriege unbekannt waren. Selbst einer der eifrigsten Verfechter der kapitalistischen Reformen, Harvardprofessor Richard Pipes, mußte feststellen, daß "die Situation ... ohne Parallelen ist".

Die Regierung Primakow, seit September im Amt, ist der politische Ausdruck der Krise. Nicht eines der brennenden Probleme hat sie angepackt. Statt dessen laviert sie zwischen dem Anwerfen der Notenpresse, um die Wut der Bevölkerung zu dämpfen, und einer Neuauflage des Reformprogramms, um das Vertrauen des internationalen Kapitals wieder herzustellen, wobei sie gleichzeitig versucht, den Interessen der Finanzoligarchen Rechnung zu tragen.

Doch die Folgen der Asienkrise und der Preisverfall auf den Weltrohstoffmärkten, von denen Rußland stark abhängig ist, machen eine offene Konfrontation mit der Bevölkerung zunehmend unausweichlich. Jegor Jawlinsky, Vorsitzender der liberalen Jabloko-Partei, hat kürzlich deutlich gemacht, wie liberale Wirtschaftsreformen heute aussehen müßten: drastische Kürzungen von Unternehmenssteuern, Reduzierung des Staatshaushaltes auf ein Minimum und Schließung aller verbliebenen "ineffizienten" Betriebe. Solche Maßnahmen lassen sich nicht unter dem Deckmantel der "Demokratie" verwirklichen.

In dieser Situation erheben nationalistische und chauvinistische Kräfte ihr Haupt. Die Kommunistische Partei setzt ebenso wie Juri Luschkow, Bürgermeister von Moskau und Begründer der Partei "Vaterland", auf die nationale Karte. Antiamerikanische und antisemitische Parolen gehören längst zur gängigen Begleitmusik. Wie Lukaschenko in Weißrußland versuchen sie so, die Interessen der in den vergangenen Jahren stark gebeutelten einheimischen Bourgeoisie zu verteidigen.

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

Russlands Finanzkrise soll auf den Rücken der Arbeiterklasse abgewälzt werden

Das neue Anti-Krisen-Programm setzt auf Massenentlassungen, Preissteigerungen und Steuersenkung für Reiche

Von Wladimir Wolkow und Patrick Richter
8. Juli 1998

Anfang vergangener Woche legte die Regierung Kirijenko, begleitet von einer bombastischen Medienkampagne, ein Anti-Krisen-Programm vor, um den bedrängten Rubel zu stützen und die akute Finanzkrise zu überwinden.

Das auf drei Jahre angelegte Programm sieht massive Kürzungen der Staatsausgaben (nach früheren Angaben um umgerechnet 12,3 Mrd. DM), die Reduzierung des Personals im Regierungsapparat um 20Prozent, eine beschleunigte Steuerreform und drastische Steuereintreibungen vor.

Es kursieren Zahlen, daß bis zum Ende des Jahres Entlassungen von 70.000 Staatsbediensteten und die Einführung einer 5prozentigen Verkaufssteuer geplant sind. Auf der anderen Seite existieren nach Angaben des Leiters des Staatlichen Steuerdienstes, Boris Fjodorow Pläne, die Gewinnsteuern von 35 auf 20 Prozent zu senken und die Vergünstigungen für Investoren drastisch auszudehnen.

Hintergrund für diesen Schritt sind Verhandlungen mit dem IWF über die Freigabe der nächsten 670 Mill. $-Tranche aus dem 10 Mrd. $-Kredit, der an die strikte Einhaltung von Bedingungen geknüpft ist. Infolge der sich Ende Mai zugespitzten Finanzkrise wollte sich der IWF nicht mehr weiter mit Absichtserklärungen zufrieden geben sondern von der russischen Regierung endlich Fakten sehen.

Die derzeitige Krise ist seit letzten Herbst die dritte und schwerste in einer Reihe von Erschütterungen, durch die Rußland immer weiter an den Rand eines Wirtschaftszusammenbruches gedrängt wird. Die ersten Erschütterungen wurden Ende Oktober/Anfang November 1997 spürbar und standen im Zusammenhang mit der starken Zuspitzung der "asiatischen Grippe". Sie machten alle zeitweisen Erfolge der Regierung aus dem Jahre 1997 zur Stabilisierung des Finanzsystems zunichte. Das zweite Mal brach die Krise Ende Januar diesen Jahres aus, in deren Folge es zur Herabsetzung des internationalen Kreditratings Rußlands und somit zu einer sprunghaften Verteuerung seines Schuldendienstes kam.

Spätestens mit dem durch die Wiederaufnahme der Lohnzahlungen erkauften Ende des Bergarbeiterstreiks geriet die Regierung mit ihrer Politik des Löcherstopfens durch die permanente Aufnahme immer neuer Kredite innen- und außenpolitisch in immer größere Bedrängnis.

Erste Schwierigkeiten, den regulären Verkauf neuer kurzfristiger Staatsanleihen (GKO) zur Finanzierung der Haushaltslöcher auf den Finanzmärkten unterzubringen, traten bereits am 13. Mai auf, nachdem durch ein am Vortag von Jelzin unterzeichnetes Gesetz die Beteiligung ausländischen Kapitals an Rußlands profitabelstem Energiekonzern "UES Rußland" beschränkt wurde. Die Spirale der Finanzkrise begann sich zu drehen.

Ungeachtet einer ganzen Reihe von Regierungserklärungen, daß auf den Finanzmärkten keinerlei Gefahren existierten, sah sich die Zentralbank bereits am Abend des 18. Mai zu außerordentlichen Schritten gezwungen und setzte den Refinanzierungssatz von 30 auf 50 Prozent herauf. Zu diesem Zinssatz können sich Geschäftsbanken bei der Zentralbank Geld leihen, das sie wiederum an Unternehmen weitergeben.

Spekulanten, die eine Währungsabwertung erwarten, nehmen Rubel-Kredite auf, um diese in Dollar einzutauschen. Nach erfolgter Abwertung bekommen sie für ihre Dollar erheblich mehr Rubel und streichen die Differenz als ihren Gewinn ein. Doch trotz Zinserhöhung erhöhte sich der Spekulationsdruck auf den Finanzmärkten weiter.

Unmittelbarer Auslöser für das dritte Auflodern der Krise wurde dann die fehlgeschlagene Privatisierung des Ölriesen Rosneft für 2,1 Mrd. US-Dollar. Wegen des dramatischen Ölpreisverfalls auf den Weltmärkten konnte kein Käufer gefunden werden.

Um die reguläre Unterbringung weiterer GKO's zur Finanzierung des sich immer weiter vergrößernden Haushaltslochs sicherzustellen, mußte die Regierung am 27. Mai die GKO-Verzinsung auf 80 Prozent erhöhen, was eine regelrechte Panik auslöste, die sich auf die Aktien- und Devisenmärkte übertrug. Es kam zu rasanten Kurseinbrüchen. Allein an diesem Tag sackte der Moskauer Aktienindex um 11 Prozent ab und hat im Vergleich zum Jahresbeginn mittlerweile nahezu 50 Prozent verloren.

Der Kurs des Rubels durchbrach den, mit internationalen Finanzinstitutionen festgelegten Schwankungsspielraumes von 6,2 Rubel pro US-Dollar. Um eine Ausweitung von Chaos und Panik zu verhindern, ging die Zentralbank zum Äußersten und erhöhte den Refinanzierungssatz auf das Dreifache, von 50 auf 150 Prozent.

Der zunehmende Vertrauensverlust von Banken und Unternehmen in die Regierung konnte aber auch dadurch nicht überwunden werden. Die Befürchtung, daß die Regierung nicht in der Lage sein wird, ihren Verpflichtungen nachzukommen, hatte zu Panikverkäufen von GKO's und Aktien russischer Unternehmen geführt. Die damit erlösten Rubel wurden in Dollar umgetauscht und setzten die Währung erneut unter Druck.

Die Schwäche der Regierung zeigt sich auch in den sinkenden Steuereinnahmen. Im ersten Quartal dieses Jahres wurden nicht mehr als 40 Mrd. Rubel (ca. 6,6 Mrd. Dollar) durch Steuern eingenommen, eine Situation, die sich im April noch weiter verschlechterte. Demgegenüber wird allein der Schuldendienst für GKO's im zweiten Quartal mehr als 120 Mrd. Rubel (ca. 19,7 Mrd. Dollar) erfordern. Jede Erhöhung der Zinsen um 1Prozent führt zu einer weiteren Erhöhung der Schuldenlast um mindestens 600 Millionen Dollar.

Jüngsten Angaben Kirijenkos zufolge müssen bereits jetzt 34 Prozent des Staatshaushaltes für die Tilgung der Schulden aufgebracht werden, worin jedoch nicht die noch ausstehenden Lohnzahlungen enthalten sind, die am 1. Juni ein Volumen von 19 Mrd. DM erreichten.

Während die Regierung versucht, durch drastische Zinserhöhungen die Spekulationsgelder einzudämmen, schnürt sie gleichzeitig der Wirtschaft die Geldzufuhr ab und versetzt ihr dadurch einen schweren Schlag.

Die Zeitung Komsomolskaja Prawda schrieb am 29. Mai: "So kann über den wirtschaftlichen Aufschwung, der den Russen in diesem Jahr versprochen worden ist, ein Kreuz geschlagen werden. Zu solch gigantischen Zinsen, wie sie jetzt festgesetzt worden sind, kann kein Unternehmen bei einer Bank Geld aufnehmen und die Produktion in Gang halten. Es ist unmöglich, Kredit aufzunehmen, um Löhne auszuzahlen oder eine Wohnung zu kaufen".

"Am unangenehmsten ist es", erklärte der Kommentator der Iswestja, W.Nikonow, "daß die Chancen auf ein wirtschaftliches Wachstum begraben werden mußten, an das die Hoffnungen von Präsidenten und Regierung geknüpft waren, die wichtigsten sozialen und wirtschaftlichen Lücken in diesem Jahr schließen zu können" (2. Juni).

Es gibt viele weitere Hinweise darauf, daß sich die wirtschaftliche Lage Rußlands dramatisch verschlechtert. Die Goldreserven schrumpften von 22,9 auf 14,7 Mrd. Dollar. Das Bruttosozialprodukt sank allein im Mai um 1,2 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahresmonat. Am 8. Mai mußte die Tokobank, eine der größten russischen Banken, nachdem sie ihre Zahlungsunfähigkeit bekanntgab, von der Zentralbank unter Zwangsverwaltung gestellt werden.

