Falls Stalin ein Monster war, stellt sich die Frage: Sind alle Ärzte oder Handwerker schlecht, weil einer gepfuscht hat ? Auch hier scheint sich zu bewahrheiten: "Die herrschende Meinung ist die Meinung der herrschenden Klasse"; und die herrschende Klasse im Kapitalismus und Imperialismus hat entschieden: Lenin , Stalin, Ulbricht, Honecker, Castro, Mao, Marx und Engels, Pieck, Thälmann, Benesch, Liebknecht und Luxemburg, Krenz und Gysi, alle Kommunisten und Sozialisten und sozialen Befreier sind schlecht für den Profit und gefährlich für die Mauer zwischen Arm und Reich.
Ob Stalin tatsächlich ein Monster war, möge die Zukunft entscheiden; wir haben folgende uns objektiv erscheinenden Berichte über ihn und seine Zeit gefunden. In Ostdeutschland, der SBZ und DDR und in Österreich sind keine Massenhinrichtungen Stalins bekannt, trotz 20 bis 30 Millionen sowjetischen Kriegstoten, die Hitlerdeutschland in der UdSSR hinterlassen hat.
Was die gleichgeschalteten Massenmedien verschweigen:
Die heute in bürgerlichen Medien immer wieder verbreiteten Behauptungen zu Stalin lauten etwa so: „Seit Ende der 20er Jahre war er Diktator der Partei und des Landes“
Stalin war aber kein selbstherrlicher Diktator Er stand, getragen vom Vertrauen der Arbeiter- und Bauernklasse und der Intelligenz, an der Spitze der Diktatur des Proletariats und verfocht konsequent deren Interessen Im Interesse der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten und nicht im Interesse einer parasitären Ausbeuterklasse wurde die Sowjetunion unter seiner Führung zum modernen Industriestaat aufgebaut In dieser Zeit wurde nicht nur der Analphabetismus beseitigt; es wurde eine Bildungs- und Kulturrevolution vollbracht, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte Verwirklicht wurden die sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte der Menschen, wie das Recht auf Arbeit, Bildung, Wohnung und unentgeltliche medizinische Versorgung in einem Ausmaß, wie es heute die Menschen in der westlichen Welt, der Welt der angeblichen Demokratie, nur erträumen können
Die offizielle bürgerliche Meinung weiter: „Stalin brachte der UdSSR ein brutales Terrorregime“ Zur Untermauerung dieser These reicht man dann Horrorzahlen nach Damit soll der Eindruck entstehen, daß das ganze stalinsche System nur aus GULags bestand und das Leben von Erschießungskommandos beherrscht wurde So heißt es zum Beispiel: „Ende der 30er Jahre befanden sich etwa 9 Millionen Menschen in GULags“
Die vorliegenden Archivzahlen offenbaren jedoch, daß Anfang 1939 die exakte Zahl aller Häftlinge 1317195 betrug Darin sind Straftäter aller Kategorien erfaßt, und nicht etwa nur die aus politischen Gründen Inhaftierten Auf Grund einer Amnestie wurde etwa die Hälfte der Lagerinsassen bis 1940 vorzeitig entlassen und, soweit sie wegen politischer Delikte bestraft worden waren, rehabilitiert Damit wurde eine Zahl erreicht, die schon damals unterhalb der Zahl der Strafgefangenen in den USA lag, die etwa die gleiche Bevölkerungszahl wie die Sowjetunion aufwies Die USA galten zu dieser Zeit als ein liberales Land In den damaligen faschistischen Ländern des Kapitalismus lag die Zahl der Eingekerkerten proportional wesentlich höher als in den USA
Selbstverständlich gab es auch zu Stalins Zeiten in der UdSSR Straf-vollzugsanstalten Die Strafgefangenen in den Arbeitslagern, die produktive Arbeit leisteten, wurden ordnungsgemäß entlohnt Es gab aber auch eine Besonderheit: Es bestand eine Wettbewerbs- und Neuererbewe-gung, für besondere Leistungen wurden Prämien vergeben und Auszeichnungen und Ehrentitel verliehen Gefangene hatten das Recht auf Freizeit und konnten beliebig Briefe schreiben und empfangen, sie erhielten Besuchserlaubnis In der UdSSR bestand ein musterhaftes System der Wiedereingliederung entlassener Strafgefangener in das normale gesellschaftliche Leben Jeder entlassene Strafgefangene erhielt entsprechend seiner Qualifikation Arbeit Er wurde mit Wohnraum versorgt Diskriminierungen von sogenannten Vorbestraften, wie sie in kapitalistischen Staaten üblich sind, waren in der UdSSR streng verboten
Nach Verabschiedung der neuen Verfassung durch den Obersten Sowjet der UdSSR 1936 war die höchste Freiheitsstrafe, die ein Gericht für kriminelle Handlungen verhängen konnte, 10 Jahre, in besonders schweren Fällen 25 Jahre Die Todesstrafe konnte in der Sowjetunion gegen Verbrecher, die sich an besonders gefährlichen Anschlägen gegen den sozialistischen Aufbau beteiligt hatten, und in Fällen von schwerer Spionage verhängt werden
In der Tat hatten der trotzkistische Untergrund und ausländische Geheimdienste die Sowjetunion mit einer Serie von Mordattentaten, Sprengstoffanschlägen und anderen Terrorakten überzogen, gegen die sich die Sowjetmacht zur Wehr setzen mußte Der Auftakt dazu war die Ermordung Kirows im Dezember 1934
Die Verhaftungen von Offizieren der Roten Armee 1937/1938 erfolgten hauptsächlich im Zusammenhang mit der Aufdeckung der Vorbereitung eines Militärputsches zum Sturz der sozialistischen Staatsordnung Hier die korrekten Zahlen : Im Zuge der Erhöhung der Kampfkraft und Kampfmoral der Roten Armee und Roten Flotte wurden 36898 Offiziere aus dem aktiven Dienst entlassen Die Entlas-sungsgründe waren vor allem Altersgründe, unzureichender Gesundheitszustand und Disziplinarverstöße Verhaftet wurden 9579 Offiziere, von denen bis Anfang 1941 nach gründlicher Untersuchung 1500 wieder aus der Haft entlassen und sogar rehabilitiert wurden
Ein weiteres Beispiel: 1934 gab es 182000 Altbolschewiki, d h Mitglieder, die bis 1920 der RKP B beigetreten waren Diese hätte Stalin zum größten Teil ermorden lassen, heißt es in der westlichen Lügenpropaganda
Wie verhielt es sich nun in Wirklichkeit? Im Jahre 1939 zählte man 125000 Altbolschewiki als Mitglieder der KPdSU B Was ist nun mit den 57000 geschehen, die nicht mehr Mitglieder der Partei waren? Viele starben eines natürlichen Todes, andere waren aus der Partei ausgeschlossen worden Es gab auch einige Verhaftungen und Exekutionen Altbolschewiki gerieten aber nicht in die zu dieser Zeit notwendig gewordenen Säuberungen hinein, weil sie Altbolschewiki waren Der Status eines Altbolschewiken war aber auch keine Garantie für Straffreiheit für Handlungen, die nach den Gesetzen als kriminell galten
Dann heißt es weiter: „Stalins durch den Pakt mit Hitler betriebene Anne-xionspolitik baute er nach dem 2 Weltkrieg aus Dadurch wurde der Kalte Krieg eingeleitet“ Das ist von A bis Z Geschichtsklitterung Der sogenannte Ribbentrop-Molotow-Pakt, der am 23 August 1939 abgeschlossen wurde, war ein Nichtangriffsvertrag, zu dessen Abschluß die Sowjetunion auf Grund der internationalen Kräftekonstellation gezwungen war Die UdSSR wurde 1939 von allen Seiten bedroht Gerade war eine Aggression der Japaner abgewehrt worden Die Westmächte Großbritannien und Frankreich konnten sich zu keinem effektiven Militärbündnis mit der UdSSR gegen Hitlerdeutschland und zur Abwendung der faschistischen Gefahr entschließen, obwohl die UdSSR dazu zahlreiche Vorschläge unterbreitet hatte
Die Welt war zu dieser Zeit zu wesentlichen Teilen kolonial aufgeteilt Der englische Premierminister Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier schmiedeten Pläne zur Eroberung des Gebietes der Sowjetunion sozusagen zu Aufstockung ihrer Kolonialreiche Hier lockte ein Territorium mit reichen Bodenschätzen, das ein Sechstel der Erdoberfläche ausmachte Auch Hitler, der japanische Tenno und Länder wie Polen hatten Ansprüche auf sowjetisches Territorium geltend gemacht Hitler sprach von der Eroberung von Lebensraum „Unsere Kolonien liegen im Osten“, hatte er lautstark verkündet Er wollte dafür England und Frankreich Garantien für den Bestand ihrer Kolonialreiche geben Es gab bis in den August 1939 Verhandlungen zum Abschluß eines Militärbündnissees zwischen der UdSSR einerseits und Großbritannien und Frankreich andererseits zur Abwehr faschistischer Bedrohung Diese Verhandlungen fanden unter für die sowjetische Seite entwürdigenden Bedingungen statt
Der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Deutschland war kein Militärbündnis; es ergaben sich daraus keinerlei militärische Beistandsverpflichtungen Nach der Besetzung Polens durch die Hitlerarmee rückte die Rote Armee ihrerseits in Gebiete der Ukraine und Belorußlands ein, die früher zu Rußland gehörten und der Sowjetunion nach Intervention und Bürgerkrieg verloren gingen Im Grunde erfüllte die Sowjetunion hier eine internationalistische Pflicht, den Nazis nicht alle Beutestücke ihrer Aggression in Polen zu überlassen
Und so war es auch, als die Sowjetunion den Sieg über den Hitlerfaschismus errungen hatte, bezüglich der ab 1944/1945 neu entstehenden Volksrepubliken und sozialistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas Hier fanden revolutionäre Veränderungen im Interesse der Völker dieser Länder und keine Annexionen statt
Der Kalte Krieg wurde der UdSSR vor allem von den USA aufgezwungen, die alle Friedensbemühungen und Bestrebungen um Abrüstungen beharrlich konterkarierten Nach 1945 ging es den Westächten und voran den USA nicht mehr um eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern, sondern letztlich um die Vernichtung des Sozialismus im Weltmaßstab
786.098 politische Todesurteile ?
In den gleichgeschalteten Massenmedien wird seit Jahr und Tag die antikommunistische These von Massenmorden durch Josef Stalin verbreitet, zum Teil mit schon astronomisch hohen Ziffern von bis zu 800.000 politischen Todesurteilen, obwohl durch sukzessive Veröffentlichungen von Archivmaterialien in den 90er Jahren diese Lügen widerlegt sind.
(z.B.: K. Gossweiler in: Wider den Revisionismus, a.a.O., S.233 - 245. Georgi Dimitroff. Tagebücher 1933-1943. hrsg. von Bernhard H. Bayerlain. l. Auflage. Berlin 2000. S. 136 f, 140, 145, 148, 161, 165 f, 225 f, 240)
Aus dem gut recherchierten Aufsatz von Andrea Schön: "Geschichtslügen: Fundamente des Anti-'Stalinismus'" ("Offensiv", Heft 7/2002, Ausgabe Juli-August 2002, S. 57 - 70) ,
dokumentieren wir folgende Zahlen:
"Nach Informationen, die im Februar der Presse freigegeben wurden, sind in 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 631.692 in den Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der Überprüfung. Nach den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa die Zahl der tatsächlich vollstreckten Todesurteile 1937 - 38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in Haftstrafen umgewandelt worden bzw. basierten auf Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung, da Mord und Vergewaltigung auch unter "Verbrechen gegen die Revolution" fiel. Letztere Tatsache ist besonders wichtig: Die westlichen Ideologen zählten sämtliche Todesstrafen wegen Mord und Vergewaltigung als politische Todesurteile mit. Letzlich schrumpft die Anzahl von echten politischen Todesurteilen auf wahrscheinlich einige Hundert oder einige Tausend. Zum Vergleich: in den USA gibt es jährlich ca. 70.000 Mordopfer und jährlich hunderte Todesstrafen. (Andrea Schön bezieht sich auf einen Artikel von Mario Sousa, Mitglied der schwedischen KPKL(r): Lies concerning the history of the Soviet Union. (Lügen bezüglich der Geschichte der Sowjetunion) In: Pro-letären (Schweden) April 1998.)
"Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in einem Arbeitslager(Gulag). Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Eindruck, daß ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager(Gulag) nicht überlebte bzw. endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, daß die Strafzeit in der Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten nach der American Historical Review 82,4 % der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre 1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6 % zwischen 5 und 10 Jahren. Von den politischen Gefangenen erhielten 44,2 % Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7 % zwischen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen vor: 95,9 % bis zu 5 Jahre, 4 % zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1 % über 10 Jahre." (Andrea Schön: S.65 f.)
Demnach sind in den angegebenen Zahlen gewöhnliche Kriminelle mit enthalten, die von den Geschichtsfälschern als "politische" Häftlinge ausgegeben werden.