Die durch die Asienkrise noch verstärkten weltweiten deflationären Tendenzen führten zu einem immer stärker werdenden Verfall der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. Die Preise für Erdöl halbierten sich von 25 Dollar pro Barrel im Januar 1997 auf weniger als 13 Dollar im Juni 1998, die für Schwer- und Edelmetalle fielen im gleichen Zeitraum auf 30 Prozent. Rußlands Exporte sinken angesichts dieser Entwicklung ständig und gingen schon im ersten Quartal vergangenen Jahres um 15 Prozent zurück, was wiederum sinkende Steuereinnahmen zur Folge hat.

Die Regierung kann ihre Politik des Lavierens und der halben Maßnahmen nicht länger fortsetzen. Eingekeilt zwischen dem wachsenden Druck der Arbeiter, von denen viele seit Monaten auf ihren Lohn warten und sich nicht länger mit leeren Versprechungen abspeisen lassen wollen, und den drastischen Forderungen des IWF, steht sie mit dem Rücken zur Wand.

Ein weiteres Aufblasen der Schuldenpyramide würde unabwendbar den Zusammenbruch der Staatsfinanzen zur Folge haben. Die Konsequenz wäre eine Abwertung des Rubels um zweistellige Prozentwerte und die Entfesselung einer Hyperinflation mit verheerenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die deutsche Wirtschaftszeitung Handelsblatt zitiert in ihrer Ausgabe vom 1. Juli den russischen Finanzminister Michael Sadornow mit den Worten: "Nicht mehr als 30 der 1500 Banken würden eine Abwertung überleben."

Angesichts dieser Situation beschäftigt sich Präsident Jelzin seit mehreren Monaten mit der Bildung einer neuen Regierung, die bereit und in der Lage ist einen neuen, viel härteren Angriff auf die Rechte und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse durchzusetzen. Bei der Berufung Kirijenkos zum Premierminister hat er sich für einen Mann entschieden, der diesem Programm des IWF treu ergeben ist. Kirijenko ist ein kaltblütiger Technokrat, dessen Karriere im Schoß der Sowjetbürokratie begann.

Aus dem selben Grund wurde der von den internationalen Finanzinstitutionen für seine Entschlossenheit anerkannte Reformer Anatoli Tschubais am 17. Juni von Jelzin wieder in Amt und Würden eingesetzt. Er war auf Betreiben der russischen Finanzoligarchie, die durch seine Reformen einen zu großen Einfluß des internationalen Kapitals befürchtete, wegen eines Korruptionsskandals im März als Vize-Premier entlassen worden.

Die Moskauer Wirtschaftszeitung Kommmersant-Daily brachte ihre Verwunderung über die neuerliche Berufung unter dem biblischen Titel "Die Dritte Erscheinung" zum Ausdruck. Kein anderer als Tschubais unterhält so enge Verbindungen zu IWF und Weltbank. "Wir haben nur einen Tschubais" erklärte Jelzin sein Festhalten an dem bereits zweimal Entlassenen, der einen neuen IWF-Kredit von bis zu 15 Mrd. Dollar aushandeln soll. Die von Tschubais angekündigten Maßnahmen dürften den IWF zufriedenstellen: weitere Haushaltskürzungen um mehr als 40 Mrd. Rubel (ca. 6,6 Mrd. Dollar) oder 8 Prozent des Staatshaushaltes und eine Erhöhung der Steuereinnahmen.

Mit Boris Fjodorow wurde ein ehemaliger Finanzminister zum Chef der Steuerbehörde ernannt, der wegen seines damaligen "Übereifers" ebenfalls mit der Finanzoligarchie zusammenstieß. Das renommierte britische Finanzjournal The Economist bemerkte dazu am 27. Juni folgendes: "Die Regierung Kirijenko wird durch Boris Fjodorow und die Wahl von Anatoli Tschubais mit zwei der konsequentesten und bewußtesten Reformer Rußlands unterstützt. ... Unbemerkt bekam Rußland nun seine seit 1992 am einheitlichsten reformorientierte Regierungsmannschaft".

Mit dieser Politik wird ein offener Schlag gegen die große Mehrheit der Bevölkerung vorbereitet. Vor allem die noch zahlreichen staatlich subventionierten Betriebe und Bergwerke drohen nun reihenweise geschlossen zu werden. Das wird zu heftigen Klassenauseinandersetzungen führen. Die jüngsten Bergarbeiterstreiks, die große Teile des Landes lahmlegten, waren nur das Donnergrollen am Horizont. Die lange hinausgezögerte Konfrontation mit der Arbeiterklasse kann nun nicht mehr verschoben werden.

Sowohl die herrschende Elite Rußlands als auch die führenden Kreise des IWF bereiten sich auf gewaltsame Methoden vor. Trotz ihrer gegensätzlichen Interessen sind sie sich in ihrer Feindschaft gegenüber der Arbeiterklasse einig. Hinter der dünnen und lächerlichen Fassade der "russischen Demokratie" mit ihren unbeschränkten Vollmachten für den Präsidenten, laufen die Vorbereitungen auf ein anderes, diktatorisches Regime auf vollen Touren.

So wird General Lebed, der vor fünf Wochen mit massiver finanzieller Unterstützung von Boris Beresowski, dem reichsten Mann Rußlands, zum Gouverneur der sibirischen Region Krasnojarsk gewählt wurde und der gleich nach seinem Amtsantritt das Verwaltungsbudget um 30 Prozent kürzte, unabhängig von der Gunst Jelzins als Präsidentschaftskandidat aufgebaut.

Auch im Westen wird er zunehmend als künftiger Partner angesehen. Am 25. Juni erhielt er in Frankfurt am Main, in Anwesenheit von Regierungsvertretern den Hessischen Friedenspreis. Die Laudatio hielt Egon Bahr, der Architekt der "neuen Ostpolitik" der siebziger Jahre und ehemalige Ostberater der Brandt-Regierung. Doch der Lorbeeren nicht genug: neben seiner Stilisierung zum Friedensstifter wurde General Lebed dabei gleich noch zum "Demokraten" gekürt. Einen "Kranz, den aufzusetzen ich nicht die Kühnheit besitze" zeigte sich selbst Lebed über diese Ehrenbezeigung verwundert.

Die kommende Entwicklung in Rußland stellt die Arbeiterklasse vor die dringende Aufgabe selbst die Initiative zu ergreifen und als eigenständige politische Kraft in die gesellschaftliche Entwicklung einzugreifen. Das erfordert vor allem eine grundlegende politische Abrechnung mit dem Stalinismus.

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Rußland : soziale Lage end 11960 -->

Die Wiedereinführung des Kapitalismus in Rußland

Eine Bilanz

Von Juri G. Bobrow
9. Juni 1998

Der folgende Artikel wurde aus dem Russischen übersetzt. Er erschien ursprünglich im November 1997 in der russischen Zeitschrift „gleichheit" , die von Anhängern des Internationalen Komitees der Vierten Internationale herausgegeben wird.

Die Parlamentsdebatten über Jelzins Gesundheitszustand im Januar 1997 überschatteten den Rückblick auf die Ergebnisse der von Jelzin und Gaidar vor fünf Jahren eingeleiteten Reformen. Sie waren auf dem fünften Kongreß der Volksdeputierten im Oktober 1991 proklamiert worden, und der erste Schritt in ihrer Ausführung, die „Liberalisierung von Preisen und Einkommen", hatte am 2. Januar 1992 begonnen.

Folgende Beschlüsse waren gefaßt worden:

  • Sofortige Deregulierung der Preise, um ein Gleichgewicht auf dem Verbrauchermarkt zu erreichen.
  • Privatisierung der Staatsunternehmen zur Förderung einer „gesunden Mischwirtschaft mit starkem Privatsektor".
  • Abbau der Staatsausgaben (insbesondere Kündigung von Hilfsgeldern und Krediten an andere Länder).
  • Neuordnung des Steuersystems („die Steuern sollen nicht erwürgen, sondern Hersteller zu Investitionen anregen").
  • Drastische Begrenzung des Geldumlaufs.
  • Aufhebung aller „Beschränkungen des persönlichen Einkommens und der Möglichkeiten zu dessen ehrlichem Erwerb".

Nach der Annahme des Reformprogramms sanktionierte der fünfte Kongress das Ende sozialistischer Reformen und den Übergang zum „Aufbau des Kapitalismus". Die 70 Jahre des „kommunistischen Experiments" wurden tabuisiert. Die liberal-demokratische Öffentlichkeit begrüßte die Rückkehr des Landes „auf den Weg der normalen Entwicklung".

Auf politischem Gebiet schlossen sich folgende radikale Reformen im Sinne der bürgerlichen Demokratie an:

  • Im August 1991 die Niederschlagung des Versuchs des konservativen Teils der Bürokratie, den „Status quo" wiederherzustellen, was mit dem Kollaps der „Partokratie" endete. [1]
  • Im Dezember 1991 die Entlassung des von Gorbatschow geführten liberalen Teils der Bürokratie (das Beloweschski-Abkommen) und die anschließende Auflösung der Union.
  • Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter setzte keinerlei Vertrauen mehr in die Fähigkeit der früheren „kommunistischen" Führungsriege die Krise zu überwinden.
  • Eine breit angelegte antikommunistische Kampagne, um den Sozialismus zu diskreditieren, indem man den Stalinismus als wahres Wesen des Sozialismus darstellt.

Die Arbeiter verloren ihr Vertrauen in den Kommunismus und setzten ihre Hoffnungen in die Zukunft des Kapitalismus, der den Menschen „Freiheit, Wohlstand und Glück" bringen sollte. Mit folgenden Worten beurteilte der Chefreformer die Perspektiven der Reformen:

„Der sofortige Übergang zu Marktpreisen ist eine harte, aber notwendige Maßnahme. Das Leben wird für alle ungefähr ein halbes Jahr lang schwieriger und schlechter werden. Aber dann werden die Preise fallen, die Konsumbedürfnisse werden reichlich befriedigt werden. Im Herbst 1992 wird sich die Wirtschaft stabilisieren und der Lebensstandard der Menschen wird sich allmählich verbessern." (Boris Jelzins Rede auf dem fünften Kongress der Volksdeputierten am 18. Oktober 1991).

Man kann nicht behaupten, daß offensichtliche Probleme zu dieser Zeit ignoriert wurden:

„Ein hoher Grad an Monopolität ist charakteristisch für die russische Wirtschaft. Ein beträchtlicher Teil der Produkte wird in gigantischen, konkurrenzlosen Unternehmen hergestellt." Diesem Problem begegnete man mit einem „Paket an Maßnahmen, welche auf eine Reduzierung der Monopole und eine Erhöhung der Konkurrenz abzielen".

Als Hauptquelle für einen wirtschaftlichen Aufschwung sah man die Umwandlung der Rüstungsindustrie an, welche die Reduzierung der Streitkräfte bei einer „sozialen Absicherung für Dienstleistende und Pensionäre" beinhaltete.

Soweit die Vorsätze der „Reformer". Anläßlich des fünften Jahrestages seit dem Beginn der Reformen ist es angezeigt, die Ergebnisse mit den erklärten Absichten zu vergleichen.

Finanzielle Stabilisierung

Entgegen den Vorhersagen, die ein Sinken der Preise in annähernd einem halben Jahr ankündigten, stiegen die Preise nach amtlichen Statistiken bis April 1992 um 740 Prozent. Bis 1995 waren die Preise um das zehntausendfache gestiegen.

Die neuen Monopolisten, die keinerlei Kontrolle unterlagen, steigerten ihre Profite nicht durch eine vermehrte Produktion, sondern durch die Erhöhung der Preise. Dieser Prozeß dauerte auch nach 1995 an, als Tschernomyrdins Regierung einen simplen und originellen Weg zur Bekämpfung der Inflation erfand: Die Regierung stellte die Auszahlung der Löhne, die ohnehin nur um das 1500fache gestiegen waren, auf unbestimmte Zeit zurück.

Die von der Regierung beschlossene Nichtauszahlung der Löhne war Anlaß für eine epidemische Lohneinbehaltung auf Seiten der Unternehmer. In der Zeit von 1995-1996 stieg der Gesamtbetrag an nicht ausgezahlten Löhnen und Gehältern von 30 auf 40 Billionen Rubel und erreichte Anfang 1997 mit 50 Billionen Rubel seinen vorläufigen Höchststand. Natürlich führte diese künstliche Einschränkung der Kaufkraft zu einer Verringerung der Preise. Doch ist diese Situation sehr weit von einer finanziell stabilen Lage entfernt. Der Internationale Währungsfond weiß das und hält deshalb periodisch seine Dollarzuwendungen zurück.

Ausstände, Hungerstreiks und Massenproteste gegen die Nichtauszahlung der Löhne wurden 1997 zum alltäglichen Bestandteil des politischen Lebens. Tschernomyrdins Finanzpolitik führte zur Verarmung der Bevölkerung.

Privatisierungen

Die Privatisierung von Staatsbetrieben war ohne zahlungskräftige Käufer unmöglich. Als die Reformen eingeführt wurden, existierten diese Käufer allerdings nicht. Sie entstanden erst infolge der „Liberalisierung der Methoden zur Einkommensbeziehung".

Diese Methoden waren in der Tat vielfältig. In einem Interview des Playboy-Magazins (russische Ausgabe) sagte einer der Hauptprofiteure des russischen Kapitalismus, B. Beresowski, daß er erst ab dem Zeitpunkt zum Geschäftsmann wurde, als „das, was früher Spekulation hieß, in Geschäftssinn umbenannt wurde." Es war eben die Spekulation (in Waren und Währungen), aus der die post-sowjetische Bourgeoisie hervorging. Eine enorm wichtige Rolle spielten dabei die (von Tschubais erfundenen) Anteilscheine, die jedem russischem Bürger zum Kauf angeboten wurden. Der Erwerb solcher Scheine in großem Umfang ermöglichte dem Käufer, zum Teilhaber eines Unternehmens, d.h. zum Eigentümer zu werden. Auch das durch allerlei Schwindel und Betrügereien - Drogenhandel und Prostitution - gescheffelte schmutzige Geld trug maßgeblich zur Herausbildung der post-sowjetischen Eigentümer bei.

Doch die besten Chancen zum Eigentumserwerb besaß die „Nomenklatura" (die ehemalige sowjetische Führungsriege). Von früheren Ministern geleitete Finanzkonzerne wurden zu „autorisierten" Kommerzbanken. Frühere sowjetische Verwaltungsbeamte erwarben die nötigen Lizenzen zum Export von strategisch wichtigen Rohmaterialien. Das sind nur zwei der verschiedenartigen Formen, die der Privatisierungsprozeß bei der Nomenklatura annahm.

Dieser Prozeß fand nicht offen statt, aber er spiegelte die Perspektiven der Reformen in vollendeter Form wider: mit allen Mitteln „ineffiziente" Staatsbetriebe zu ruinieren. Unter dem Vorsitz von Tschubais verkaufte das Komitee für Staatseigentum den Staatsbesitz zu Schleuderpreisen an die Nomenklatura und an aufsteigende Kriminelle. Schließlich führte dieser Prozeß zur Entstehung von sieben bis mächtigen Finanz- und Industriegruppen, welche die Schlüsselsektoren in der russischen Wirtschaft kontrollieren. Die Staatsmonopole wurden von den Privatmonopolen abgelöst, es bestand aber weder ein „freier Markt" noch „Wettbewerb" [2].

Anfang Herbst 1995 wurden Anteile privatisierter Unternehmen versteigert. Damit beabsichtigte man eine beschleunigte und stärkere Konzentration von früherem Gesellschaftseigentum in den Händen der größten Finanz- und Industriegruppen. Bei den Versteigerungen gab es praktisch keine Konkurrenz. Das Eigentum wurde den Banken übertragen, die 1996 Jelzins Wahlkampf unterstützt hatten. Der Vorsitzende der Oneximbank, Potanin, bekam sowohl einen Ministerposten als auch die Nickelfabrik in Seweronickel geschenkt. Die Most-Gruppe erhielt einen Fernsehsender. Herr Beresowski wurde Vize-Vorsitzender des Sicherheitsrates, ohne dabei seine kommerziellen Aktivitäten zu unterbrechen. Somit wurde aus der „Privatisierung von Eigentum" die „Privatisierung von Macht".

Der Niedergang der Wirtschaft

Eine Frage stellt sich selbstverständlich:

Was war der wirtschaftliche Effekt der „finanziellen Stabilisierung" und „Privatisierung" ? Führte die Regierungspolitik zu einem Wirtschaftswachstum, wie in Aussicht gestellt ?

Die Antwort lautet: Genau das Gegenteil ist eingetreten. Die Regierungspolitik führte zu einem wirtschaftlichen Kollaps und zur Zerstörung der entwickelten Industrie.

Die Gesamtproduktion fiel auf 40-50% des sowjetischen Levels (20-30% im Fall der Elektrizitäts- und Nahrungsmittelindustrie ). Die Industrieausrüstung wurde nicht ersetzt. Die Ausgaben für den Bereich der Wissenschaft sind auf armselige 0,37% des staatlichen Gesamtbudgets reduziert worden (weniger als in Finnland).

Der Handel mit Naturressourcen macht 70% der Staatseinnahmen aus. Aber es lohnt sich nicht, die Produktion zu steigern, wenn die Monopolisten die Preise für Rohmaterial, Energie und Halbfertigwaren überteuern und die Nachfrage aufgrund der Massenarmut gering ist. Der Agrarsektor war stärker als alle anderen Sektoren betroffen (in der Region Leningrad fiel der Schweine- und Rinderertrag um das 7- bzw. 5fache).

Einheimische Produkte wurden durch Importe ersetzt. Ausländische Firmen dominieren nicht nur die Computer- und Elektroindustrie, sondern auch den Nahrungsmittelmarkt. Das ist typisch für eine Kolonialwirtschaft.

Der Export von Metallen, Gas und Öl bringt extrem hohe Gewinne, doch selbst diesen Industriezweigen fehlt das Geld für Modernisierungsmaßnahmen. Die neuen Eigner der Produktionsmittel bevorzugen, den Profit so schnell wie möglich zu exportieren, anstatt ihn in die Modernisierung der einheimischen Industrien zu investieren (1996 wurden, nach einer Einschätzung von Jawlinski, 22 Milliarden Dollar ins Ausland gebracht).

Wie ihre Vorfahren am Anfang des Jahrhunderts weicht die post-sowjetische Bourgeoisie der Modernisierung des Landes aus. Zu jener Zeit hatten die Bolschewiki diese historische Aufgabe übernommen.

Der Staatsbankrott

Die Regierung hatte erwartet, daß die Privatisierung des Staatseigentums dem Staat hohe Einnahmen bescheren werde: erstens aus dem Verkaufserlös und zweitens aus der Gewinnbesteuerung der neuen Eigner.

Doch die halb-kriminellen Eigentümer setzten alle Hebel in Bewegung, um ihre steuerpflichtigen Einkünfte zu „minimieren". So wurden Beamte bestochen, damit sie den Wert des zum Verkauf stehenden Eigentums zu gering ansetzten. Unter den neuen Geschäftsleuten gehörte Steuerhinterziehung zum „guten Ton" (In den ersten Monaten des Jahres 1997 wurden lediglich 53% der Steuern eingetrieben).

Diese Entwicklung führte de facto zum Staatsbankrott. Der Staat war nicht mehr in der Lage, seinen Verpflichtungen gegenüber den Angestellten im öffentlichen Dienst nachzukommen. Als alleiniger Eigentümer hatte der frühere Staat den Wissenschafts-, Bildungs-, und Verteidigungssektor unterhalten. Er hatte eine Armee aufrechterhalten, die so mächtig wie die US-Armee war, seinen Bürgern eine nahezu kostenlose medizinische Versorgung gewährleistet und darüber hinaus noch viele andere Staaten unterstützt.

Nach dem Verkauf des „ineffizienten" Staatseigentums versagten die „Reformer" bei dem Versuch, irgend etwas besser zu gestalten. Die Dollareinkünfte in Millionenhöhe umgingen die Wissenschaft, Bildung, Industrie und Kultur. In den Jahren der „Reform" verteilte sich das Gesamtvermögen des Staates extrem ungleich unter den verschiedenen Gesellschaftsklassen. Nach der Aushändigung des Nationalvermögens an ausgemachte Gauner verlor der Staat jegliche Mittel, um die Industrie, die Armee oder soziale Leistungen zu finanzieren. Die große Hoffnung auf ausländische Investitionen hat sich nicht erfüllt.