Bezüglich der Reinigung der Roten Armee im Zusammenhang mit der Verschwörungen (Marschall Tuchatschewski u.a.) gibt Andrea Schön folgende Zahlen an: "Im Jahre 1937 gab es 144.300 Offiziere und politische Kommissare in Armee und Luftwaffe und 282.300 im Jahre 1939. Während der Säuberungen 1937/38 wurden 34.300 Offiziere und Kommissare aus politischen Gründen entlassen. Bis zum Mai 1940 wurden allerdings 11.596 rehabilitiert und wieder in ihre Posten eingesetzt. Das heißt, zu den Entlassenen zählten 22.705 Offiziere und Kommissare (davon 13.000 Armeeoffiziere, 4.700 Luftwaffenoffiziere und 5.000 politische Gefangene). Das sind insgesamt 7,7 % aller Offiziere und Kommissare, wovon wiederum nur ein geringer Teil als Verräter verurteilt wurde, während der Rest ins zivile Leben zurückkehrte." (Ebd. S.66 f.)
Andrea Schön zieht noch einen interessanten Vergleich zwischen den Horrorangaben von Robert Conquest über die "Millionentoten" in der Sowjetunion mit Archivdaten für den fraglichen Zeitraum von 1939 bis 1950:
1939-1950: nach Behauptung Conquests: 12 Mio. Gefangene in Arbeitslagern (Gulags), nach Archivdaten: 578.912.
1937 - 1939: nach Behauptung Conquests: 3 Mio. tote Gefangene, nach Archivdaten: 166.424 Tote.
"Insgesamt lebten im angegebenen Zeitraum 2,5 Millionen Sowjetbürger in Gefangenschaft,
d.h. 2,4 % der erwachsenen Bevölkerung - sicherlich keine geringe Zahl und ein Indikator für die noch bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft. Trotzdem lag die Zahl noch unter der der imperialistischen Hauptmacht USA. Ein Vergleich mit den Daten aus den USA: 1996 gab es im reichsten Land der Welt 5,5 Millionen Gefangene, d.h. 2,8 % der erwachsenen Bevölkerung.
Nun zur Frage der Todesopfer. Der prozentuale Anteil der im Arbeitslager Verstorbenen variiert im angegebenen Zeitraum zwischen 0,3 % und 18 %. Die Todesursachen waren im wesentlichen auf die allgemeine Mangelsituation im Lande zurückzuführen, insbesondere die medizinische Versorgungslage zur Bekämpfung von Epidemien. Das betraf damals allerdings wie erwähnt nicht nur die Sowjetunion, sondern auch alle entwickelten Länder. Erst mit der Erfindung des Penicillin während des Zweiten Weltkrieges wurde ein wirksames Mittel gegen ansteckende Krankheiten geschaffen. Tatsächlich waren es wiederum die Kriegsjahre, in denen die Hälfte aller Todesfälle im untersuchten Zeitraum zu verzeichnen war. Nicht zu vergessen die 25 Millionen Todesopfer, die gleichen Zeitraum an Epidemien und Krankheiten in Freiheit starben. Der systematische Rückgang der Todesopfer nach dem Zweiten Weltkrieg (nominal und prozentual) ist denn auch auf die verbesserte medizinische Versorgung zurückzuführen." (Quelle: "Custodial Population 1934-1953" (Bevölkerung in Gewahrsam in der UdSSR 1934-1953), The American Historical Review)
Ausführlich und ausreichend dokumentiert wird im Zusammenhang mit dem Prozeß gegen Bucharin, darunter gegen Offiziere der Roten Armee, die gesamte Situation um und während der Zeit von 1937/38 von Hans Wauer und Hans-Jürgen Falkenhagen in ihrer Schrift: "Nikolai Bucharin: Revisionist, Renegat, Verräter, Teil III, 'Anklage und Verurteilung'" dargestellt. (Wauer/Falkenhagen, a.a.O., Teil III. S. 37 - 62)
Man muß das Rad nicht neu erfinden, und so werden aus diesem Kapitel die Ausführungen zu den Militärprozessen dokumentiert: "Falsch ist auch die Behauptung von einer Massenhinrichtung sowjetischer Offiziere. In der Roten Armee und Flotte wurden von 1937 - 1939 36.898 Offiziere aus Altersgründen, wegen unzureichender Gesundheit, Disziplinarverstößen, moralischen Verfehlungen und mangelndem politischen Bewußtsein sowie wegen politischen Strafverdachts entlassen. Von den aus politischen Gründen Entlassenen wurden 9.579 verhaftet, davon wurden etwa 2.000 wegen erwiesener Unschuld wieder entlassen oder, soweit sie verurteilt waren, rehabilitiert. Von den insgesamt entlassenen 36.898 Offizieren wurden bis zu 1. l. 1941 insgesamt 15.000 wieder in die Reihen der Roten Armee und Flotte in Offiziersdienstgraden aufgenommen. Weitere Entlassungen und Rehabilitierungen erfolgten während des Großen Vaterländischen Krieges. Darüber liegen uns aber keine genauen Zahlen vor. Auf Grund von Paragraphen über konterrevolutionäre Verbrechen wurden 1937/1938 70 Offiziere zum Tod durch Erschießen verurteilt, wobei die Urteile vollstreckt wurden. In den Reihen der Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade sind wegen konterrevolutionärer Verbrechen keine Todesurteile ergangen.
Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges dienten etwa 500.000 Offiziere in den Reihen der Roten Armee und Flotte und des NKWD. Die Anzahl der Offiziere im Generals- und Admiralsrang hatte sich seit 1937 mindestens vervierfacht. Von einer Enthauptung der Roten Armee kann also in der Tat keine Rede sein. Aus dem Apparat des Staatssicherheitsdienstes wurden bis Ende 1940 etwa 22.000 Angehörige entlassen und 300 - 400 Offiziere zum Tode verurteilt. Einige Angehörige der Roten Armee und Flotte sowie des NKWD kamen bei Fluchtversuchen und Schießereien mit den Sicherheitskräften ums Leben.
Es sei nochmals betont, daß, soweit Unschuldige verurteilt wurden, diese in allen Fällen aus den Reihen der unteren und mittleren Kader kamen. Die Nichtverurteilung oder Rehabilitierung kann aber umgekehrt nicht als absolut schlüssiger Beweis dienen, daß bestimmte Personen keine Straftaten begangen haben. Bei den nach Stalins Tod (1953) erfolgten Rehabilitierungen liegen in mindestens 50 % der Fälle keine klaren Unschuldsbeweise vor. Chruschtschow setzte bekanntlich Straftäter wie Snegow wieder auf freien Fuß und sogar in vielen Fällen wieder in hohe Funktionen ein, und das nicht nur, weil er Stalin haßte und an Stalingegnern Gefallen fand, sondern in der klaren Absicht, eine neue konterrevolutionäre Avantgarde aufzubauen.
Die obigen aus den Archiven des NKWD, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte stammenden Zahlen widerlegen eindeutig die Lüge von 2 - 3 Millionen, in einigen Fällen sogar von 10 - 12 Millionen Hinrichtungen in den Jahren 1937 - 1939. Stalin wird vorgeworfen, im Herbst 1937 sogenannte Verhaftungsquoten festgelegt zu haben. Solche Quoten sind von der Führung des NKWD, wie oben gesagt, teils in provokatorischer Absicht festgelegt worden. Es sei hier noch angemerkt, daß im Herbst 1937, auch noch 1938, aus dem NKWD heraus ein Putsch drohte. Einige NKWD-Offiziere planten die Ermordung Stalins. Stalin nahm z.B. an der zentralen Feier zum 20jährigen Bestehen des NKWD (Tscheka, GPU, OGPU) im Dezember 1937 nicht teil. Wegen mangelnder Wachsamkeit im NKWD selbst sowie wegen Ungesetzlichkeiten mußte sich letztlich auch Jeschow vor Gericht verantworten. Obwohl er persönlich wie auch sein Stellvertreter Frinowski, ebenfalls wie Jeschow russischer Nationalität, sicherlich in ehrlicher Absicht gegenüber der Partei und dem Sowjetvolk gehandelt hatte, mußten sie im Endeffekt die Verantwortung für zahlreiche Fehler in der Arbeit des NKWD übernehmen.
Was in den sogenannten Moskauer Prozessen von 1936 - 1938 und in den Jahren der sogenannten Großen Säuberung geschah, muß in jedem Fall in folgendem Zusammenhang gesehen werden:
Der Klassenfeind hat seit Bestehen der Sowjetmacht nie mit seinen Versuchen aufgehört, die Macht der Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion zu stürzen. Diese Versuche spiegelten sich nicht nur in dem der jungen Sowjetmacht aufgezwungenen Bürgerkrieg und in Aufständen, sondern natürlich auch in den polemischen Auseinandersetzungen in der Partei wider. Es gab immer wieder sogar hohe Parteifunktionäre, die sich mehr oder weniger kamoufliert zu Wortführern von Interessen machten, die gegen das Sowjetvolk und den Sozialismus gerichtet waren. Im Großen und Ganzen kämpfte man in den 20er Jahren jedoch noch mit offenem Visier um Mehrheiten im ZK, in der Partei und im Sowjetvolk.
Ab Beginn der 30er Jahre begannen imperialistische Staaten mit verstärkten Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion. Sie intensivierten dabei auch ihre Spionage-, Sabotage-, Diversions- und Subversionstätigkeit gegen die UdSSR. Dabei bedienten sie sich schwerpunktmäßig der trotzkistischen und bucharinistischen Kräfte, die noch im Lande in großer Zahl aktiv waren. Wo sie nicht mehr aktiv waren, versuchte man ihre Aktivitäten wiederzubeleben. Die dabei angewandten Methoden sind in der Tat wegen ihrer kriminellen Abgefeimtheit und grenzenlosen Niederträchtigkeit für Menschen mit Ehre und Gewissen nicht nur empörend, sondern selbst für Menschen mit nicht allzu hoher moralischer Meßlatte geradezu schockierend. Die Menschen der Sowjetunion gaben ihre ganze Kraft und ihre ganzen Fähigkeiten hin, um voller Idealismus eine bessere Welt aufzubauen. Es stellen sich Erfolge ein, die überwältigend sind. Ehrliche Menschen der ganzen Welt freuten sich darüber, was die erweckten Kräfte von Arbeitern, Bauern und Intellektuellen zustande bringen.
Die Feinde dieser Entwicklung nahmen das aber zum Anlaß, ihren Kampf dagegen zu verstärken und dabei zu Methoden der äußersten Raffinesse, Arglistigkeit, Hinterhältigkeit und mörderischen Heimtücke überzugehen. Wenn man über die Gerichtsreden Wyschinskis aus welcher Position auch immer urteilt, muß man erst einmal darüber nachdenken, bevor man juristische Überlegungen anstellt. Wie richtig die gerichtlichen Verurteilungen waren, beweisen insbesondere die ab 1953 nach Stalins Tod von Chruschtschow eingeleiteten Rehabilitierungen. In einer großen Zahl von Fällen erwiesen sich die Überlebenden der Säuberungen als die fanatischsten Konterrevolutionäre, die sich samt und sonders das Lebensziel setzten, den Kommunismus zu zerschlagen. Auch bei den postmortem Rehabilitierten stellte sich bei nachträglicher Prüfung vielfach heraus, daß sie keineswegs unschuldig verurteilt worden waren. So waren Leute wie beispielsweise Swanidse, Kabakow und Jakir, die oft als unschuldige Stalinopfer vermarktet werden, eingefleischte Volksfeinde. Viele der in Rußland nach 1990 veröffentlichten Bücher belegen das.
Die sogenannte Große Säuberung hatte zweifellos zur Zerschlagung der Fünften Kolonnen in der UdSSR geführt, wenn man auch von einem Sieg über die vorbereitete Konterrevolution genaugenommen erst ab Anfang 1939 sprechen kann. Sicherlich steht auch fest, daß die konterrevolutionären Strukturen nicht in allen Verästelungen zerschlagen werden konnten. Viele Feinde der Sowjetmacht konnten rechtzeitig untertauchen oder wurden nicht enttarnt. Sie erhoben dann nach dem Tode Stalins wieder ihr Haupt. Es reichte aber aus, damit das Sowjetvolk im Wesentlichen frei von inneren Feinden dem Ansturm der Hitlerfaschisten im Großen Vaterländischen Krieg standhalten und den Sieg erringen konnte.
Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß es auch weiterhin Verräter gab. Sowjetische Offiziere, und das waren sehr oft 1937 - 1938 verhaftete und später rehabilitierte Offiziere, liefen im Kriege zu den Faschisten über und dienten sogar in der Wlassow-Armee. Es gibt deswegen bis heute Meinungen, daß die Maßnahmen der Großen Säuberung (das war wie gesagt nicht die offizielle Bezeichnung), zu früh an Intensität einbüßten, was dann u.a. auch ein Überleben von getarnten Trotzkisten wie Chruschtschow und vieler Bucharinisten ermöglichte.
Wie richtig der Kampf gegen den Trotzkismus und Bucharinismus war, zeigte schließlich die Entwicklung der UdSSR und des Sozialistischen Lagers nach Stalins Tod, angefangen beim Revionismus von Chruschtschow und endend im Zusammenbruch des Sozialismus in Europa unter Gorbatschow und Jelzin."125)
Der bereits mehrfach erwähnte ehemalige US-Botschafter in der UdSSR, Joseph E. Davies, hatte die Zeit der Prozesse in der UdSSR erlebt und hat seine Eindrücke in seinen Erinnerungen niedergeschrieben. Drei Tage nach dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht in die UdSSR habe er eine Rede vor dem Universitätsklub in Chikago gehalten. Von einem Zuhörer sei er gefragt worden, wie es mit der Fünften Kolonne in Rußland stünde. "Ohne Bedenken" habe er geantwortet: "Gibt es nicht. Alle erschossen."126)
Nun war dies allerdings übertrieben. Davies konnte nicht wissen, daß es noch immer Trotzkisten in der Armee und den Sicherheitsorganen gab, die sich zu tarnen verstanden. Große Aktionen konnten sie auf Grund ihrer Schwäche durch die Prozesse jedoch nicht mehr unternehmen.
In den USA und in Südamerika seien nach Davies erst in den letzten beiden Jahren (also 1940 - 1941, UH) die Umtriebe deutscher Organisationen aufgedeckt worden.
"Solches Treiben und derartige Methoden gab es offenbar in Rußland als Teil des deutschen Anschlags gegen die Sowjets schon 1935. Die Sowjetregierung war wie sich jetzt zeigt, bereits damals scharf aufmerksam auf die Pläne der deutschen hohen militärischen und politischen Kommandostellen und auf die 'innere Arbeit' in Rußland, die der Vorbereitung des deutschen Angriffs auf das Land diente.
Während ich über diese Konstellation nachgrübelte, sah ich plötzlich das Bild so vor mir, wie ich es damals hätte sehen sollen. Die Geschichte war in den sogenannten Landesverrats- oder Säuberungsprozessen von 1937 und 1938 dargelegt worden, und ich hatte diesen selbst als Zuhörer beigewohnt. Als ich nun von diesem neuen Gesichtswinkel aus die Verhandlungsberichte und meine eigenen Bemerkungen dazu aus jener Zeit wieder durchlas, fand ich, daß so gut wie alle Kniffe und Umtriebe der deutschen Fünften Kolonne, wie wir sie seither nennen, gelernt haben, durch die Geständnisse und Zeugenaussagen jener Prozesse gegen die 'bekennenden' Quislinge Rußlands enthüllt und bloßgelegt worden sind.
Es wurde mir klar, daß die Sowjetregierung vom Vorhandensein dieser Umtriebe überzeugt war, sich aufs höchste beunruhigt fühlte und daranging, sie energisch zu unterdrücken. Bis 1941, das heißt bis zum Einfall der Deutschen, hatten sie jede Spur der vorher organisierten Fünften Kolonne ausgelöscht.
Ein anderer Umstand, der seiner Zeit schwierig zu verstehen war, der nun aber, aufgehellt durch die seitherige Entwicklung, eine neue Bedeutung gewinnt, war die Art und Weise, wie die Sowjetregierung 1937 und 1938 gegen die deutschen und italienischen Konsularvertretungen vorging. Es geschah auf rücksichtslose Manier - mit fühlloser und brutaler Mißachtung der Empfindungen, die es bei den betroffenen Ländern auslösen mußte.
Der von der Sowjetregierung angegebene Grund war, diese Konsulate seien in innere, politische und unterirdische Umtriebe verwickelt, weshalb sie geschlossen werden müßten."127)
Bezüglich des Offizierskorps nach der Erschießung von Generälen äußerte Davies gegenüber der vorherrschenden Meinung, wonach "die Liquidation der älteren erfahrenen Generäle die Armee wesentlich geschwächt habe", ..."daß dies zwar bis zu einen gewissen Grade" zuträfe, "aber übertrieben sein dürfte."128)
"Der Offiziersstand hat den Ruf, daß seine jüngeren Kommandeure ausgezeichnet befähigt und daß die höheren Kommandostellen ziemlich gut besetzt sind. Auch sie sind durchschnittlich noch jüngere Leute."129) Davies schließt diese Einschätzung der "vorwaltende(n) Meinung" mit der Bemerkung, "daß, die Rote Armee der kommunistischen Partei, und darum Stalin, treu ergeben ist."130)
Es ist wohl gerade dieser Sachverhalt, der den Verkündern der These von der "Enthauptung" der Roten Armee so mißfällt. Aber es kommt von Davies noch "schlimmer!". Die Stärke des "herrschenden Regimes" in der Sowjetunion beruhte nach ihm "auf der kühnen und klugen Führerschaft Stalins." Sein Regime sei "fest verwurzelt."131)
In einem ausführlichen Bericht über die UdSSR an den Staatssekretär für äußere Angelegenheiten der USA vom Juni 1938 faßte Davies zusammen:
"Die militärische Stärke der UdSSR ist imposant. Sowohl der Qualität als der Zahl nach sind die Truppen ausgezeichnet. Die stehende Armee von etwa 1.500.000 Mann ist in zwei selbständige Einheiten eingeteilt, eine im Westen und eine im Osten; die erstere macht etwa 70 %, die letztere rund 30 % aus. Sie ist mit Gewehren gut ausgestattet, gut diszipliniert und auf fanatische Hingabe an den Kommunismus trainiert. Ihre mechanisierten Einheiten sind sehr gut. Die Bemannung der Luftwaffe ist vortrefflich, ihre Ausrüstung gut, was Jagdflugzeuge, aber geringwertig, was Bomber betrifft. Zahlenmäßig ist die Luftwaffe wahrscheinlich die stärkste unter denen der Großmächte. In der technischen Ausrüstung der Luftwaffe ist die Sowjetunion hinter den Westmächten vermutlich um zwei bis drei Jahre zurück.
Die Regierung glaubt mit größter Zuversicht, daß sie imstande wäre, einem gleichzeitigen Angriff von Deutschland und Japan erfolgreichen Widerstand zu leisten.
Es müßte außerordentlich schwierig sein, alle diese Kräfte zu besiegen oder gar zu vernichten, mit dem Verbündeten, den sie am russischen Winter besitzen.
Die Schwäche liegt vielleicht in der zweiten Verteidigungslinie - ich meine die Industrieproduktion hinter der Front und die Versorgung mit hochwertigen Petroleumprodukten."132)
Zum Schluß sei noch die Einschätzung der Prozesse durch Winston Churchill dokumentiert, der zu den ärgsten Feinden des Kommunismus gehörte, aber sich von anderen dadurch unterschied, daß er zu realistischen Einschätzungen der Sowjetunion und der Persönlichkeit Stalins fähig war, eine Eigenschaft, die manchem Theoretiker abhanden gekommen ist.
Nach Churchill habe Benesch den "beunruhigenden Wink" erhalten, "daß über die sowjetrussische Gesandtschaft in Prag Nachrichten zwischen hochgestellten Persönlichkeiten in Rußland und der deutschen Regierung ausgetauscht wurden. Dies war ein Teil der sogenannten Verschwörung der Militärs und der Kommunisten der alten Garde, die Stalin stürzen und ein neues, auf deutschfreundlicher Politik beruhendes Regime einführen wollte... Darauf folgte die unbarmherzige, aber vielleicht nicht unnötige militärische und politische Säuberungsaktion in Sowjetrußland und dieselbe von Prozessen im Januar 1937, bei denen Wyschinski als Staatsanwalt eine dominierende Rolle spielte."133)
Es geht hier nicht darum, daß es in Churchills Erinnerungen bezüglich der Vorgänge in der UdSSR 1935 bis 1938 offene Fragen gibt, vor allem bezüglich des tschechischen Präsidenten Benesch und der Rolle der Gestapo - die vermutlich nie völlig geklärt werden können - sondern um die Bestätigung der - bei Churchill! - "sogenannten" Verschwörung. Deren Existenz konnte er nicht bestreiten; die Notwendigkeit der "Säuberungsaktion" hat er zumindest nicht in Frage gestellt, wobei zu berücksichtigen ist, daß Churchill eben nicht gerade ein Freund der Sowjetunion war.
Trotzki, Bucharin und ihre Epigonen, die Hearst-Presse, Goebbels-Propaganda, Revisionisten, Renegaten, SPD-Funktionäre, Chruschtschow, Gorbatschow und deren Anhang, die bürgerlichen und reformistischen Medien sorgen bis auf den heutigen Tag dafür, daß durch die Lügen über die Prozesse die kommunistische Bewegung, international und in den einzelnen Ländern, gespalten bleibt.
Die Überwindung dieser Geschichtslügen gegen eine schier unüberwindliche Flut von Verleumdungen, die von den Massenmedien fünfzig Jahre nach dem Tode Stalins noch immer täglich, stündlich verbreitet werden, gehört zu den unverzichtbaren Aufgaben nicht nur marxistisch-leninistischer Historiker, sondern eines jeden ehrlichen Publizisten, der sich der historischen Wahrheit verpflichtet fühlt. Es ist ein Ausdruck der Angst, die die herrschenden Ausbeuterklassen angesichts der sich ständig vertiefenden politischen Krise des kapitalistischen Systems befällt, daß sie noch immer, wie einst Macbeth vor dem Geiste Banquos, vor Sozialismus und Kommunismus zittern und zu jeder erdenklichen Verleumndung und Lüge greifen, weil sie ihre Privilegien und Pfründe sichern wollen.
Mystik liegt einem marxistisch-leninistischen Historiker fern, aber daß die Bourgeoisie und ihre Historiographie mit Stalin bis heute nicht fertig geworden sind, ihn nicht "bewältigt" haben, ihn noch immer fürchten, davon zeugen ihre Publikationen.
125) Ebd. S. 58 - 61.
126) Davies, a.a.O., S. 210.
127) Ebd. S. 210 f.
128)Ebd. S. 318.
129) Ebd.
130) Ebd.
131) Ebd. S. 324
132)Ebd.
133) Winston S. Churchill, a.a.O., S. 150.
STALIN - WER WAR DAS?
Er hat für einen "stürmischen industriellen Fortschritt" im revolutionären Sowjetrußland gesorgt und dessen Landwirtschaft total umgekrempelt. Er hat die Rote Armee zum Sieg über den deutschen Imperialismus kommandiert und den sog. "Ostblock" geschmiedet. Dabei hat er die Bauern schlecht behandelt, die Intelligenzler drangsaliert und mörderisch unter den Kadern seiner Partei gewütet, unter Mißachtung aller Grundsätze der "sozialistischen Gesetzlichkeit" und der "kollektiven Führung". Das steht fest; da gibt es nichts zu bezweifeln und nichts mehr zu "entlarven".
Richtige Urteile über den Mann und seine Leistung sind diese Feststellungen trotzdem nicht. "Industrialisierung" ist ebensowenig der Begriff des Stalinschen Aufbauwerks in Rußland wie "Wirtschaftswunder" der Erhardschen Wirtschaftspolitik in der BRD. Daß Stalins Truppen Berlin erobert haben, sagt noch gar nichts darüber, welche Sache da gesiegt hat - und ob überhaupt. Und der Vorwurf des Verbrechens an Stalins Regierungsstil erklärt diesen genausowenig wie eine Kriegserklärung den Krieg, ganz gleich, ob dieser Vorwurf als Auftakt zu geschichtsphilosophischen oder rassistischen Erwägungen demokratischer Köpfe über die tiefere Notwendigkeit jener "Untaten" gemeint ist, oder ob Stalins Nachfolger damit die "Vergangenheit bewältigen", als hätten sie's bei Kohl gelernt.
Stalin, der Vater des sowjetischen Wirtschaftswunders oder: Von der antikapitalistischen Revolution zur "sozialistischen Ökonomik"
Den Entschluß, die "Privatproduktion" auf dem Lande zu bekämpfen und in kürzester Zeit den Aufbau einer umfangreichen Schwer- und Maschinenbauindustrie durchzuziehen, hat Stalin gegenüber seiner Partei und vor dem Volk mit der "Theorie" verfochten, es gelte, den "Sozialismus in einem Lande" - eben im revolutionären Sowjetland - aufzubauen. Wo auch sonst - nachdem kommunistische Umsturzversuche in Ungarn, Deutschland und anderen Staaten gescheitert waren. Warum auch nicht - wo doch die bolschewistische Partei nach Revolution und siegreich beendeten Bürger- und Interventionskriegen Land und Leute des früheren Zarenreiches unter Kontrolle hatte. Dort sozialistische Verhältnisse zu schaffen, war ja wohl der Zweck der revolutionären Kraftanstrengung!