Zur Zusammenfassung:

  • Anstatt Millionen von Eigentümern Massenarmut und die Enteignung der Ersparnisse von Millionen Bürgern;
  • Anstatt eines „fairen Wettbewerbs freier Unternehmer" eine von Monopolen dominierte, korrupte Wirtschaft;
  • Anstatt einer „Herrschaft des Gesetzes" eine unkontrollierbare Bürokratie und eine wuchernde Kriminalität;
  • An die Stelle der Privilegien für Parteibosse trat der Besitz von Privatvillen für Regierungsbeamte in der Schweiz oder auf den Kanaren;
  • Anstatt eines Produktionsanstiegs ein Steuersystem, das den illegalen Ausfluß von Kapital fördert;
  • Anstatt einer finanziellen Stabilisierung eine Wiederkehr des Tauschhandels, umfangreicher Umlauf von Devisen und Ersatzgeld und der Mangel an Billionen Rubel;
  • Anstatt einer Militärreform eine moralische und materielle Degradierung der Armee, wie beim Tschetschenienkrieg offenbart.

Die Diagnose ist klar: das totale Scheitern der „liberalen Reformen". Unter den Bedingungen einer monopolistischen Wirtschaft können auch die freien Preise den Neuaufbau der Industrie nicht bewerkstelligen; die künstliche Reduzierung der Inflation führte nicht zu einem Investitionsboom. Die neuen Besitzer des früheren Staatseigentums erwiesen sich als unfähig, eine vernünftige und intelligente Wirtschaftspolitik zu betreiben.

Die Aussichten: Seit Anfang 1997 liegen die katastrophalen Ergebnisse der Wirtschaftsreformen offen zutage. In seiner Ansprache an den Föderationsrat vom 17. April 1997 bestätigte Tschubais die „monströse Haushaltskrise".

Unter Bewahrung der alten totalitären Tradition, welche er sich in seiner 30jährigen Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei zu eigen gemacht hatte, bildete Jelzin sein Kabinett (zum sechsten Mal seit 1992) um, ohne seine „Reformpolitik" zu ändern. Er formte ein neues „Mischkabinett" welches aus hohen Repräsentanten der alten Parteifunktionäre (unter der Leitung von Tschernomyrdin) und Vertretern des ultraliberalen Gaidar-Stils (Tschubais, Nemzow, Koch) bestand. Jelzins Intention war die Budgetsanierung ohne Beschneidung der Monopolprofite.

Dies hieß, daß die Armen zahlen mußten. Wohnungsreform: die Armen wurden obdachlos. Rentenreform: die Regierung entledigte sich jeder Verantwortung zur Auszahlung der Renten. Steuerreform: ein Ansteigen der Steuerlast für einfache Leute.

„Unprofitable" Unternehmen wurden geschlossen, die Gelder für Wissenschaft, Bildung und Gesundheit wurden weiter gekürzt. Das gleiche Reformpaket mußte auch zum gleichen Ergebnis führen: zur weiteren Ausbreitung von Armut, Unwissenheit und Kriminalität.

Mittlerweile entwickelt sich die Lage gemäß dem Szenario von 1917. Wie damals kam die heutige Regierung unter den Parolen „Demokratie", „Frieden" und „Menschenrechte" an die Macht. Nach fünf Jahren wird klar, daß diese Slogans bloße Worthülsen waren, hinter denen sich allerdings die Ambitionen derjenigen verbargen, die ihren Landsleuten das Eigentum stehlen und dies dann „Privatisierung" nennen. Die Politik der heutigen Reformer ist noch antisozialer als die Politik der russischen Liberalen im frühen zwanzigsten Jahrhundert.

Aus folgenden Ursachen hofft das heutige Regime eine Stabilität zustande bringen zu können: die obere Schicht der Gesellschaft hat einen hohen Lebensstandard aufgrund des Exports von Rohmaterialien und externer Darlehen; als Folge der jahrzehntelangen totalitären Herrschaft verfügen die Arbeiter über wenig Erfahrung mit einer eigenen Interessensvertretung; die „freien" Massenmedien versuchen ununterbrochen der Bevölkerung eine Gehirnwäsche zu verpassen; im Gegensatz zur regulären Armee besitzt die sogenannte Spezialpolizei eine moderne Ausstattung und Geld.

Doch solche Faktoren können nicht lange ausreichen. Der Staat, der es den neuen Kapitalisten erlaubte, die Bevölkerung auszurauben, und der jetzt deren Besitz verteidigt, kann das Vertrauen der Menschen nicht halten. Es wäre naiv zu glauben, die „neuen Russen" würden jemals humanere Bedingungen für ihre Wirtschaftssklaven schaffen. Das Eigentum muß dem Volk zurückgegeben werden. Das Kapital, das aus jahrelanger Arbeit der Menschen geschaffen wurde, muß für die Menschen arbeiten, und nicht für den Klüngel der ex-sowjetischen Bosse.

Es ist eine neue politische Kraft notwendig, um einen Wechsel in der Politik zu erreichen - eine Kraft, die den Geldhahn zudreht, solange korrupte Beamte, Diebe und Gauner im Luxus leben, während alte Leute monatelang auf ihre kümmerlichen Pensionen warten müssen - die Kraft des Volkes.

„Regierung und Kontrolle nicht seitens der Kapitalistenklasse über die Arbeiter, sondern umgekehrt, das ist des Pudels Kern. Nicht Vertrauen zum 'Staat', das eines Louis Blanc würdig ist, sondern Forderung nach einem von den Proletariern und Halbproletariern geleiteten Staat, so muß der Kampf gegen die Zerrüttung geführt werden. Jede andere Lösung ist nur Phrase und Betrug." („Prawda" vom 17. Juni 1997, Werke Bd. 25, S. 33)

Nichts beschreibt die gegenwärtige Lage in Rußland besser als dieses Zitat von Lenin.

Anmerkungen:

1. Der Autor schätzt die Ereignisse vom August 1991 nicht ganz richtig ein. Das Notstandskomitee trachtete nicht nach einer Restaurierung des „Status quo". In den Erklärungen der Putschisten finden sich keine Forderungen nach der Wiederherstellung der sowjetischen Gesellschaft oder deren sozialer Grundlagen. Das Notstandskomitee wollte lediglich den Prozeß der kapitalistischen Restauration in den Händen der konservativeren Schicht der sowjetischen Bürokratie halten.

2. Man muß dabei im Gedächtnis behalten, daß der Monopolismus den Wettbewerb nicht ausschließt. Es ist gerade umgekehrt, er intensiviert den Wettbewerb. Die Argumente nach einer anderen, abstrakten Norm des Wettbewerbs gehören eindeutig zur Denkweise der liberalen Philister. In allen Perioden seiner Entwicklung war der Kapitalismus mit dem erbittertsten Wettbewerb verbunden. Die neuen russischen Geschäftsleute wissen das sehr gut aus ihrer eigenen Erfahrung.

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site Row 1 --> Left Column --> End of Links --> Blank spacer column --> 450 pixel column for main page body -->

Links -->

Mailing list code start-->
Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Search Engine Code -->
Suche im WSWS


End Search Engine Code -->Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

 SHTML page goes here --> 11960 -->WSWS : WSWS/DE : Aktuelle Analysen : Russland : soziale Lage end 11960 --> Druckversion -->

Druckversion | Link per email versenden | Email an die Redaktion

end Druckversion -->

Tödliche Arbeitsbedingungen in ukrainischen Bergwerken

35 Bergleute qualvoll erstickt

Von Andy Niklaus und Patrick Richter
20. Juli 2002

In der Nacht zum 7. Juli brach im Kohlebergwerk "Ukraina", nicht weit entfernt von der Stadt Selidowo, untertage ein Feuer aus, bei dem 35 Bergleute ums Leben kamen. Die Kumpel wurden in 700 Meter Tiefe vom Feuer eingeschlossen bzw. erstickten im Förderkorb auf dem Weg nach oben.

Nach aktuellen Erkenntnissen entzündete sich Kohlenstaub an einem defekten Förderband. Als das Feuer ausbrach, befanden sich 114 Bergleute in dem betroffenen Schachtabschnitt. 79 konnten sich aus eigener Kraft an die Erdoberfläche retten, von denen zwei mit Brandverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Einer der beiden erlag eine Woche später seinen schweren Verbrennungen.

Die meisten der Bergleute waren gerade erst um die 25 Jahre alt. Einer allerdings war bereits im 72. Lebensjahr, was ein bezeichnendes Licht auf die sozialen Verhältnisse wirft. Fernsehbilder zeigten geschockte und weinende Frauen, als die Toten geborgen wurden. Drei führende Manager wurden zwei Tage nach dem Unfall in Untersuchungshaft genommen und wegen Vernachlässigung und Verstoßes gegen Sicherheitsbestimmungen angeklagt.

Dieses tragische Unglück macht ein weiteres Mal deutlich, welches Ausmaß die soziale Krise in diesem Land angenommen hat. Die herrschende Schicht ehemaliger Sowjetbürokraten und junger Neuaufsteiger, die Schulter an Schulter mit Weltbank und Währungsfonds dieses arme Land auspressen, ziehen ihren Reichtum direkt aus dem Tod von Arbeitern und der breiten Mehrheit der Bevölkerung.

Ablauf und Umstände des jüngsten Unglücks spiegeln die Bedingungen der ukrainischen Bergarbeiter aufs dramatischste wieder, unter denen sie tagtäglich bei geringster Bezahlung ihr Leben riskieren. Es zeigt den Zynismus und die Selbstgefälligkeit der Herrschenden in Unternehmen und Politik, die den Tod der Bergarbeiter direkt in ihren Planungen und Berechnungen einkalkulieren. Weder unternehmen sie etwas, um die mit veralteter Technik laufenden Zechen zu schließen und anderweitig Arbeitsplätze zu schaffen, noch stellen sie Gelder bereit, um die Zechen sicherheitstechnisch so zu modernisieren, dass keine Menschenleben gefährdet sind.

Trotz frühzeitiger Informationen über Rauchentwicklung untertage wurde von dem diensthabenden Schichtleiter angeordnet, mit der Abfahrt von 56 Bergarbeitern in den Schacht fortzufahren, die zu dieser Zeit mit ihrer Schicht beginnen sollten. Erst nachdem die Information über das Feuer bestätigt wurde, rief er die Rettungsbrigaden zum Einsatz. Darüber hinaus ließ er die Ventilation umkehren, d. h. statt Luft in den Schacht zu drücken, wurde sie nun herausgesaugt. Ein Ingenieur warnte davor, dass damit die Arbeiter, die sich im Schacht befinden, dem Rauch ausgesetzt würden, was dann auch tatsächlich geschah. Alle 30 Bergleute, die sich gerade in einem Förderkorb auf dem Weg an die Oberfläche befanden und vier weitere, die unten auf den nächsten Aufzug warteten, erstickten qualvoll.