Genau das war aber offenbar gar nicht so eindeutig. Daß Stalin dieses Programm grundsätzlich zu begründen für nötig fand und in seiner Partei gegen Widerstände von allen Seiten durchsetzen mußte, spiegelt einen seltsamen Widerspruch im Selbstverständnis und in der Politik dieses siegreichen revolutionären Vereins wider. Die Bolschewiki hatten wahrhaftig nicht bloß "die Macht ergriffen", sondern eine ganz neue Gewalt - die der von ihnen beherrschten Räte (="Sowjets") - an Stelle der alten Staatsmacht und der von dieser in Kraft gesetzen Macht des Eigentums errichtet; sie hatten die in Kapital und Grundbesitz realisierte Privatgewalt über die gesellschaftliche Arbeit gebrochen und die Freiheit geschaffen, die Produktion vernünftig zu planen. Diese Freiheit hatten sie sich auch weder durch Mitläufer und Gegner abkaufen lassen, die bloß im Rahmen bürgerlicher - Verhältnisse ein bißchen Fortschritt herbeireformieren wollten, noch durch das Unverständnis der zahlenstärksten produktiven Klasse, der von ihnen erst zu selbständigen Privatbauern gemachten Landbevölkerung, gegenüber sozialistischen "Experimenten". Ihren Willen zu einer Revolution ohne Kompromisse hatten sie jedoch nicht zuletzt aus der Vorstellung eines letztlich ohnehin nicht aufzuhaltenden Geschichtslaufs geschöpft, der jede Gesellschaft aus einem "Entwicklungsstadium" ins nächstfolgende hinüberstieße. Und im Rahmen dieser Geschichtsteleologie war für Rußland der Sozialismus noch gar nicht an der Reihe, weil der Kapitalismus, die Herrichtung von Land und Leuten zu Werkzeugen des Geschäfts, dort erst am Anfang stand. Allen Ernstes arbeiteten sie sich an der Frage ab, was für eine Revolution bei ihnen überhaupt "auf der Tagesordnung" stände; und sie kamen zu dem Schluß, zu sehr viel mehr als einer "bürgerlichen" wie 1789 in Frankreich reichte es nicht bzw. nur unter der Bedingung, daß die richtige proletarische Revolution in den Ländern, wo sie "fällig" wäre, bald stattfände und das rückständige Rußland gleich mit in den Sozialismus hinüberziehen würde. Dieser grundsätzliche Vorbehalt dem eigenen Vorhaben gegenüber wurde den Bolschewiki dann zwar doch nicht zum Problem, als sie sich entschieden hatten, die Revolution zu machen. Und als Geburtshelfer der bürgerlichen Freiheiten des großen Geldes wollten sie sich nie betätigen. Zum umstandslosen Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse - "in einem Land" - fühlten sie sich allerdings auch nicht so recht berufen.
Die erste Verlaufsform dieses Widerspruchs war die 1920 eingeführte "Neue Ökonomische Politik", die die Lebensmittelversorgung der Städte ebenso wie die Deckung des Bedarfs an industriellen Konsumgütern sowie der Landwirtschaft an Produktionsmitteln weitgehend privater Geschäftstätigkeit beantwortete. Diese Politik war einerseits aus Not geboren, die Ernährung der Leute zu sichern; und soweit das die Altenative ist, rechtfertigt die Rettung der Leute natürlich jede Vertagung politischer Programmpunkte. Freilich war die Not nicht einfach da, sondern durch die Weigerung der recht selbständigen Bauern geschaffen, ihr Getreide wie in Kriegszeiten abzuliefern - die Bolschewiki konnten das als Quittung für die gar nicht sozialistische "Bauernbefreiung" verbuchen, die die Revolution dem Land gebracht hatte. Mangel herrschte auch auf Seiten der proletarischen Staatsgewalt, die den Bauern keine materiellen Angebote machen konnte, die den puren Ablieferungszwang hätten ablösen können; allerdings war auch das keine naturwüchsige Not: Immerhin stand eine ganze Klasse von gut ausgestatteten Nothelfern bereit, um sich am staatlich freigegebenen kapitalistischen Handel und Wandel zu bereichern.
Daß sie dieser Mannschaft ebenso wie einer geschäftstüchtigen Minderheit unter den Bauern Freiheiten gewähren mußten, bedauerten die Bolschewiki als Rückschritt und gegen das eigentliche Programm eingegangenen Kompromiß. Unter den höheren Gesichtspunkten des Geschichtsverlaufs fanden sie dieses Zurückweichen andererseits aber ganz in Ordnung. Sie interpretierten es als Einsicht in die Notwendigkeit, erst einmal mit kapitalistischen Mitteln die Nation "voranzubringen". Durch diesen "Staatskapitalismus" sollten die Kommunisten lernen, wie man Handel treibt, kaufmännisch rechnet, rentabel produziert, kurzum: "Wirtschaft macht" - um darin die zu neuem Leben erweckten Geschäftemacher eines Tages überflüssig zu machen und zu "beerben"; das wäre dann des Sozialismus nächste "Entwicklungsstufe".
Insofern war die "Neue Ökonomische Politik" einerseits durchaus schon ein Programm für den Aufbau des "Sozialismus in einem Lande". Und jenseits ihres Charakters bzw. ihrer Selbstdarstellung als Kompromiß- und Notprogramm gibt sie durchaus an, was die bolschewistische Partei unter dem "Sozialismus" verstand, der den Übergang zu den idealeren Formen des Kommunismus ermöglichen sollte: einen Kapitalismus, in dem Staatsbetriebe den privaten Geschäftemacher in seiner Versorgungsfunktion ersetzen sollten und die Preise staatlich so festgelegt wären, daß sie die Versorgung der Massen nicht gefährdeten. Sehr wenig "antagonistischer" Gegensatz gegen die kapitalistische Produktionsweise steckte in diesem Projekt; statt dessen viel Hochachtung vor den Versorgungsleistungen, die unter dem Regime der Profitsucht zustandekämen, wenn man diese bloß richtig kontrollierte, sowie eine seltsame Sicherheit, daß der Profit sich durch solche Kontrolle proletarisch nützlich machen ließe - seltsam, weil diese Sicherheit der Einsicht in die Notwendigkeit einer revolutionären Abschaffung des kapitalistischen Eigentums und seiner ökonomischen" Sachzänge" schon ein wenig widersprach. Damit entsprach dieses Bild von "Sozialismus" andererseits genau dem Selbstbewußtsein der Bolschewiki, eine noch gar nicht recht proletarische Revolution vollbracht zu haben, die nur als Auftakt zur Weltrevolution Bestand haben und ein unwiderruflicher Schritt in Richtung Kommunismus sein könne. Einen "Rückfall" in die womöglich nicht mehr zu beschränkende Herrschaft des kapitalistischen Eigentums hielten sie nie für ausgeschlossen; um so weniger, je kräftiger sich auf dem Boden der "Neuen Ökonomischen Politik" (NÖP) die lizenzierte Geschäftswelt tummelte.
Stalins Entscheidung, den "Sozialismus in einem Land" zum politischen Vorhaben zu erklären, verstand sich insoweit tatsächlich nicht von selbst. Immerhin verwarf er damit die geschichtsteleologische Parteidokrin, derzufolge man bestenfalls einen geregelten Staatskapitalismus auf die "Tagesordnung" setzen konnte. Die inhaltliche Bestimmung dieses "Übergangs" verwarf er allerdings überhaupt nicht - was wiederum schlecht zur Freiheit seines Aufbaubeschlusses paßt: Wenn schon "Blut, Schweiß und Tränen" anstanden wären sie auch gleich anders besser angewandt gewesen. So erklärte Stalin das was Lenin seinen kommunistischen Haudegen als "Lehrzeit" in Sachen "Ökonomik" ans Herz gelegt hatte, nach acht Jahren für beendet; und zwar nicht deswegen, weil die sozialistischen Betriebe und der sozialistische Handel die kapitalistische Konkurrenz verdrängt hätten, sondern aus dem entgegengesetzten Grund. Die wachsende Abhängigkeit der elementaren Versorgung des Proletariats von Geschäftemachern und privatem Bauerntum wurde zur Gefahr für die städtischen Massen und für ihren Staat; die ebenfalls wachsende Abhängigkeit der dem Staat verfügbaren Finanzen vom Geschäftserfolg der "NÖP-Leute" und den Überschüssen der Privatbauern hemmte den Fortschritt des Staatssektors im Wirtschaftsleben. Also begeisterte Stalin seine immerhin ja noch herrschende Partei dafür, sich auf ihre Gewalt über die Ökonomie zu besinnen und, ohne die allmählichen Konkurrenzerfolge der Staatswirtschaft abzuwarten, die Privatmacht des Geldes aufzuheben, das kapitalistische Geschäftsleben durch ein kommunistisches Kaufmannswesen zu ersetzen und den Aufbau der Staatsindustrie von den Schranken der staatlichen Steuereinnahmen zu befreien. Insofern machte er ernst mit der Befreiung der Gesellschaft von den ökonomischen Sachzwängen des Kapitals, welche die Oktoberrevolution eigentlich erkämpft hatte.
Um so auffälliger, daß diese Freiheit andererseits überhaupt nicht der Standpunkt war, von dem aus Stalin an seinen "Sozialismus in einem Land" heranging. Als treuer Schüler der in der "Neuen Ökonomischen Politik" enthaltenen sozialistischen Programmatik hielt er es für ausgemacht, daß "Sozialismus" für die revolutionäre Sowjetmacht nichts anderes bedeuten könne als die Aufgabe, von Staats wegen alle Leistungen des Kapitals in Sachen Versorgung und Entwicklung herzustellen ohne Behinderung des Fortschritts durchs private Eigentum! Er definierte sein Vorhaben als Realisierung der historischen Aufgabe, nicht mehr und nicht weniger als die Akkumulation von Reichtum und Produktivkräften nach dem Beispiel der Kapitalisten, aber ohne diese Figuren zustandezubringen.
So nutzte Stalin die Freiheit der revolutionären Gewalt, die sich alle gesellschaftlichen Verhältnisse verfügbar gemacht hatte, zur Enteignung der Geschäftemacher und der Bauern und zum Kommando über die Arbeiter, die unter den Bedingungen der "Neuen Ökonomischen Politik" zum großen Teil gar keine Arbeit gefunden hatten. Der Aufbauplan jedoch, den das Kommando der Partei ins Werk setzte, beruhte nur ganz im allgemeinen auf der Vorstellung, daß große landwirtschaftliche Güter produktiver sein müßten als viele kleine Höfe und daß ein fortschrittliches Land als erstes eine Industrie zur Produktion von Industrieeinrichtungen brauche. Daraus einen schlüssigen Bedarfsplan zu entwickeln, die optimale Teilung und Verteilung der notwendigen Arbeit zu errechnen und darüber eine gesamtgesellschaftliche Kooperation aufzuziehen: Das war nicht die Aufgabe, die Stalin seiner obersten Planungsbehörde stellte. Gosplan hatte mit verfügbaren Finanzmitteln zu rechnen, versuchte sich in einer "Globalsteuerung" per Anweisung von Finanzmitteln an die Betriebe und per Preisgestaltung und lud damit den einzelnen (Groß-)Betrieben die Aufgabe auf, mit den verfügbar gemachten- Geldern ein Gewerbe aufzuziehen, in dem dann Technik und Bedienungsmannschaften, Rohstoffnachschub und Betriebsmittel sachlich zusammenstimmen mußten. Daß die Betriebe einander zuarbeiten sollten und für den Unterhalt der Arbeiter auch das Nötige bereitstand, war zwar im Prinzip auch vorgeschrieben und geplant, in der tatsächlichen Durchführung aber Sache der betrieblichen "Eigeninitiative" und der Einteilung und Verwendung ihrer zugewiesenen bzw. aus dem Güterverkauf zu erlösenden Gelder. Dabei stand die Geldverwendung jedoch vor allem unter dem Diktat einer "wirtschaftlichen Rechnungsführung", also der Vorschrift, aus der Produktion und dem Verkauf zu den staatlich administrierten Preisen einen laufenden Überschuß an abzuliefernden Finanzmitteln herauszuwirtschaften. Es wurde, erstmals im großen Stil, der Widerspruch wahrgemacht, mit Geld zu planen; gerade so, als wäre ein zugewiesener Fonds an schönen neuen "roten" Rubeln schon dasselbe wie die Produktionsmittel, die ein Betrieb sich damit beschaffen sollte; als wären Produktionsmittel und Arbeitskräfte schon dasselbe wie Verkaufserlöse, aus denen sich betriebliche wie staatliche Fonds wie von selbst erneuern und ausweiten müßten; und als müßte sich der von Gosplan projektierte und staatlich befohlene arbeitsteilige Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Produktion über Geldgrößen und den Zwang zu Gewinnerwirtschaftung ganz automatisch herstellen.
Das tatsächliche Ergebnis war eine gigantische Aufbauleistung, die durch die "Planung" mit Finanzmassen statt it den richtigen Gebrauchswerten an sämtlichen Nahtstellen zwischen Betrieben und Branchen durch Mangel behindert wurde und nur deswegen zustandekam, weil es einen kostenmäßig höchst flexiblen Produktionsfaktor gab, über den die vorgeschriebene "Rechnungsführung" trotz allem immer wieder dazu gebracht werden konnte aufzugehen: die Arbeitskraft und ihre Entlohnung. Die dereinstigen Nutznießer des Aufbauwerks wurden zuerst einmal zu dessen Lückenbüßern, und das keineswegs auf freiwilliger Basis. Ein System von Prämien und Strafe - bis hin zu unbezahlter Zwangsarbeit - machte den sozialistischen Betrieben Arbeit in der Form verfügbar, wie sie das zur Erfüllung der vorgegebenen Finanz- und Produktionspläne brauchten: als Kompensationsmittel für fehlende Produktionsmittel einerseits, als flexible Restgröße in der "ökonomischen" Kalkulation andererseits.
Es gehört zum eisernen Vorrat an antikommunistischen Beweisführungen, die Härten des von Stalin herbeikommandierten Wirtschaftsaufbaus als notwendige Folgen eines typisch planwirtschaftlichen "Voluntarismus" zu geißeln; wohlwollender volkswirtschaftlicher Sachverstand pflegt anschließend das Kompliment nachzureichen, immerhin hätte Rußland so dann doch die "ursprüngliche Akkumulation" mit ihren unumgänglichen Entbehrungen nachgeholt. Beides ist ein Hohn.
Die Brutalitäten der Stalinschen Kommandowinschaft gehen restlos darauf zurück, daß die "Sprache" des Kommandos das Geld war. Damit wurde an sämtlichen materiellen technischen Erfordernissen einer schlüssigen Arbeitsteilung entschlossen und unverrückbar vorbei "geplant"; damit war die Arbeitskraft von vornherein als diejenige Größe festgelegt, auf deren Kosten diese "Planung" dann doch irgendwie im Sinne der Gewinnvorschriften aufging; damit wurde konsequenterweise das Maß an Terrorisierung der Arbeitskräfte nötig, das die heuchlerischen Freunde einer kapitalistischen Ausbeutung Stalin so freudig erregt vorwerfen. Der Musterfall antikommunistischer Hetze wg. Stalin, die Kollektivierung der Landwirtschaft unter dem Druck der Sowjetmacht, offenbart genau diesen "marktwinschaftlichen" Geburtsfehler des "Sozialismus in einem Lande" sehr deutlich: Es wurde gerade keine Integration der Bauern in eine technisch und güterwirtchaftlich durchgeplante neue Arbeitsteilung - im ganzen wie "vor Ort" - organisiert; statt dessen herrschte das "Vertrauen", die Konzentration der paar für die Landwirtschaft flüssig gemachten Finanzmittel auf die sozialistischen Großgüter würde dort schon ihr Werk tun. Natürlich geschah das nicht; ein extremeres Gegenteil zu einem technisch zweckmäßigen Aufbau agrarischer Großproduktion war kaum herzukriegen; da halfen auch die staatlichen Traktorstationen nur bedingt weiter. So blieb die rein negative Seite des sozialistischen Aufbaus, die Enteignung, als einziger "Hebel" übrig - und unwirksam, weil Erpressung mit Not eine denkbar schlechte Produktivkraft ist und bei den hartgesottenen russischen Muschiks schon gleich nicht verfing.
Wenn also etwas an dem von Stalin befohlenen sozialistischen Aufbau den Vorwurf des "Voluntarismus" verdient, dann ganz sicher nicht der Entschluß als solcher, eine Industrie und eine quasi-industrielle Landwirtschaft "aus dem Boden zu stampfen"; erst recht nicht die darin eingeschlossene Entscheidung, dafür nicht auf ausländische Kredit "Hilfe" zu warten; und auch nicht der Standpunkt "Kommunisten ist alles möglich!", mit dem damals ganze Mannschaften von agitienen Arbeitern begeistert in die "Aufbauschlacht" gezogen sind - das war allemal noch ein Echo des revolutionären Sieges über die "Sachzwänge", denen Geld und Geschäft die produktive Arbeit unterwerfen. "Voluntaristisch" im schlechtesten Sinn war Stalins stillschweigende Voraussetzung - an der seine Partei nie gezweifelt hat! -, das obrigkeitliche Herumwirtschaften mit Finanzmassen nach Kenngrößen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung - die, Ehre, wem Ehre gebührt, die Fachleute von Gosplan schon vor und detaillierter als Keynes zusammenkonstruiert hatten! - wäre der angemessene Weg, einen in sich zusammenhängenden Aufbau der Produktion herbeizuzaubern. "Voluntaristisch" und kein bißchen marxistisch war das Setzen ausgerechnet auf den Tauschwert und seine "Gesetze" als unfehlbare Wegbereiter einer Gebrauchswertproduktion und -versorgung, die keine Wünsche offenließe.
Die Ironie des fachkundigen bürgerlichen Vorwurfs liegt im übrigen darin, daß kein anderer als Stalin selbst den Vorwurf des "Voluntarismus" aufgebracht und sein Projekt dagegen als ein Vorhaben gerechtfertigt hat, das nach sämtlichen Regeln der ökonomischen Kunst in Ordnung ginge; und zwar ausgerechnet wegen des darin gewahrten Respekts vor den vom Kapitalismus gelernten Kriterien der Rentabilität. Den Standpunkt der revolutionären Freiheit bei der Schaffung von Produktionsverhältnissen hat dieser seltsame Kommunist nach Kräften dementiert; und zwar so, wie er es gelernt hatte: in Form allgemeiner philosophischer Abwägungen zu dem Problem, ob sozialistisches Wirtschaften überhaupt und grundsätzlich als Vollzug vorgegebener objektiver Gesetzmäßigkeiten aufzufassen sei. Stalins Antwort ist ein uferloses Ja, und seine Begründungen sind danach.
"Die Gesetze der politischen Ökonomie im Sozialismus sind somit objektive Gesetze, die die Gesetzmäßigkeit der sich unabhängig von unserem Willen vollziehenden Prozesse des ökonomischen Lebens widerspiegeln. Wer diesen Leitsatz verneint, verneint im Grunde genommen die Wissenschaft, wer aber die Wissenschaft verneint, verneint damit auch die Möglichkeit jeglicher Voraussicht - verneint folglich die Möglichkeit, das wirtschaftliche Leben zu leiten." (aus: Bemerkungen zu ökonomischen Fragen, die mit der Novemberrevolution 1951 zusammenhängen).
Was Marx und Engels am Kapitalismus kritisiert haben: die scheinbare Dinglichkeit der in der Produktion eingegangenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Ausbeutung den Charakter eines sachlichen Erfordernisses verleiht - genau das erhebt Stalin zur letzten Wahrheit auch über die Produktionsweise, die er selbst mit seinem machtvollen Kommando über Arbeiter, Bauern und Eigentum ins Werk gesetzt hat. Welche Gesetze da "hinter dem Rücken" sogar der revolutionären Partei walten sollen und ihrer "wissenschaftlichen" Entschlüsselung harren, ist neben diesem "Leitsatz" eher gleichgültig. Ein Hauptgesetz soll jedenfalls "die unbedingte Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte" zum Inhalt haben - was nun überhaupt keinen ökonomischen Inhalt hat, sondern in einer scholastischen Formel das Prinzip des bolschewistischen Glaubens zusammenfaßt mit dem eigenen umstürzlerischen Programm nur einen geschichtlichen Sachzwang zu exekutieren. Geradezu methodisch wird mit der Formulierung dieses Pseudogesetzes der Wille verlautbart, die eigene Kommandotätigkeit als Quasi-Naturnotwendigkeit auszugeben, und zwar gerade in all den Hinsichten, wo sie jedes Bemühen um eine zweckmäßige Systematik des Produzierens vermissen läßt. Unterhalb dieses "Grundgesetzes" feiert dann insbesondere "das Wertgesetz" des Kapitalismus samt einer Theorie, die den Wert der Ware Arbeitskraft in den Rang eines energetisch definierten Existenzminimums zurückstuft, seine Wiederauferstehung - fast so, als hätte da der Sachverstand bürgerlicher Volkswirte seine elementaren Dogmen über korrektes Wirtschaften zu Protokoll gegeben:
"Es ist so, daß die Konsumgüter, die für die Deckung des Aufwands an Arbeitskraft (steht so da!) im Produktionsprozeß notwendig sind, bei uns als Waren erzeugt und realisiert werden, die der Wirkung des Wertgesetzes unterliegen. Hier gerade zeigt sich die Einwirkung des Wertgesetzes auf die Produktion. Im Zusammenhang damit haben in unseren Betrieben solche Fragen wie die wirtschaftliche Rechnungsführung und die Rentabilität, die Selbstkosten, die Preise und dergleichen aktuelle Bedeutung. Darum können und dürfen unsere Betriebe das Wertgesetz nicht außer acht lassen.
Ist das gut? Es ist nicht schlecht. Bei unseren gegenwärtigen Verhältnissen ist es tatsächlich nicht schlecht, da dieser Umstand unsere Wirtschaftler im Geiste der rationellen Betriebsführung erzieht und sie zur Disziplin anhält. (...) Schlimm ist nicht, daß das Wertgesetz bei uns auf die Produktion einwirkt. Schlimm ist, daß unsere Wirtschaftler und Planer, mit wenigen Ausnahmen, die Wirkungen des Wertgesetzes schlecht kennen, sie nicht studieren, und es nicht verstehen, sie in ihren Berechnungen zu berücksichtigen. Daraus erklärt sich dann auch das Durcheinander, das bei uns immer noch in der Frage der Preispolitik herrscht." (a.a.O.)
Lenin wollte seine Kader noch bei wirklichen Kapitalisten in die Lehre schicken. Stalin hatte die Kapitalisten abgeschafft - und wollte seine Planer gleich "das Wertgesetz" höchstpersönlich studieren lassen; gerade so, als hätte dieser Zwangszusammenhang des Austauschs der Ergebnisse kapitalistischer Privatproduktion, Inbegriff gesellschaftlicher Arbeitsteilung ohne Plan, seine Gültigkeit nicht bloß behalten, sondern erst durch die Abschaffung der Konkurrenz die Chance zu voller Entfaltung erhalten. Der kleine Widerspruch zwischen "wirken" und "berücksichtigen" erweist "das Wertgesetz" als einen programmatisch selbstgeschaffenen Fetisch der "sozialistischen Ökonomik" und gerade so wollte Stalin es haben. So hinter dem Rücken" wollte er die Rentabilität - und das bei staatlich festgelegten Preisen, die natürlich immer ein gewaltiges "Durcheinander" im betrieblichen wie gesamtgesellschaftlichen Produktionswesen hervorrufen müssen - zum obersten Imperativ einer "rationellen Betriebsführung" machen. Im Geiste dieser "Rationalität" polemisierte er Zeit seines Lebens gegen die letzten in dieser Frage noch bei Trost gebliebenen Genossen:
"Er (Genosse Jaroschenko) erklärt glattweg, daß in seiner politischen Ökonomie des Sozialismus, die Streitereien über die Rolle dieser oder jener Kategorie der politischen Ökonomie des Sozialismus, wie Wert, Ware, Geld, Kredit usw., die bei uns häufig scholastischen Charakter annehmen, durch vernünftige Überlegungen über eine rationelle Organisation der Produktivkräfte in der gesellschaftlichen Produktion, durch die wissenschaftliche Begründung einer solchen Organisation ersetzt werden."
Gegen solche erfrischenden Vorschläge, den Tauschwert als Pseudo-Planungsprinzip zum Teufel zu hauen, pflegte Stalin aus Marx und Engels den tiefsinnigen "Beweis" zu führen, daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zwei verschiedene Sachen sind, letzteren eine nicht aufhebbare Eigengesetzlichkeit zu unterstellen und mit Unsinn des folgenden Kalibers zu triumphieren:
"...Genosse Jaroschenko (hat) die Produktionsverhältnisse im Sozialismus als mehr oder weniger selbständiges Gebiet bereits liquidiert, indem er das wenige, was von ihnen übrig geblieben ist, als Bestandteil in die Organisation der Produktivkräfte einbezog. Es fragt sich: Besitzt die sozialistische Ordnung eine eigene ökonomische Basis? Offenbar hat die sozialistische Ordnung, da die Produktionsverhältnisse im Sozialismus als mehr oder weniger selbständige Kraft verschwunden sind, keine eigene ökonomische Basis... Eine heitere Geschichte...
(...)
... (so) kommt beim Genossen Jaroschenko statt einer marxistischen politischen Ökonomie so etwas wie die Bogdanowsche ‚Allgemeine Organisationswissenschaft' heraus." (aus: Über die Fehler des Genossen L.D. Jaroschenko, Mai 1952)
Und das ist schlimm, weil Stalin eben einen Sozialismus vertrat, in dem die Produzenten ihre gesellschaftlichen Beziehungen nicht selber einrichten, sondern wie im Kapitalismus als "selbständige Kraft" wirken lassen sollten - eine eher konterrevolutionäre Geschichte.
Inzwischen gibt es ganze Bibliotheken über die "Rolle" jeder einzelnen "Kategorie der politischen Ökonomie des Sozialismus", die die Fruchtbarkeit des Stalin'schen Dogmas von der volkswirtschaftlichen Eigengesetzlichkeit des sozialistischen Planungsgeschäfts bezeugen. Diesem Überbau entspricht eine wirtschaftspolitische Basis im entstalinisierten Sowjetland, die Stalins Erfindung, die Steuerung einer Wirtschaft ohne Privateigentum durch Geld und Gewinn von Staats wegen, aus den rohen Anfangsformen - als die Leiter unrentabler Betriebe noch erschossen wurden und die "Lohndifferenzierung" vom Arbeitslager bis zu Stachanow-Prämien reichte - zu einem wahrhaft "komplexen" System der "Planung und Leitung" fortentwickelt hat. Die sowjetische Industrie haben staatlich gelenkte Arbeiter und Ingenieure geschaffen; die seltsame Produktionsweise, die sie gelenkt und ihnen das Leben schwergemacht hat, ist Stalins Werk. Er hat mit aller Gewalt aus der bolschewistischen Kapitalismuskritik, die so wenig Absage an die kapitalistische Produktionsweise enthielt und ihr trotzdem die Basis entzog, einen "Sozialismus in einem Lande" gemacht. Wie diese Umsetzung einer falschen Kritik in ein reales Wirtschaftssystem klappt, ärgert Kommunisten. Daß es klappt, ärgert die bürgerlichen Gegner. Daß die Sache nicht besser klappt, ärgert Stalins Nachfolger. Das sind die zwei Unterschiede.