Mykola Shamoto, Vorarbeiter einer 16-Mann-Brigade, von der nur drei überlebten, sagte in einem Interview, dass die Bergleute starben, weil die Grubenleitung weder die notwendigen technischen Sicherheitsvorkehrungen in dem veralteten Bergwerk getroffen habe, noch für die Ausbildung in angemessenen Verhaltensregeln in derartigen Situationen gesorgt habe.

Wie die vorliegenden Untersuchungen deutlich zeigen, sind die 35 Bergleute tatsächlich einer ganzen Reihe von groben Fahrlässigkeiten zum Opfer gefallen, die bei heutigem Stand von Technik und Wissen längst der Vergangenheit angehören sollten. Erstens hätte bei einer halbwegs regelmäßigen Wartung der Fördertechnik der Defekt an dem Fließband frühzeitig bemerkt und behoben werden können. Zweitens hätte dieser zunächst recht kleine Brand leicht mit Handfeuerlöschgeräten gelöscht werden können - wären sie vorhanden gewesen.

Drittens stellte sich heraus, dass nur noch einer der Förderkörbe funktionierte, weil sich bei den restlichen die Aufzugführer schon in Sicherheit gebracht hatten. Viertens brachte dieses Unglück das Fehlen jeglicher Ausbildung der Belegschaft in grundlegenden Verhaltensregeln bei solchen Gefahrensituationen ans Licht.

In einer ersten Reaktion von Geschäftsleitung und zuständiger Gewerkschaft wurden sofort die Arbeiter selbst für ihren Tod verantwortlich gemacht. Wiktor Wernikowskij, Gewerkschaftsvorsitzender in Selidowo, behauptete, die Bergarbeiter hätten ihre Atemschutzgeräte "vernachlässigt" und außerdem "hätten sie nicht schnell genug reagiert".

Dabei wurde unterstellt, dass die Bergarbeiter angeblich gerade erst neue Atemschutzgeräte erhalten und dass diese sie vor dem sicheren Tod bewahrt hätten. Beides ist gelogen. Die verunglückten Bergleute trugen keine Atemschutzgeräte, weil die völlig veralteten Geräte schon seit langem nicht mehr funktionstüchtig waren und die Grubenleitung versprochene neue Geräte noch nicht verteilt hatte.

Auch die vom Parlament eingesetzte Untersuchungskommission unter Leitung von Vizepremier Oleg Dubina gab sofort den Arbeitern die Schuld. Am Mittwoch sagte Dubina voller Verachtung, "dass man das Feuer mit zwei Eimern Wasser hätte löschen können, doch die Arbeiter haben ihre Plätze im Schacht einfach verlassen".

Kein Einzelfall

Im ukrainischen Steinkohlenbergbau wird eine besonders makabere Statistik geführt: "Sie hat nichts mit Förderkosten, Preisen, also der Rentabilität der Zechen zu tun, sondern handelt von dem Material ‚Mensch‘", wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt. Dieser Statistik zufolge kostete die Förderung von 1 Million Tonnen Kohle im Jahr 1989 durchschnittlich 1,54 Bergleuten das Leben. 1999 - also nach zehn Jahren kapitalistischer Reformen - mussten 3,62 Arbeiter mit dem Leben bezahlen, während es allein in den ersten Monaten diesen Jahres schon 5 Tote für jede Million Tonnen Kohle sind.

Von den heute noch 209 betriebenen Zechen, in denen fast eine halbe Million Arbeiter beschäftigt sind, werden 75 Prozent in die höchste Gefahrenstufe eingeordnet. So starben seit der Unabhängigkeit der Ukraine vor elf Jahren mehr als 3700 Bergleute an Stickgasexplosionen, Einstürzen, Kurzschlüssen oder der Entzündung von Kohlenstaub. Die Ukraine steht nach China auf Platz 2 der Liste der Länder mit der höchsten Todesrate bei Bergarbeitern.

In 160 Gruben wurden seit mehr als zwanzig Jahren keine Erneuerungen oder Modernisierungen durchgeführt, obwohl entsprechende Bergbaureformpläne und Sicherheitsvorschriften existieren. Fast 50 Gruben sind über 100 Jahre alt. In 45 der Gruben wird seit 45 Jahren gefördert. Untertage brechen Stollen ein, weil die Stützpfosten vermodern. Bergleute ersticken im Schacht, weil die Ventilatoren ausfallen. Stromkabel liegen offen und entzünden sich. Stauerstofftanks funktionieren nicht. Schienenfahrzeuge brechen zusammen, da die Räder verrostet sind oder Metallwinden zerreißen.

Gaseintritte bleiben unbemerkt, weil keine Sensoren vorhanden sind. Sind Sensoren vorhanden, so ein Bergarbeiter gegenüber einem Fernsehteam der BBC, wird die rote Kontrolllampe, wenn sie bei Gasausbruch Alarm schlägt, in vielen Fällen einfach ausgeschaltet - jede Unterbrechung der Arbeit, egal warum, wird den Arbeitern nämlich direkt vom Gehalt abgezogen. Die Alternative lautet also: Sicherheit oder Lohn.

Hinzu kommt, dass viele der älteren und erfahreneren Arbeiter ihren Beruf aufgeben, weil sie sich dem enorm gestiegenen Arbeitsdruck nicht mehr gewachsen sehen. Junge unerfahrene und schlecht ausgebildete Arbeiter rücken nach, womit angesichts der fehlenden theoretischen Ausbildung die Professionalität der Beschäftigten immer weiter zurückgeht.

Im Zentrum des ukrainischen Steinkohlebergbaus, dem Donezbecken oder auch Donbass genannt, das sich in der Ostukraine nahe der russischen Grenze befindet und in dem die Städte Donezk und Lugansk liegen, führten diese Bedingungen zu einer ganzen Reihe tragischer Unglücke, bei denen nur im letzten Jahr insgesamt über 300 Bergleute ums Leben kamen.

Der bisher schwerste Unfall ereignete sich im März 2000 im Barakowa-Werk in Lugansk, als 80 Bergarbeiter ihr Leben verloren. Letzten August starben 55 Arbeiter bei einer Methangasexplosion in Donezk in der Zasiadko-Mine. Das staatliche Arbeiter-Sicherheitskomitee berichtete, dass im ersten Halbjahr dieses Jahres im Donbass schon 116 Bergarbeiter tödlich verunglückten, zu denen nun die 35 Opfer von Selidowo hinzugezählt werden müssen. Mit der traurigen Bilanz von 300 Toten wird wohl auch in diesem Jahr wieder zu rechnen sein.

Die rücksichtslose Ausbeutung der Steinkohlenindustrie ist in der sonst an Energievorräten recht armen Ukraine für die herrschende Schicht eines der wichtigsten Mittel, die Funktions- und Zahlungsfähigkeit des hochverschuldeten Landes zumindest auf einem gewissen Minimum aufrechtzuerhalten. Das Land hat dabei nicht nur gegenüber dem Westen Schulden, sondern auch gegenüber Russland, von dem die Ukraine Erdöl und Erdgas bezieht.

Obwohl Arbeitsbedingungen und Produktivität bei der Kohlegewinnung katastrophal sind, wird mit dem stillschweigenden Einverständnis der internationalen Finanzinstitutionen an der gegenwärtigen Funktionsweise dieses Sektors festgehalten - direkt auf Kosten von Gesundheit und Lebensniveau der Bergarbeiter.

Die Weltbank stellte der ukrainischen Regierung "zwischen 1996 bis 2000 Kredite in Höhe von 300 Millionen Dollar für die Sanierung der Schwerindustrie" zur Verfügung. Doch die Gelder "versickerten fast vollständig in der ukrainischen Korruption", d. h. die Weltbank finanziert mit diesen Geldern direkt eine Schicht von Schmarotzern aus Beamten und Geschäftsleitungen die sich auf Kosten der Arbeiter hemmungslos bereichern.

Vergleicht man die Produktivität der Ukraine mit anderen Ländern, so wird sehr deutlich, dass die Arbeiter für den Unterschied aufkommen müssen. In ukrainischen Bergwerken produziert ein Arbeiter 100 Tonnen Kohle pro Jahr, in Polen sind es 400 Tonnen und in amerikanischen Bergwerken 4000 Tonnen Kohle. Um also unter den Weltmarktpreisen für Kohle zu bleiben, wird kräftig bei den Arbeits- und Sicherheitsbedingungen eingespart.

Ein Bergarbeiter verdient durchschnittlich 100 Dollar pro Monat - wenn er sie überhaupt bekommt. Nach Schätzungen der Unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter stehen zurzeit Löhne in Höhe von 377 Millionen Dollar aus.

Für die Unternehmer und Staatsbeamten erfüllen die Gruben in der Ukraine eine wichtige Funktion. Sie sparen der Eisenindustrie und bei der Stromversorgung Devisen für den Erwerb von Energieressourcen auf dem Weltmarkt. Für die Arbeiter sind die Bergwerke oft die einzige Überlebenschance für sich und ihre Familien, denn bei einem Durchschnittslohn von 35 Dollar pro Monat verdient ein Bergmann noch vergleichsweise gut. Selbst wenn keine Löhne bezahlt werden, erhalten die Arbeiter wenigsten einmal am Tag eine warme Malzeit und auch die ärztliche Versorgung läuft über die Betriebe.

Gezielt an die Öffentlichkeit gebrachte Erwägungen, über 100 Gruben zu schließen, wie auch die ständig steigenden Lohnrückstände lösen unter breiten Teilen der Arbeiter Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aber auch Widerstand aus.

Immer wieder kommt es zu spontanen Protesten und Demonstrationen. Viele Arbeiter greifen als "letztes Mittel" zum Hungerstreik. Drei Arbeiter haben dabei in den vergangenen Monaten schon ihr Leben verloren. Der letzte starb im April dieses Jahres in Lugansk. Er war 68 Jahre alt.

Seit dem 4. Juni führen in der Hauptstadt Kiew vor dem Parlament ständig ein Dutzend Streikposten von der Miusinska-Zeche aus Lugansk eine Mahnwache durch. Sie vertreten weitere 88 Bergarbeiter, die sich seit dem 2. Juli im Hungerstreik befinden. Am Dienstag demonstrierten 100 weitere Kollegen aus Lugansk für die Zahlung ihrer Monatsgehälter und bessere Arbeitsbedingungen. Vergangene Woche stießen 50 Rentner dazu, die ihre Rentenzahlung einforderten.

Den Bergarbeitern wurde in manchen Fällen bis zu einem Jahr kein Lohn oder andere Sozialleistungen gezahlt. Allein der bestreikte Konzern aus dem Donbass schuldet den Arbeitern 17,35 Millionen Dollar. Am 10. Juli erklärte der ukrainische Finanzminister Igor Juschko, dass die Arbeiter am Ende der Woche einen Teil der ausstehenden Löhne überwiesen bekämen. Doch derartige Versprechen hörten die Arbeiter bereits öfter und ließen sich nicht beruhigem. Sie stehen weiterhin vorm Parlament. Drei der Hungerstreikenden sind mittlerweile ins Krankenhaus gebracht worden.

Siehe auch:
Ukraine: 10 Jahre Unabhängigkeit - eine soziale Katastrophe
(24. August 2001)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site


Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Suche im WSWS


Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

  WSWS : WSWS/DE : Arbeitskämpfe : Deutschland

Druckversion | Link per email versenden | Email an die Redaktion

Politischer Gezeitenwechsel in Deutschland

Lehren aus der Niederlage der IG Metall

Von Ulrich Rippert
4. Juli 2003

Manchmal sind es Ereignisse, die sich nur ein oder zwei Tage in den Schlagzeilen halten, die einen grundlegenden politischen Wendepunkt markieren. Erst später wird ihre historische Bedeutung in vollem Umfang sichtbar.

Die Entscheidung des IG-Metall-Vorstands, am vergangenen Sonntag den vierwöchigen Arbeitskampf in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie für gescheitert zu erklären, ist ein solches Ereignis. Es stellt die größte Niederlage der Gewerkschaft seit Jahrzehnten dar. Zum erstenmal seit 1954 hat die Gewerkschaft auf ganzer Linie vor dem Diktat des Arbeitgeberverbandes kapituliert und den Streik nach vier Wochen ohne jedes Ergebnis abgebrochen.

Dieser Streikabbruch hat nicht nur für die unmittelbar Betroffenen Bedeutung, sondern bildet den Auftakt zu einem Generalangriff auf die gesamte Arbeiterklasse. Gleichzeitig leitet er ein neues Stadium des gewerkschaftlichen Niedergangs ein. Als wäre ein Damm gebrochen, werden jetzt Unternehmerverbände und Regierung noch schärfer als bisher gegen alles vorgehen, was sich die Arbeiterklasse in den vergangenen fünfzig Jahren erkämpft hat. Der Mythos, dass die deutschen Gewerkschaften durch ihr relativ hohes Maß an Organisation und ausgeprägte Mitbestimmungsrechte in der Lage seien, amerikanischen Verhältnissen in Deutschland zu trotzen und den Sozialabbau aufzuhalten oder zumindest einzudämmen, ist endgültig widerlegt.

Verspätet, aber mit umso größerer Wucht setzt nun in Deutschland eine Entwicklung ein, die in den USA bereits 1981 begann, als der gewerkschaftliche Dachverband AFL-CIO tatenlos hinnahm, wie Präsident Ronald Reagan die Fluglotsengewerkschaft PATCO zerschlug, oder vor knapp zwanzig Jahren in Großbritannien, als Premierministerin Margret Thatcher den Streik der Bergarbeiter in die Knie zwang. Seitdem löste in diesen Ländern eine Niederlage der Arbeiterklasse die nächste ab.

Nun setzt diese Entwicklung auch in Deutschland ein. Die Schraube der Sozialreformen wird künftig weit schneller nach rückwärts gedreht. Nur zwei Tage nach der Kapitulation des IG-Metall-Vorstands unterschrieb der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, einen Tarifvertrag, der für die 100.000 Beschäftigten des Landes Berlin eine Bruttolohnsenkung von 8 bis 13 Prozent bedeutet.

Von den Medien und den Politikern aller großen Parteien wurde der Abbruch des Streiks, der für eine Angleichung der Arbeitszeit in den Ost-Bundesländern an Westniveau eintrat, überschwänglich begrüßt. Von Anfang an habe es sich bei diesem Arbeitskampf um das "falsche Ziel, zur falschen Zeit, am falschen Ort" gehandelt - so der Tenor der Kommentare. Dass diese Einschätzung über alle Parteigrenzen hinweg vertreten, in Presse, Funk und Fernsehen wiederholt und in Talkshows von Experten breitgetreten wird, ändert nichts daran, dass sie grundfalsch ist.

Der Streik ist nach vier Wochen nicht deshalb gescheitert, weil die Forderung falsch oder der Arbeitskampf unpopulär war. Im Gegenteil! Dass 13 Jahre nach der Wiedervereinigung die Beschäftigten der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie immer noch drei Stunden pro Woche mehr arbeiten müssen als ihre Kollegen in West-Betrieben und das Effektiv-Einkommen im Osten nur 70 Prozent des Westniveaus beträgt, wird nicht nur von den Betroffenen als Skandal empfunden.

Der Streik hatte große Unterstützung. Weit über 80 Prozent der befragten Mitglieder hatten sich dafür ausgesprochen und viele Nicht-Gewerkschaftsmitglieder hatten sich an den Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen beteiligt, obwohl sie keinerlei Streikunterstützung erhielten. In den Arbeitergebieten von Sachsen, Brandenburg und Berlin war immer wieder der Standpunkt zu hören: "Es ist höchste Zeit, dass die Gewerkschaft aktiv wird und etwas gegen die schreiende Ungleichheit in der Behandlung der Arbeiter in Ost und West unternimmt." Die Forderung nach mehr Gleichheit, selbst wenn sie auf die Frage der Arbeitszeit beschränkt war, stieß in der Bevölkerung auf viel Sympathie.

Aber die Gewerkschaftsführung war zu keinem Zeitpunkt bereit, diese breite Solidarität zur Stärkung des Streiks zu nutzen. Der machtvolle Propagandaapparat der größten Industriegewerkschaft der Welt lief auf Sparflamme. Die Streikenden wurden systematisch isoliert und schutzlos dem extremen Druck der Medien ausgesetzt.

In den Wirtschaftsverbänden, unter Politikern und Medienvertretern löste die Forderung nach mehr Gleichheit nahezu hysterische Reaktionen aus. Der Streik werde zu einem "Arbeitsplatzmassaker" führen und die Gewerkschaft hinterlasse mit diesem Arbeitskampf eine "blutige Spur" von wachsender Arbeitslosigkeit, war zu lesen. Die - von Ex-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) mitherausgegebene - Zeit forderte unverhohlen: "Das Streikrecht muss beschnitten werden."

Ein Grund für die hysterische Reaktion auf die Forderung nach gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen ist die EU-Osterweiterung, die von der deutschen Wirtschaft und Politik energisch unterstützt wird. Sie basiert auf der Voraussetzung, dass Osteuropa auch nach dem Beitritt zur EU ein Reservoir billiger Arbeitskräfte bleibt und die gewaltigen Lohnunterschiede auf lange Zeit erhalten bleiben. Um zu verhindern, dass Polen, Rumänen, Tschechen und Ungarn, die bald alle zur EU-Familie gehören, auch gleichen Lohn und gleiche Arbeitszeiten fordern, sollte diesem Begehren mit aller Macht ein Riegel vorgeschoben werden.

Streikbrecher im IG-Metall-Vorstand

Es waren aber nicht die aggressive Opposition der Unternehmerverbände und die Medienhetze, die den Streik schließlich zu Fall brachten. Gewerkschafter, die das behaupten und endlos über die "Abwehrfront der Unternehmer" lamentieren, müssen sich die Frage gefallen lassen: Was habt ihr denn erwartet? Die ablehnende Haltung der Wirtschaftsverbände war bekannt. Dagegen richtete sich ja der Streik.

Wichtigster Gegner des Streiks war eine rechte Seilschaft innerhalb der IG Metall, angeführt vom Vorsitzenden Klaus Zwickel. Diese Seilschaft fiel den Streikenden offen in den Rücken und sabotierte den Arbeitskampf nach Strich und Faden. Zwickel hatte sich bereits im Frühjahr deutlich gegen die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland ausgesprochen und war von Anfang an ein erklärter Gegner des Streiks.

Vor zwei Monaten setzte sich dann der Zweite Vorsitzende Jürgen Peters, zuständig für die Tarifpolitik, im Gewerkschaftsvorstand überraschend als Kandidat für die Nachfolge Zwickels durch, der im Herbst zurücktritt. Der von Zwickel auserkorene Nachfolger, der baden-württembergische Bezirksleiter Bertold Huber, zog den kürzeren. Seitdem verband sich mit dem Streik für die Einführung der 35-Stundenwoche im Osten auch ein Machtkampf innerhalb der IG Metall um die Nachfolge Zwickels.

Sabotage und Streikbruch, anders kann man das Vorgehen von Klaus Zwickel nicht bezeichnen. Hinter dem Rücken der Streikleitung signalisierte er dem Arbeitgeberverband seine Opposition gegen die Forderung der Streikenden und deutete an, dass ihm ein Scheitern des Arbeitskampfs angesichts der innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung nicht ungelegen käme. Die Arroganz und das provokante Vorgehen von Martin Kannengießer, dem Präsidenten des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, beruhte vor allem darauf, dass er den Gewerkschaftschef hinter sich wusste.

Gleichzeitig nahm Zwickel Verbindung zu den Betriebsratsvorsitzenden der großen Autowerke im Westen auf und verabredete eine gezielte Kampagne gegen den Streik, sobald der Produktionsausfall in den ostdeutschen Auto-Zulieferbetrieben zu Kurzarbeit in den westliche Stammwerken führen werde. Statt die Streikauswirkungen im Westen zu nutzen, um den Druck auf die ostdeutschen Arbeitgeberverbände zu erhöhen, wurden die Streikenden von mehreren Seiten in die Zange genommen.

In der entscheidenden Verhandlungsrunde am Ende letzter Woche stellten sich daraufhin die Arbeitgeber erneut stur, obwohl die Streikleitung um Jürgen Peters und den IG-Metall-Bezirksleiter von Berlin und Brandenburg, Hasso Düvel, bereit waren, in jedem Punkt weitgehende Zugeständnisse zu machen. Als sich nach zehnstündigen Verhandlungen in den frühen Samstagmorgenstunden Zwickel und Kannengießer zu einem Vier-Augen-Gespräch zurückzogen, platzte Peters in diese vertrauliche Beratung, um - wie er später sagte - einen Deal zu verhindern. Doch die Sache war bereits entschieden. Zwickel brach die Gespräche ab, erklärte die Verhandlungen für gescheitert und kündigte ein Ende des Streiks an.