Stalin, der Erfinder des Personenkults oder: Vom Linienstreit zur blutigen Parteisäuberung
Stalin hat Lenin schon bald nach dessen Tod ein Mausoleum bauen lassen. Das sollten Demokraten besser nicht kritisieren, die Plakate mit kolorierten Visagen als Wahlargumente kennen und zu würdigen wissen. Seltsam ist das allerdings für eine Partei, die zusammen mit der Zarenherrschaft ja den ganzen religiös-moralischen Plunder abgeräumt hatte.
Dabei ist gar nichts daran auszusetzen, daß Stalin - wie die ganze bolschewistische Partei - Lenin als Autorität in politischen Fragen geschätzt hat. Es ist allerdings ein Unterschied, ob ein Verein von Revolutionären mit dem sicheren Urteilsvermögen eines Mitglieds genügend gute Erfahrungen gemacht hat um ihm auch dort zu trauen, wo kein unwiderlegliches Argument die Sache entscheidet - oder ob ein balsamierter Leichnam in feierlicher Umgebung zur Schau gestellt wird. Letzteres kommt aus der Absicht, ein Verhältnis der Treue herzustellen, das den Standpunkt des gemeinsamen Beratschlagens immerhin der Wortsinn von "Sowjet" - von vornherein durch Unterwerfung ersetzt. Dabei kann es gar nicht der Tote sein, dem diese Treue gilt; denn der ist ja tot. Es geht um die Sache, für die der aufbewahrte Leichnam sich zu Lebzeiten eingesetzt hatte. Zu der paßt ein Autoritätsverhältnis- bzw. Unterwerfungsverhältnis aber schon gleich nicht: Schließlich handelt es sich da um den gemeinsamen revolutionären Zweck, den die Parteimitglieder allemal sich setzen müssen. Und dieser Zweck ist nun einmal so beschaffen, daß er nichts gewinnen kann durch die Erinnerung an Leute, die ihn auch schon geteilt haben: Die Kritik des Kapitalismus und die Methoden seiner Abschaffung begreift man dadurch kein bißchen besser. Stalin hat sicher selbst nicht gemeint, mit einem Mausoleum und Lenin-Denkmälern wäre irgendwer für den Kommunismus zu agitieren. Umgekehrt zeigt die Abzweigung von knappem Baumaterial für solche Standbilder, was für eine Sorte Eindruck der Generalsekretär dieser KP den Leuten im allgemeinen und seinen Genossen im besonderen machen wollte.
Vom Volk verlangte Stalin auf diesem Wege Respekt, und zwar für die herrschende Macht, die mit dermaßen luxuriösen Bauten ihren Gründer, also in dessen Feier sich selber ehrt. Zwar ist solcher Respekt allemal nur so wirksam wie die Macht, der der beeindruckte Untertan ohnehin gehorchen muß. Im Respekt vor der gestorbenen Größe wird der Gehorsam aber mit dem Trost versehen, nicht einfach der Macht, sondern den Idealen und der liebenswürdigen Persönlichkeit ihres Begründers zu gelten. Insoweit war Stalins Initiative für eine nationale Lenin-Verehrung eine nach Form und Inhalt antirevolutionäre Spekulation auf die Tradition einer antirevolutionären Untertanengesinnung.
Für die Partei bedeutete die Einführung eines ideologischen. Treueverhältnisses zum Häuptling der Revolution ein Disziplinierungsmittel, wobei die Denkmäler eine weit weniger wichtige Rolle spielte als die Technik - die nicht bloß Stalin beherrschte -, die Berufung auf Lenin wie ein Argument zu handhaben. Dabei ging es nicht um Disziplin im Sinne der unerläßlichen funktionalen Tugend des - revolutionären - Kampfes, die auf dem Standpunkt der engagierten Mannschaft selbst beruht, daß sie ihren Erfolg nicht von den Leuten ihrer Mitglieder abhängig machen darf. Auch dieser Standpunkt gewinnt nichts durch lebende oder tote Vorbilder; wo Vorbilder etwas bewirken (sollen), da geht es um etwas anderes. Nämlich um eine Identifizierung mit der durchs Vorbild verkörperten Sache, die sich von deren Billigung aus Wissen und Willen gerade unabhängig macht.
Daß Stalin auf diese Weise unter den Bolschewiki Unterwürfigkeit als Parteitugend institutionalisiert hat, wird ihm rückblickend gern als Machenschaft eines berechnenden Machtstrebens angekreidet. Dieser hochanständige Vorwurf läßt bezeichnenderweise den Umstand außer acht, daß dazu immer auch eine Partei gehört, der eine solche Haltung als Tugend einleuchtet - womit übrigens die Stoßrichtung dieses Vorwurfs kenntlich wird: Im Grunde soll immer nur gesagt sein, daß der Falsche die Partei unter seine Kontrolle gebracht hätte. Dabei war es im Falle der bolschewistischen Partei immerhin ein Widerspruch - ganz anders als bei demokratischen Wahlvereinen oder bei einer faschistischen Bewegung, die je auf ihre Weise nichts als erfolgreiche Führung fordern -, wenn da blinde Gefolgschaft verlangt wird, um die aus Opportunismus und Moral ertragene Gewalt der Klassengesellschaft durch etwas Gescheites zu ersetzen. Diesen Widerspruch hätte Stalin nie schaffen können, wenn er nicht sowieso das Selbstbewußtsein der Partei - und auch das seine! - geprägt hätte.
Tatsächlich war im revolutionären Standpunkt der Bolschewiki eine Kündigung des bürgerlichen Moralismus, der die Hingebung an gar nicht selbst gesetzte, sondern "höhere" Zwecke, an verpflichtende Werte idealisiert, nicht enthalten. Dem Inhalt nach nicht: So klar diese Partei die Verlogenheit der bürgerlichen Gleichheits-, Freiheits- und Brüderlichkeitsphrasen durchschaut hatte, so kompromißlos bekannte sie sich andererseits zu eben diesen Idealen und verstand ihren Umsturz als das Unternehmen, diese wirklich und wahrhaftig zu verwirklichen. Und der Form nach schon gleich nicht: Die Vorstellung, einen historisch "fälligen" Menschheitsfortschritt zu vollstrecken - dies der "materialistische" Unterbau zu dem idealistischen Weltverbesserungsanliegen -, ist per se moralischer Natur, weil sie die Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse vom Zweck, den die Partei sich setzt und verwirklicht, so gut es geht, zu einer Art Auftrag verklärt, dem diese Partei dient. Infolgedessen gingen dann auch die Diskussionen, die die Bolschewiki um politische und taktische Entscheidungen führten, nie darin auf, Hindernisse und Feinde zu identifizieren und die besten Methoden der Durchsetzung zu entwickeln. Sie waren auch dabei beseelt von dem Bewußtsein, einen gerechten Streit gegen Kräfte zu führen, die ebenso böse wie zum Untergang verurteilt wären. Ihren revolutionären Kampf führten sie, paradox genug, nach Maßgabe der Vorstellung, daß ihr Vorhaben unendlich gut, dabei aber in seiner praktischen Gültigkeit durch die geschichtliche Situation diktiert und gerechtfertigt, also auch von seinen Erfolgsbedingungen abhängig sei.
In dieser moralisch-geschichtsteleologischen Beleuchtung waren Siege und Niederlagen der Partei nie bloß Siege und Niederlagen aus denen die Bolschewiki übrigens durchaus einiges für ihre Taktik gelernt haben -, sondern immer gleich Anlaß zu ideologischen Fragen. Erfolge "bewiesen" allen Ernstes die historische Gerechtigkeit der eigenen Sache und stellten den prognostischen Fähigkeiten der Partei und ihrer Leitung ein gutes Zeugnis aus. Mißerfolge warfen Zweifel auf, ob die Verantwortlichen sich nicht in der geschichtlichen "Tagesordnung" vergriffen hätten; das war entweder durch eine Revision der parteiamtlichen "Einschätzung" der historischen Situation zu bereinigen - oder man mußte folgern, daß da gegen die durchaus korrekte Parteilinie gesündigt worden war.
Nun hatte Lenin gewiß nicht deswegen Erfolg gehabt, weil er sich von der Einsicht in objektive Gesetze des Geschichtsverlaufs abhängig gemacht hätte - eher schon deswegen, weil solche Theorien ihm im entscheidenden Moment egal waren. Für die Partei machte die siegreiche Revolution deren Anführer aber zum Inbegriff der revolutionären Geschichtswissenschaft und der einzig korrekten Parteilinie; genau das hat Stalin sich gemerkt. Umgekehrt ging beim Aufbau der Parteiherrschaft über Rußland vieles schief, aber ganz sicher nie deswegen, weil die Deduktionen der Partei über das historisch Gebotene mißachtet worden wären - eher schon aus Respekt vor solchen imaginären Gesetzen. Für die Partei stellten sich Fehler oder Mißerfolqe jedoch, allemal als Abweichungen vom objektiv vorgezeichneten Erfolgsweg dar; Abweichungen, denen man durchaus keine Gutwilligkeit zugute halten durfte, weil das Parteiwissen ums Unausweichliche ja vorhanden war. Das hat Stalin erst recht eingeleuchtet. Aus diesem guten bolschewistischen Geist heraus wollte er Lenins Partei weiterführen.
So hat Stalin sich zum einen alle Mühe gegeben, in die Rolle Lenins hineinzuwachsen. Er hat sich, obwohl alles andere als ein heller Kopf, redlich angestrengt, alles, was er für politisch notwendig hielt zur Rettung und Sicherung der Sowjetmacht, auch noch als geschichtlich geboten nachzuweisen. Statt einfach dafür zu werben, die Partei solle sich lieber heute als morgen zum sozialistischen Aufbau im eigenen Land entschließen, hat er unter lauter Leuten, denen das Eindruck gemacht hat, mit Lenin-Zitaten die Überzeugung durchsetzen wollen, "Sozialismus in einem Lande" sei in Anbetracht aller ehernen Gesetze der Geschichte und ihres Stundenplans sogar 1926 in Rußland möglich. Den Kulaken, also den "reichen Bauern", ist er ab 1927 an den Kragen gegangen, weil er der Gefahr einer wiedererstarkenden Privatmacht des Grundeigentums und Lebensmittelhandelskapitals entgegenwirken wollte; aber er hat seine Partei nicht einfach für dieses Ziel mobilisiert, sondern für die "Theorie" gewinnen wollen, eine "Verschärfung des Klassenkampfes" gerade bei zunehmenden Erfolgen des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus sei geschichtsgesetzlich notwendig, und dieser "einfachen und offenkundigen Wahrheit" müßte die Partei sich stellen. Und so weiter.
Daß diesen "theoretischen Fortentwicklungen des Leninismus" ihr Charakter als ad hoc konstruierte Ideologien zum politischen Beschluß deutlich anzumerken ist, stellt Stalins politischem Urteilsvermögen ein gutes Zeugnis aus: So wenig wie Lenin beim Machen der Revolution hat er sich in seinem Aufbauprogramm von Fetischismus einer geschichtlichen "Tagesordnung" abhängig gemacht. Das ist aber nur die eine Seite. Stalin hat zugleich diese Manier des Wahrheitsbeweises für seine Politik, hauptsächlich aus den entsprechend vergoldeten Worten des toten Lenin, sehr ernst genommen und sich darin mit seiner Partei ganz einig gewußt. Deswegen und nicht aus zynischer Berechnung hat er sie dermaßen perfektioniert, daß er die ZK- und Parteitagsdebatten über die wichtigsten Entscheidungen mehr noch als mit politischen Lagebestimmungen mit Hilfe atemberaubender Wortklaubereien und rechthaberischer Interpretationskunststücke bestritten hat. Wiederum lag es wohl kaum an der Überzeugungskraft seiner mühseligen Ableitungen, daß die Partei ihm in den wichtigsten Entscheidungen gefolgt ist; und erst recht nicht, daß sie sich in der eigenen Gesellschaft und gegen die angegriffenen "Klassen" durchgesetzt hat. Im Lichte des Geschichtsbildes seiner Partei gerieten solche Erfolge Stalins aber automatisch zu dem Beweis, daß seine Ideologien ihn als intimen Kenner des von "der Wirklichkeit" Gebotenen und Fälligen auswiesen, daß er die Übereinstimmung der Parteilinie mit ihren Erfolgsbedingungen und -garantien buchstäblich verkörperte, daß also die Partei in ihm ihren neuen Lenin den "Lenin unserer Tage" gefunden hatte.
Im gleichen Geist führte Stalin zum andern den Streit mit Vertretern einer abweichenden Parteilinie. Die Alternativen klarstellen; falschen Radikalismus und Kompromißlertum kritisieren; die zu überwindenden Hindernisse auf den Begriff bringen; gemeinsame Einsichten und Konsens über eine gewählte Vorgehensweise herstellen: Das war - oder besser: das wäre dem Generalsekretär entschieden zu wenig gewesen. Den Kampf um eine Mehrheit für seine Linie hat Stalin immer mit den Waffen des Geschichtsmoralismus bestritten, der in seiner Partei als "Marxismus-Leninismus" galt: Gegner wurden als Abweichler vom Revolutionsauftrag der Weltgeschichte in ihrem momentanen Stadium hingestellt - der Nachweis dafür wurde zunächst mit Vorliebe anhand wirklicher oder angeblicher Unstimmigkeiten zwischen ihren Auffassungen und Lenin-Zitaten geführt und unter den Verdacht gestellt, den guten Zweck der Partei in Wahrheit gar nicht zu teilen.
Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Gegen den Zweifel Sinowjews, ob die Parole vom Aufbau des Sozialismus bloß in Rußland "eine leninistische Fragestellung" sei und "nicht nach nationaler Beschränktheit" rieche, was nun sicher auch kein brillanter Diskussionsbeitrag war, polemisierte Stalin in der Schrift "Zu den Fragen des Leninismus" von 1926 mit folgender Deduktion:
"Somit heißt es nach Sinowjew, auf dem Standpunkte der nationalen Beschränktheit stehen, wenn man die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande anerkennt, und auf dem Standpunkte des Internationalismus stehen, wenn man diese Möglichkeit verneint.
Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus, daß ein solcher Sieg unmöglich ist? Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft - dahin führt die innere Logik der Argumentation Sinowjews.
Und diese Ungereimtheit, die mit dem Leninismus nichts gemein hat, wird uns von Sinowjew als ‚Internationalismus' als ‚hundertprozentiger Leninismus' aufgetischt!
Ich behaupte, daß Sinowjew in der so wichtigen Frage des Aufbaus des Sozialismus sich vom Leninismus abkehrt und zum Standpunkte des Menschewiks Suchanow hinabsinkt."
Mit der Entscheidung der Partei war ein solcher Streit nicht etwa beendet, sondern der unterlegene Gegner historisch ins Unrecht gesetzt und eines der Parteilinie widersprechenden, also parteischädlichen Standpunkts überführt. Das Vernichtende an diesem Verdikt lag darin, daß es in den allermeisten Fällen gar keinen wirklichen "bösen" Willen zur Sabotage am sozialistischen Aufbau traf, sondern lauter gute Leninisten, die genauso wie Stalin nach der einzig korrekten Antwort auf die historische Auftragslage suchten - und sich durch Stalins Erfolg tatsächlich ins Unrecht gesetzt sahen. Dabei waren sie selbst, wiederum genau wie ihr Generalsekretär, nicht in der Lage, zwischen Irrtum - wenn es denn schon letztlich um eine falsche Geschichtsauffassung gehen sollte - und Verstoß - nämlich gegen die richtige Auffassung der Partei - zu unterscheiden. Daß sie sich unter Selbstbezichtigungen von ihrem parteiwidrigen Standpunkt lossagen mußten oder der Achtung als Parteifeinde verfielen und ausgeschlossen wurden, gehörte somit zur moralischen Kultur des Bolschewismus, die kein Stalin-Kontrahent je kritisiert hat.
Stalins ganz eigene Leistung war es, die Dialektik des moralischen Verdachts bis zum Ende durchzuexerzieren. Denn darauf mußte er als konsequenter Hüter der Parteilinie ja früher oder später verfallen, daß die innerparteilichen Streitigkeiten mit Unterwerfungserklärungen der Unterlegenen noch immer keinen befriedigenden Abschluß gefunden hatten. Wo einmal der Verdacht aufgekommen war, ein Genosse würde den Zweck der Partei gar nicht wirklich und ehrlich teilen, da mußte seine nachträgliche Zustimmung zur durchgesetzten Politik auch den Zweifel auf sich ziehen, ob sie denn nun ehrlich war oder nur aus Opportunismus abgegeben, so daß die nächste Abweichung schon vorprogrammiert war, oder sogar in der Berechnung, der Partei weiterhin von innen her schaden zu können. Überall witterte der Chef Verrat. Nachdem einmal der Vorwurf "Doppelzüngler" ins Parteileben eingeführt war, ließ sich überhaupt kein Unterwerfungsakt mehr moralisch halten: Je gründlicher er ausfiel, um so gewisser war der Heucheleiverdacht. Die Überprüfung der Zuverlässigkeit der Parteimitglieder trennte sich auf diese Weise völlig ab vom Streit um Alternativen des sozialistischen Aufbaus; Stalin als dem Inbegriff der korrekten Linie fiel die unangenehme Aufgabe zu, letztlich nach der Stellung der Genossen z u ihm darüber zu entscheiden, wo ein Verdacht auf Unzuverlässigkeit am Platz war. Der antirevolutionäre Drang, das Treiben der Partei an vorgestellten objektiven Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu messen schlug so am Ende konsequenterweise um in die persönliche Willkür dessen, den die Folgsamkeit und die Erfolge seiner Partei als den "genialen" Kenner besagter Gesetzmäßigkeit auswiesen. Sein moralisches Urteil wurde dann liebevoll zu ganzen Verschwörungstheorien ausgewalzt, in denen das imperialistische Ausland regelmäßig als Auftraggeber auftauchte. Mancher Angeklagte glaubte am Ende zum Teil selber daran. Bisweilen bekannten sie sich auch ohne Überzeugung öffentlich zu ihnen, um ihrer Partei einen (letzten) Dienst zu erweisen.
Dieser Fortschritt vom moralisch geführten Linienstreit zur immer haltloseren Parteisäuberung wurde dadurch entschieden gefördert, daß die praktischen Probleme des stürmischen sozialistischen Aufbaus "in einem Lande" auch dann keineswegs aufhörten, sondern erst richtig schmerzlich wurden, als die Partei sich ansonsten vollständig und mit stehenden Ovationen um ihren Generalsekretär geschart hatte. Zweifel an der Absurdität, die sozialistische Planung unter das Diktat der Finanzen und ihrer Mehrung zu stellen, wurden nicht mehr laut; um so klarer schien der "Schluß" auf Sabotage, wenn es mit dem Hand-in-Hand-Arbeiten der Betriebe und Branchen vorn und hinten nicht klappte. Als Häupter der aufbaufeindlichen Verschwörung standen je schon die Genossen fest, die irgendwann einmal am "Sozialismus in einem Lande", der "notwendigen Verschärfung der Klassenkämpfe" oder sonst einer Doktrin gezweifelt hatten und davon - "offenbar!" - nie losgekommen waren. Da Unterwerfung kein Vertrauen mehr schaffen konnte, blieb, auch das moralisch konsequent gedacht, nur noch die Liquidierung der treulosen Genossen übrig - auch das wieder eine "historisch notwendige" Fortentwicklung der Parteilinie, an der sich fortan die verlangte Parteitreue beweisen mußte... Logischerweise blieben auch die Genossen nicht verschont, die überhaupt nie eine inhaltliche Abweichung hatten erkennen lassen: Von den 1966 Delegierten des XVII. Parteitags, die 1934 dem totalen Sieg der Linie Stalins einmütig zugejubelt hatten -
"Mußte man auf dem XV. Parteitag noch die Richtigkeit der Linie der Partei beweisen und einen Kampf gegen bestimmte antileninistische Gruppierungen führen, auf dem XVI. Parteitag aber mit den letzten Anhängern dieser Gruppierungen aufräumen, so braucht man auf diesem Parteitag nichts zu beweisen, und es gibt wohl auch niemanden, der geschlagen werden müßte. Alle sehen, daß die Parteilinie gesiegt hat. (Donnernder Beifall.)" (aus: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag) -,
wurden nach Angaben Chruschtschows bis zum XVIII. Parteitag 1938 immerhin 1106 verhaftet, von den dort gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees 98 liquidiert.
Die Kultur des Verdachts machte vor den parteilosen Massen nicht halt. Stalin leistete sich den Widerspruch, auch von Leuten, die seine Partei gar nicht für den Kommunismus gewonnen hatte, die bedingungslose Anerkennug der Partei und ihres Chefs als Garanten für ein sicheres Fortschreiten zum Kommunismus zu verlangen. Er folgte damit dem hochmoralischen, aber leider völlig antiagitatorischen Selbstbewußtsein seiner Partei, die ihre Sache für die objektiv-höchste Pflicht aller anständigen Zeitgenossen hielt, auch ohne daß die Guten erst etwas davon begreifen mußten, einfach auf Grund der durch "die Geschichte" verbürgten Fälligkeit des Übergangs zum Sozialismus. Jedermann wurde am Maßstab rückhaltloser Treue zur Partei Lenins und zum "Lenin unserer Tage" gemessen, auch wenn er sich nie überlegt hatte, ob ihm deren Zweck überhaupt recht war; gerechterweise fiel die Messung immerhin weniger streng aus als bei Parteikadern, stets in Entsprechung zur persönlichen Verantwortung für den gesellschaftlichen Fortschritt. Die Chance, das Verhältnis zwischen Partei und Massen jemals in der Identität des von der Gesellschaft bewußt verfolgten Zwecks aufzulösen, wurde als in moralischer Hinsicht je schon gegebene Sachlage hingestellt - und damit gründlich begraben. So verhalf Stalin dem bolschewistischen Revolutionsmoralismus zu seiner Karriere als Ideologie einer Staatsgewalt, der dieser Kommunist am Ende gar kein "allmähliches Absterben" mehr prophezeien mochte.
Statt dessen ging der Generalsekretär dazu über, die einzig korrekte Parteilinie auch noch in solchen vom sozialistischen Aufbau ein wenig abgelegenen Fragen wie der Vererbungslehre und einer dialektisch-materialistischen Sprachwissenschaft zu verkörpern. Auch nach dieser mehr lächerlichen Seite hin hat der Mann nur konsequent zu Ende geführt, was im Begriff des Vorbilds steckt: das erzbürgerliche Ideal einer durch den Verstand ohnehin nie zu rechtfertigenden, "persönlichen Autorität".
Die Entdeckung seiner Nachfolger, daß Stalins Beispiel doch nicht gut genug wäre, um seine Leiche neben der Lenins in jenem Mausoleum auszustellen, hat von diesem Fehler nur die Radikalität zurückgenommen, die zur mittlerweile einigermaßen aufgebauten sozialistischen Weltmacht nicht mehr paßte. Dank Stalins Erfolgen kommt sein Wirtschaftswunder heute ohne Zwangsarbeit aus und sein Geschichtsmoralismus ohne Schauprozesse - und das immerhin weit besser als die bürgerliche Hetze ohne stalinistisches Feindbild.
Stalin, der Großvater des Eurokommunismus oder: Von der Kündigung des Nationalismus zur Politik der "Nationalen-Front"-Bildung
Stalin hat 1943 die III. Kommunistische Internationale, die "Komintern", das von Lenin geschaffene Bündnis revolutionärer Parteien, aufgelöst. Damit hat er wenigstens einen der politischen Widersprüche gelöst, die er von dem ersten Parteichef geerbt und mit Konsequenz befolgt hat. Auch das in antikommunistischem Sinn - was ihm kein bürgerlirher Demokrat je geglaubt, geschweige denn gedankt hat. Daß seine ausdrückliche Absage an das Projekt einer Weltrevolution immer als taktische Finte galt - der unwirksamste Trick der Weltgeschichte, wenn es einer gewesen wäre! -; daß ausgerechnet die Gründung eines "Ostblocks" aus Ländern, die die siegreiche Rote Armee besetzt hatte, bis heute schlagender Beweis für einen "Weltrevolutionären Expansionsdrang" des russischen Kommunismus angesehen wird: Das ist, was Stalin betrifft, ein grandioses Mißverständnis. Was dessen Urheber betrifft, ist es Ausdruck des ungebrochenen imperialistischen Willens, die Sowjetmacht trotz allem als Störung jeder "normalen" Weltpolitik zu behandeln.
Daß der Nationalstaat, ob bürgerlich oder von den Parteien der II. Sozialistischen Internationale (mit-)regiert, der geborene Feind des Kommunismus ist, war der Gründungsgenke der Komintern. Die Einsicht, daß der Imperialismus solcher Staaten nur von innen her, durch den Aufstand eines revolutionären Proletariats, das die außenpolitischen Interessen seiner Herrschaft als seinen Schaden begreift, zu brechen ist - während kriegerische Niederlagen diese Interessen nur radikaler machen -, das war für die im eigenen Land siegreiche bolschewistische Partei ein Grund mehr, das Bündnis revolutionärer Parteien zu fördern; denn sie mußte um den Bestand der Sowjetmacht fürchten, solange die wichtigsten imperialistischen Staaten intakt waren - das hatten die mit ihrer Unterstützung für die "weißgardistische" Konterrevolution gerade erst nachdrücklich bewiesen. Die mit den Bolschewiki verbündeten Parteien ihererseits erkannten an, daß es ihre eigene Sache war, die in der Oktoberrevolution einen ersten großen Sieg errungen hatte, und kümmerten sich dementsprechend mit um die Festigung dieses Erfolgs. Ihr gemeinsames Anliegen war die Weltrevolution, nicht mehr und nicht weniger.