Die Mitglieder, die vor zwei Monaten mit großer Mehrheit für Streik gestimmt hatten und von denen viele eine Ausweitung des Arbeitskampfes für notwendig hielten, wurden nicht gefragt. Zwickel setzte sich über die Tarifkommission und alle satzungsmäßigen Gremien hinweg und machte deutlich, was er von den viel beschworenen demokratischen Gepflogenheiten der Gewerkschaft hält.

Seitdem begann ein regelrechtes Trommelfeuer gegen Peters, Düvel und andere aus der Streikleitung. Gestützt auf die Betriebsratsfürsten der großen Auto- und Metallbetriebe versucht Zwickel, die konservativsten und rechtesten Elemente innerhalb der Gewerkschaft zu mobilisieren, um doch noch seinen Favoriten Bertold Huber als Nachfolger durchzusetzen.

Rücksicht auf die Regierung

Huber und Zwickel vertreten eine Schicht von Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten, die sich als Co-Manager verstehen und ihre Aufgabe darin sehen, den Abbau sozialer Leistungen und Entlassungen in enger Zusammenarbeit mit der jeweiligen Geschäftsleitung möglichst reibungslos abzuwickeln und jeden Widerstand dagegen zu unterdrücken.

Huber bezeichnet sich selbst als "Reformer" und tritt in der Gewerkschaft als "Gegner der Besitzstandswahrer" auf. Schröders "Agenda 2010" kritisiert er von rechts. Er fordert einen "massiven Ausbau der privaten Alterversorgung" und verlangt in der Rentendebatte eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Das Rentenzugangsalter, das gegenwärtig bei real 61 Jahren liegt, soll seiner Auffassung nach auf das gesetzlich vorgeschriebene Niveau von 65 Jahren angehoben werden.

Die vorgesehene Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere hält Huber zwar für falsch, will aber stattdessen die Bezüge für Jüngere "auf unter 12 Monate" senken. "Die Substanz des Sozialstaats ist nicht gefährdet, wenn einzelne Leistungen gekürzt wenden", erklärte er in einen Gespräch mit dem Handelsblatt und forderte, dass Freizeitunfälle und andere Risiken privat versichert werden. Die Quintessenz seiner Politik lautet: Sozialabbau und Rationalisierungen im Interesse des Produktionsstandorts Deutschland.

Peters, Düvel und ihre Unterstützer haben diesem Kurs nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen. Sie sind von der rechten Offensive innerhalb der Gewerkschaft eingeschüchtert, fordern mehr Geschlossenheit und erinnern an die großen Kampfzeiten der siebziger Jahre. Nicht einer von ihnen wagt es, gegen die rechte und korrupte Bande um Zwickel vorzugehen und den Streikbruch in der Chefetage der Gewerkschaft beim Namen zu nennen. Statt dessen hat Düvel seinen Rücktritt "zum geeigneten Zeitpunkt" angekündigt und Peters "auch eigene Fehler" der Streikleitung eingeräumt.

Jetzt rächt sich, dass niemand in der Führung dieser Gewerkschaft gegen Zwickel aufgetreten war, als seine Machenschaften als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat von Mannesmann aufflogen. Zwickel hatte im Frühjahr 2000 durch Stimmenthaltung Abfindungen in Millionenhöhe an den Vorstand ermöglicht, der damit für sein Nachgeben in der Übernahmeschlacht mit dem Vodafone-Konzern entschädigt wurde. Die Affäre war so anrüchig und roch derart stark nach Korruption, dass die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft zu Beginn dieses Jahres Anklage gegen fünf ehemalige Manager und Aufsichtsratsmitglieder erhoben hat - unter ihnen Zwickel. Aber auch da regte sich in der IG Metall kein Widerstand.

Der Grund für diese politische Feigheit und das ständige Kuschen vor den Rechten liegt auf der Hand: Kein Flügel innerhalb der Gewerkschaftsführung ist bereit, den Konflikt bis zu einem Punkt zu treiben, an dem er das Überleben der Regierung in Frage stellt. Schließlich sind nahezu alle Spitzenfunktionäre der Gewerkschaft Mitglied in einer der beiden Regierungsparteien und unterstützen deren Politik.

Schon in der ersten Woche des Metallerstreiks hatte der DGB alle Kundgebungen und Proteste gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung eingestellt und um ein Gespräch im Kanzleramt gebeten. Damit war auch die erste Vorentscheidung über das Schicksal der Metaller gefallen, standen doch deren Forderungen in unversöhnlichem Gegensatz zur Agenda 2010, die einen umfassenden Sozialabbau zum Inhalt hat.

Nur einen Tag vor dem Streikabbruch trafen sich die Vorsitzenden von acht Einzelgewerkschaften und dem DGB dann bei Kanzler Schröder und boten ihm die Zusammenarbeit bei der Durchsetzung der Agenda 2010 an, was in den Medien als Kotau bezeichnet wurde. "Keiner tat dies so schön, wie der IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel", schrieb der Spiegel. Noch Anfang Mai habe Wiesehügel über den Rücktritt des Kanzlers spekuliert und dessen Sparpläne als "zynisch und einen üblen Verstoß gegen die Menschenwürde" bezeichnet. "Nun säuselte er", man habe erkennen müssen, dass der Einfluss der Gewerkschaften auf die Parteien geringer sei, "als wir dachten", und kündigte an, "fortan werde man die Entscheidungen der Regierung beratend begleiten".

Auch Ver.di-Chef Frank Bsirske - Mitglied der Grünen -, der dem Kanzler im März "Verrat" und "blanken Sozialabbau" vorgeworfen hatte, bot nun Zusammenarbeit an und warnte davor, dass die Gewerkschaft sonst ihre Handlungsfreiheit verlieren werde. Mittlerweile hat Bsirske für die Berliner Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine Tarifvertrag unterschrieben, der rund zehn Prozent Einkommensverlust bedeutet.

Mit diesem Rechtsruck reagieren die Gewerkschaften auf die Folgen des Irakkriegs. Der scharfe Konflikt zwischen den USA und Europa, der vor und während des Kriegs deutlich wurde, hat den Spielraum für soziale Kompromisse und Zugeständnisse weiter eingeengt. Die Bundesregierung reagiert auf die amerikanische Herausforderung, indem sie amerikanische Verhältnisse in Europa einführt und Sozialleistungen und Löhne gnadenlos nach unten treibt.

Die Gewerkschaften haben dem nichts entgegenzusetzen. In den USA und Großbritannien waren es vor zwanzig Jahren rechte Regierungen, die diese Angriffe durchsetzten. Dass nun in Deutschland eine rot-grüne Regierung das selbe macht, eine Regierung, die vor fünf Jahren an die Macht gebracht wurde, um die unsoziale Politik der Kohl-Regierung zu beenden, zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Arbeiterklasse eine neue politische Orientierung braucht. Sie braucht eine Partei, die die prinzipielle Verteidigung der sozialen Rechte und Errungenschaften aller Arbeiter zum Mittelpunkt ihres Programms macht und ein internationales, sozialistisches Programm vertritt.

Siehe auch:
Metallerstreik in Ostdeutschland - Amoklauf der Medien gegen gleiche Arbeitszeit in Ost und West
(28. Juni 2003)
Staatsanwälte erheben Anklage gegen Mannesmann-Manager und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel
( 8. März 2003)
IG-Metall-Chef Klaus Zwickel in Millionendeal bei Mannesmann verwickelt
( 25. August 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September/Oktober 2003 enthalten.)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!
World Socialist Web Site


Mailinglist
Email-Adresse eintragen, um über Neuerscheinungen
im WSWS informiert
zu werden


Eintragen
Entfernen
Suche im WSWS


Ein Appell
an unsere Leser

Unterstützt die WSWS

Heute neu !
Aktuelle Analysen
Kunst & Kultur
Wissenschaft
& Technik

Soziales
Geschichte
Philosophie
Korrespondenz
Polemik
Monatsarchiv
Über das WSWS
Über das IKVI

Erklärungen
der Redaktion

Flugblätter

Arbeiterpresse
Verlag

ANDERE
SPRACHEN
Englisch

Französisch
Italienisch
Spanisch
Portugiesisch
Russisch
Serbo-Kroatisch
Türkisch
Indonesisch
Singhalesisch
Tamilisch

HIGHLIGHTS

Ein Händedruck
und eine feige Rede
Kanzler Schröder eilt Präsident Bush zur Hilfe

Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA

Neue Ausgabe
der gleichheit
Lehren aus dem Irakkrieg

Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg

Für eine internationale Arbeiterbewegung
gegen den imperialistischen Krieg

Eine politische Strategie gegen den Krieg

Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft

Öl und der
bevorstehende Krieg
gegen den Irak

Ein Appell an
unsere Leser

  WSWS : WSWS/DE : Arbeitskämpfe : Deutschland

Druckversion | Link per email versenden | Email an die Redaktion

Metallerstreik in Ostdeutschland

Amoklauf der Medien gegen gleiche Arbeitszeit in Ost und West

Von Ludwig Niethammer
28. Juni 2003

Der vierwöchige Streik in der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen, Brandenburg und Berlin um die Einführung der 35-Stunden-Woche hat eine beispiellose Welle der Entrüstung ausgelöst. Im Gleichklang denunzieren täglich Spitzenvertreter der Wirtschaft, der Medien und der Politik diesen Streik als ein Werk von "Wahnsinnigen" (Der Spiegel).

Den etwa 10.000 streikenden Metallarbeitern wird unverhohlen mit Massenentlassungen gedroht: geplante Investitionen und Arbeitsplätze in Ostdeutschland seien gefährdet. Der BMW-Vorstand kündigte an, er wolle seine Entscheidung, in Leipzig ein neues Werk zu bauen, überdenken.

Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) wirft der IG Metall vor, sie hinterlasse mit ihrem Arbeitskampf eine "blutige Spur" von wachsender Arbeitslosigkeit. Das sagt Dohnanyi, der in den 90er Jahren als Berater der Treuhandanstalt mitgeholfen hat, die ostdeutsche Industrie "abzuwickeln". In der Zeit fragt die Hamburger Rechtsanwältin Gisela Wild: "Was gibt den Gewerkschaften solche Macht?" und fordert: "Es ist höchste Zeit, ein Tabu zu brechen: Das Streikrecht muss beschnitten werden."

Dabei fordert die IG-Metall nichts weiter, als gleiche Arbeitszeiten in Ost und West. Auch 13 Jahre nach der Wiedervereinigung arbeiten die Beschäftigten der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie immer noch mindestens 38 Stunden die Woche - also drei Stunden mehr als ihre Kollegen im Westen. Auf das Jahr gerechnet bedeutet das einen ganzen Monat unbezahlte Mehrarbeit, während im Westen, oft in den gleichen Konzernen - wie bei VW, BMW oder DaimlerChrysler - die 35-Stunden-Woche schon seit Jahren gilt. Dazu kommt noch, dass die Effektiv-Einkommen im Osten immer noch nur 70 Prozent des Westniveaus betragen. Für Beschäftigte im Osten bedeutet das: länger arbeiten für weniger Geld.

Selten zuvor ist in diesem Land ein regulärer Streik derart angefeindet und so unter politischen Beschuss genommen worden. Ein immer und immer wieder vorgebrachtes Argument mit dem diese außergewöhnliche Hetze begründet wird, lautet: eine Arbeitszeitverkürzung auf Westniveau könne sich der Osten nicht leisten, dadurch würde der ostdeutsche Wettbewerbsvorteil zunichte gemacht.

Die Fakten sprechen allerdings eine andere Sprache: Die meist hochmodernen Produktionsstätten - vor allem in der Auto- und ihrer Zulieferindustrie -, die von westdeutschen Konzernen nach der Wende im Osten mit großzügigen staatlichen Subventionen errichtet wurden, erreichen oft eine höhere Produktivität als vergleichbare Betriebe im Westen. Die Lohnstückkosten-Ost liegen bei nur 94 Prozent des Westniveaus. Dazu kommt, dass diese Konzerne dank der rot-grünen Steuerreform praktisch von allen Steuern befreit wurden.

Es ist unübersehbar: Die wüsten Angriffe auf den Metallerstreik sind Bestandteil der gegenwärtigen politischen Bestrebungen, alle sozialen Rechte der Bevölkerung in Frage zu stellen. Mit der Agenda 2010 hat die Bundesregierung den umfassendsten Sozialabbau eingeleitet, den je eine Regierung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrieben hat. Während Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner und Kranke drastische Kürzungen hinnehmen müssen und an Kindergärten, Schulen und Universitäten immer größere Beträge eingespart werden, zieht die Regierung eine Steuerreform vor und beschenkt die Reichen.

Begründet wird diese Politik, die seit langem von den Wirtschaftsverbänden gefordert wird, mit der Behauptung, es handle sich um "Erfordernisse aus globalen wirtschaftlichen Sachzwängen". Wer sich diesen widersetze, sei verantwortlich für weiteren Wirtschaftsrückgang und steigende Arbeitslosigkeit. Alle Parteien, die in der Vergangenheit irgendwie mit einer Politik des sozialen Ausgleichs in Verbindung gebracht wurden, haben sich diese Argumentation der Wirtschaftsverbände zu eigen gemacht.

Deshalb reagierte das ganze politische Establishment auf den Streik der Metallarbeiter in Ostdeutschland wie von der Tarantel gestochen. Dass es jemand wagt, der bizarren Logik entgegenzutreten, laut der die gesellschaftlichen Probleme gelöst werden, indem die Unternehmer immer weniger Steuern zahlen und die Reichen immer reicher werden, und dass jemand mehr Gleichheit fordert - selbst wenn die Forderung nur auf die Arbeitszeit beschränkt ist -, wird als Provokation empfunden. Derartigen Forderungen soll ein Riegel vorgeschoben werden, und zwar mit allen Mitteln.

Angesichts streikender Arbeiter gerät der konservative Berliner Tagesspiegel völlig aus der Fassung und versucht verzweifelt, die Realität auszublenden: "Es gibt sie nicht mehr, die Arbeiterklasse, es gibt ihn nicht mehr den Klassenkampf," behauptet der Kommentator und versucht seinen Lesern klar zu machen, dass die Forderung nach mehr Gleichheit in eine völlig falsche Richtung führt. "Ausgerechnet bei einem Streik, der mit dem Kampfruf ‚Gleichheit!’ geführt wird, gelingt es der IG Metall nicht, sich als selbstbewusste und kampfbereite Einheitsgewerkschaft zu präsentieren."

Derselbe Tagesspiegel hatte vor einer Woche zum 50. Jahrestag des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 eine Extraausgabe herausbracht. Darin wurden die Bauarbeiter der Stalinallee und die DDR-Stahlwerker aus Hennigsdorf, die gegen Normenerhöhungen kämpften, als Helden gefeiert, die sich der "kommunistischen Diktatur" widersetzten. Wenn es der antikommunistischen Propaganda dient, werden Arbeitskämpfe gelobt. Doch wehe wenn heute Arbeiter es wagen, für mehr soziale Gleichheit zu streiken, dann werden sie als undemokratische Minderheit beschimpft, die nur ihren eigenen Vorteil verfolge und die Wirtschaft ruiniere.

Die demagogische Hetze kennt keine Grenzen. Hier nur noch einige Kostproben von Dutzenden ähnlichen Stimmen.

BDA-Präsident Dieter Hundt wetterte: "Ein Streik wie in Brandenburg und Sachsen, wo nur acht Prozent der Arbeitnehmer für einen Arbeitskampf gestimmt haben, muss gesetzlich untersagt werden. Es kann nicht sein, dass eine Minderheit ganze Wirtschaftszweige lahm legt".

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) behauptete: "Das ist ein Angriff auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft." Lothar Späth, Schattenwirtschaftsminister der CDU, prophezeite: "Da haben wir jahrelang für den Standort gekämpft, und dann dieser Blödsinn. Wenn der Osten kaputt geht, geht ganz Deutschland kaputt."

Der Wirtschaftsexperte der CDU Friedrich Merz fragte: "Wo bleibt die demokratische Legitimation?" Und CDU-Chefin Angela Merkel machte in der ihr eigenen plumpen Art deutlich, worum es geht: Sie forderte den Osten nicht an den Westen anzupassen, sondern umgekehrt.

Der Streik wird vermutlich in den nächsten Tagen zu Ende gehen, weil die IG-Metall - von der Medienkampagne sichtbar eingeschüchtert - eine schnelle Einigung anstrebt und buchstäblich zu jedem Kompromiss bereit ist.

Die prinzipielle Verteidigung des Arbeitskampfs und die Unterstützung der berechtigten Forderung nach Einführung der 35-Stundenwoche im Osten hat nichts mit einer Unterstützung der Streikführung und zuständigen Gewerkschaft zu tun. Ganz im Gegenteil! Die IG Metall hat diesen Streik in einer Art und Weise durchgeführt, die zeigt, dass sie nicht bereit ist, einen konsequenten Kampf zur Verteidigung der Arbeiter zu führen. Von den 284.000 Mitgliedern im Osten wurden nur etwa 10.000 in den Arbeitskampf einbezogen. Die Metaller im Westen wurden nicht mobilisiert, der Streik nicht ausgeweitet.

Seit der Wiedervereinigung waren die Gewerkschaften nie daran interessiert, gleiche Arbeits- und Lohnbedingungen für die Arbeiter in Ostdeutschland zu erkämpfen. Sämtliche Entlassungen, Betriebsschließungen und Lohnsenkungen, die in den vergangenen Jahren in Ost- und Westdeutschland stattgefunden haben, tragen die Unterschrift der Gewerkschaften. Es gibt auch keine Kürzung im sozialen Bereich - ob Hartz-Plan, Rentenreform oder Agenda 2010 - die letztendlich nicht von den Gewerkschaften mitgetragen wurde.

Was die Gewerkschaftsbürokratie ab und an beunruhigt und zu vereinzelten Protesten veranlasst, ist ihre Sorge, dass ein zu schneller und zu heftiger Sozialabbau unkontrollierte soziale Aufstände hervorrufen könnte. Daher versichern sie der Schröder-Regierung und den Wirtschaftverbänden permanent, man sei ja für die "Reformen" - aber bitte etwas langsamer, denn nur so könne der "soziale Frieden" aufrechterhalten werden.

Angesichts der schnellen Verschärfung der sozialen Krise im Osten - mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von zwanzig Prozent und immer mehr Billiglohnarbeitern aus Polen, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern - stand die IG Metall unter starkem Druck aus den Betrieben. Selbst weit über die Hälfte der Nichtmitglieder in der Metallindustrie haben sich in Umfragen für eine baldig Angleichung der Arbeitszeiten ausgesprochen. Viele Nicht-Gewerkschaftsmitglieder beteiligen sich am Streik und bekommen keine Streikunterstützung.

IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, der einen besonders engen Draht zu Kanzler Schröder pflegt, hatte sich im Vorfeld für die Beibehaltung der 38-Stunden-Woche ausgesprochen und war gegen den Streik. Um den Konflikt rasch beenden zu können, hat Zwickel nun sehr weitreichende Zugeständnisse angeboten. Die drei Stunden, die im Osten wöchentlich länger gearbeitet werden, sollen für die Qualifizierung der Beschäftigten verwendet werden. In der ostdeutschen Stahlindustrie hatte die IG Metall nach einigen Streiktagen einen Abschluss unterschrieben, der die Einführung der 35-Stunden-Woche bis zum Jahre 2009 vorsieht.

Unter keinen Umständen will die Gewerkschaft eine breite Mobilisierung gegen die Schröder-Regierung und die Agenda 2010. Sie tut alles, um die Konflikte auf Einzelfragen zu reduzieren, und die gewerkschaftlichen Solidaritätserklärungen dienen vorwiegend dazu, die Tatsache zu verbergen, dass jeder Arbeitskampf isoliert und mit einem faulen Kompromiss beendet wird.

So arbeiten die Gewerkschaften in die Hände der Rechten. Denn das hysterische Geschrei gegen die Forderung nach gleicher Arbeitszeit in Ost und West ist vor allem ein Ergebnis davon, dass in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten jeder ernsthafte und konsequente Kampf der Arbeiter von Seiten der Gewerkschaften unterdrückt und sabotiert wurde, was die politische Elite zur Auffassung brachte, sie könne schalten und walten wie sie wolle.

Siehe auch:
Arbeitsgericht Frankfurt verbietet Streik der Lokführer
(30. April 2003)
Metallerstreik in Deutschland beendet
( 18. Mai 2002)

 

Seitenanfang

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: wsws@gleichheit.de!.



Copyright 1998 - 2003
World Socialist Web Site
Alle Rechte vorbehalten!

Datenschutzerklärung
Kostenlose Homepage von Beepworld
 
Verantwortlich für den Inhalt dieser Seite ist ausschließlich der
Autor dieser Homepage, kontaktierbar über dieses Formular!