Für diesen Zweck hätte es nichts weiter bedeuten müssen, daß es den Kommunisten zunächst einmal nicht gelang, ihren russischen Erfolg in anderen Ländern fortzusetzen. Scheitern ist für sich genommen kein Argument; und wenn das Scheitern notwendig war, weil Fehler gemacht wurden, dann beseitigt man diese und versucht es wieder solange man am vorgenommenen Zweck festhält. Doch so "einfach" sahen die Bolschewiki und ihr Generalsekretär die Sache nicht. Sie hielten ihren Erfolg für vorbildlich, und zwar keineswegs, bloß im Hinblick auf praktische Fragen der Art, wie man am besten verelendete, kriegsmüde Kleinbauern agitiert oder einen Zaren schlechtmacht, sondern in einem prinzipielleren Sinn. Ihrem Lenin rechneten sie es als "Genialität" an, daß er haargenau den richtigen Zeitpunkt fürs Umstürzen getroffen, nämlich die einzigartige Konstellation von Bedingungen erwischt hätte, die eine erfolgreiche Revolution, möglich machte. Und genau das sollten die ausländischen Genossen aus den russischen Revolutionserfahrungen lernen; denn wie ihr Mißerfolg "bewies", fehlte es ihnen "offenbar" an eben diesem "Gespür fürs Machbare".
In dieser Art, Erfolg und Mißerfolg zu "erklären", steckt ein seltsames Spiel mit der logischen Kategorie der Möglichkeit. Nur zum Schein oder nebenher geht es darum, eine vorgefundene politische Lage zu analysieren und die Ansatzpunkte für wirksames Eingreifen zu finden. Die Reflexion aufs "Mögliche" und "Machbare" besteht in einem ganz leeren Abhängigkeitsgedanken: Genau die Lage, die eine revolutionäre Partei umstürzen will, wird zur Bedingung ernannt, von der die Möglichkeit eines Erfolgs abhängen soll. Am Ende erscheint "die Situation", i n der die Revolution gelingt, als Ursache dafür, daß sie gelingt. Dieser Denkfehler kann harmlos sein, wenn Kommunisten im Verlauf ihres Kampfes "die Situation" für eine "revolutionäre" halten und dann so wie Lenin - das für den Durchbruch Nötige machen. Da kürzt sich nämlich die Vorstellung, in Abhängigkeit von vorgegebenen Erfolgsbedingungen zu handeln, praktisch ‚raus. Als "Erklärung" für einen Mißerfolg ist dieser Gedanke aber allemal fatal"; denn dann bleibt als letzte Weisheit die Auskunft übrig: E s ging j a auch nicht. Diese Botschaft ist mit beliebigen "Belegen" zu füllen; denn sie legt ja jeder namhaft zu machenden Schwierigkeit den kleinen Bedeutungswandel zur Unmöglichkeit bei. Das mag Trost stiften - was schon blöd genug ist für gescheiterte Kommunisten. Vor allem aber steckt in einer solchen "Lehre der Geschichte" allemal der dezente Hinweis, daß man sich überhaupt das Falsche vorgenommen hätte. Am Ende kommt nichts als eine Kritik der Absicht heraus, und zwar eine der pur opportunistischen Art: Wenn ein Umsturz scheitert, dann liegt das, so betrachtet, nicht an dieser und jener eigenen Schwäche und feindlichen Stärke, sondern daran, daß das ganze Unterfangen für "die Situation" überhaupt und insgesamt zu umstürzlerisch war.
Die Bolschewiki waren Meister dieses Unterordnungs- und Anpassungsgedankens auch wenn sie sich selbst gar nicht den Bedingungen untergeordnet hatten; aber bei ihnen war die Rechnung ja gut aufgegangen, und so konnte ihre Theorie von der genial erfaßten "revolutionären Situation" ihrem Erfolg nur das stolze Bewußtsein hinzufügen, im Sinne aller angeblichen Marx- und Engels'schen "Prognosen" eine "geschichtliche Mission" vollbracht zu haben. Daß solcher "Empirismus" andersherum auf nichts als eine gigantische Rechtfertigung des politischen Opportunismus, des antirevolutionären Standpunkts schlechthin, hinausläuft, das kam in ihrer Komintern-Politik je länger, je mehr zum Tragen - auch wenn Lenin noch im Namen dieser Geisteshaltung einiges Richtige vertreten, z.B., die leicht spleenigen Revolutionshoffnungen einiger westeuropäischer Linksradikaler mit richtigen Hinweisen auf die Notwendigkeit kritisiert hatte, den Kampf, den man gewinnen will, erst einmal gescheit zu führen und nicht bloß voller Begeisterung für im Prinzip schon gewonnen zu erklären... Stalin jedenfalls hat seinen ausländischen Genossen nur und nachdrücklich die "Lehre aus der Geschichte" nahegelegt, die in dieser Denkungsart per se enthalten ist: Ihr Mißerfolg beim Umstürzen wäre der Beweis, daß sie ihre Politik nicht aufs Mögliche gerichtet und ihre Aufgaben nicht richig erkannt hätten; für sie stände eben die Revolution nicht auf der"Tagesordnung ".
Was statt dessen ? Die Frage war nicht schwer zu beantworten; um die Antwort war es Stalin ja überhaupt zu tun. In Rußland war sie losgegangen, die Revolution, die alle Kommunisten wünschen. Also lag da auch ihre Aufgabe, und zwar eine, die bislang erfolglose kommunistische Parteien nicht überfordern mußte. Gefordert war antiimperialistischer Kampf, und zwar unter einer bescheideneren Zielsetzung als der einer Weltrevolution, die mit den Klassenstaaten auch deren imperialistische Interessen zerschlagen würde: "Kampf" gegen den Antisowjetismus der bürgerlichen Staatenwelt. Der Grund, aus dem den siegreichen Bolschewiki ganz speziell an kommunistischen Erfolgen in anderen Staaten gelegen war: ihr Interesse an mehr Sicherheit für ihr Werk wurde so zum Zweck, den die auswärtigen Revolutionäre sich vornehmen sollten. Um sich dieser Aufgabe anzunehmen, war in der Tat keine "revolutionäre Situation" vonnöten. Denn das Revolution-Machen kürzte sich damit aus dem kommunistischen Aufgabenkatalog heraus: Um eine imperialistische Regierung von antisowjetischen Abenteuern abzuhalten, wäre ein Umsturz wirklich nicht das Mittel der Wahl.
Das wurde als erstes den Parteien beigebracht, die sich in ihren Ländern durchaus noch Chancen für eine Revolution ausrechneten. Die Pläne der deutschen Kommunisten wurden auf Komintern-Ebene so kräftig - problematisiert und verwirrt, daß 1923 überhaupt nichts. Gescheites zustandekam. Den chinesischen Kommunisten wurde die Unterordnung unter Tschiang-Kaischek befohlen, bis dieser gegen sie in die Offensive gehen konnte; die Aufstände, die auf Stalins Rat dann angezettelt wurden, hatten tatsächlich keine Chance mehr. Erklärte Feinde hätten kaum wirksamer vorgehen können. Für Stalin und seine Partei bestätigte sich so die "Einschätzung", die sie von den Erfolgsaussichten des Sozialismus außerhalb ihres eigenen Landes hatten.
Die von Stalin diktierte "bescheidenere" antiimperialistische Zielsetzung, für gute Beziehungen zur Sowjetunion zu werben, wurde von den Komintern-Parteien allerdings auch nicht viel erfolgreicher erledigt; und das lag - nun überhaupt nicht an den Umständen, mit und unter denen sie zu kämpfen hatten, sondern an der Widersprüchlichkeit dieser Aufgabe selbst. Diese Parteien hatten sich von der II. Internationale getrennt und gegen die Sozialdemokratie gestellt, weil sie den Standpunkt des "proletarischen Internationalismus" gegen den einer nationalen Außenpolitik verfochten, weil sie das Mitmachen unter dem "Dach" des Nationalstaats ablehnten, weil sie den demokratischen Reformismus bekämpften usw. Nun sollten sie für friedliche Beziehungen ihrer Regierung zur Sowjetunion eintreten und sich in diesem Sinne und überhaupt ohne revolutionäre Ambitionen ins nationale Politikgewerbe einmischen, auch mit der Sozialdemokratie Bündnisse schließen und dergleichen mehr. Das wunderte die Basis und machte den bürgerlichen und sozialdemokratischen Gegnern noch lange keinen Eindruck; ihre Maskierung machte sie noch nicht zu Partnern. Dabei maskierten diese moskautreuen Seelen sich gar nicht bloß, sondern sie erbrachten Spitzenleistungen an Selbstverleugnung. Mit ihren Einmischungs- und Bündnisangeboten stellten sie ja ganz ausdrücklich die Parteigegensätze, die es innerhalb des antikommunistischen Lagers gab, über den Gegensatz, den sie zu den anderen Parteien überhaupt noch eröffnen wollten - und überließen es denen, ihrerseits ihren Antikommunismus zu betonen. Sie wollten Opportunisten sein und weckten damit doch immer wieder bloß Argwohn gegen die Echtheit ihres Opportunismus. Das um so ehr, weil sie nicht einmal eine Linie der Anpassung durchhalten konnten, sondern zwischendurch auch wieder dazu angehalten wurden, die Sozialdemokratie als Hauptfeind anzugreifen, so als hätten sie mitten im Kapitalismus kein größeres Problem, als so ähnlich wie Stalin in Rußland mit falschen Freunden und "Verrätern" abzurechnen. Anschließend war dann wieder der gemeinsame Gegensatz der Demokraten gegen die Faschisten der höchste Wert der Komintern; und pflichtschuldigst retteten kommunistische Volksfrontminister die bürgerlichen Verhältnisse z.B. in Frankreich vor streikenden Arbeitern, die die kommunistische Regierungsbeteiligung als Anfang vom Ende des Klassenstaats mißverstanden hatten. Für die Revolution sollte "die Zeit" nicht "reif" sein; aber um in Spanien für den Unterschied zwischen dem Faschismus und einer linksliberalen Republik zu bluten, für die auch noch nicht einmal ein kommunistischer Übergang erlaubt war, dafür waren Stalin die kommunistischen Kämpfer gut genug - und die sich nicht zu schade...
Derweil erledigte Stalin die Aufgabe, die er für die verbündeten kommunistischen Parteien vorgesehen hatte, auf ganz anderer Ebene selber: Er trieb Außenpolitik. Von Regierung zu Regierung warb er um Anerkennung - die 1924 von wichtigen Staaten ausgesprochen wurde -, um Handelsbeziehungen, um NichtAngriffs-Pakte und überhaupt um Frieden. Den Chefs imperialistischer Nationen suchte er klarzumachen, daß mit dem revolutionären Rußland bestens auszukommen wäre. Daß dieses Mitmischen im diplomatischen Konkurrenzkampf der Existenz einer von Moskau gelenkten Komintern widersprach, die immer noch als Agentur der Subversion galt und eine internationale Solidarität der Staatsfeinde im Programm stehen hatte, wurde Stalin von seinen regierenden Gesprächspartnern klargemacht: Die ließen schon mal eine offizielle sowjetische Vertretung wegen ungehöriger Umtriebe abräumen.
Für eine kleine Weile sorgte der 2. Weltkrieg für klare Verhältnisse. Daß sein Staat zum Hauptopfer des unbefriedigten deutschen Imperialismus wurde, registrierte der Generalsekretär nicht als glanzvolles Scheitern seiner allseitigen außenpolitischen Anbiederei zuletzt bekanntlich noch bei den Nazis -, geschweige denn als Quittung für gewisse "Versäumnisse" bei der Beförderung der Weltrevolution, die den Gründern der III. Internationale noch als einzige wirkliche Überlebensversicherung für den "Sozialismus in einem Lande" eingeleuchtet hatte. Stalin nutzte das antifaschistische Kriegsbündnis zum Einstand als voll eingemeindetes Mitglied der Staatenwelt des demokratischen Imperialismus. An die verbündeten Parteien erging der Auftrag, sich ebenso in jede beliebige antifaschistische Einheit einzufügen und keine andere Rolle mehr spielen zu wollen als die des besten Demokraten. Die Komintern wurde darüber gleich in doppelter Weise zum Anachronismus: Als Internationale von Oppositionsparteien störte sie die Demokratien, zu denen Stalin keinen politischen Gegensatz mehr pflegen wollte. Und andersherum: Als voll integrierte - oder jedenfalls bedingungslos integrationswillige - Stützen nationaler Einheitsfronten wurde den auswärtigen Kommunisten selbst der Rest von Internationalismus und die Pflicht zur Sowjettreue, die ihr Verein noch symbolisierte, zur Last. Die Auflösung der Komintern war nur konsequent und der Sieg des bürgerlichen Patriotismus in den übriggebliebenen Hammer- und Sichel-Parteien auch. Der konnte nur noch radikaler werden, als die bürgerlichen Partner sich die Freiheit nahmen, den Kommunisten die nationale Einheit wieder zu kündigen.
Diese Kündigung war nämlich fällig, als die durch den Weltkrieg erzwungene Einigkeit zwischen der Sowjetunion und den imperialistischen Demokratien ihr Ende nahm. Die Initiative dazu war einmal mehr bei den Gegnern des Kommunismus geblieben. Was Stalin blieb, war die Defensive, und zwar die einer Militär-Großmacht: Ostblock statt Weltrevolution. Das war Stalins letztes Wort in dieser Angelegenheit.
Selbstverständlich nehmen die freiheitlichen Weltmächte ihm das noch heute genauso übel, wie sie den weltweit organisierten Kommunisten eine Weltrevolution übelgenommen hätten. Der Unterschied ist nur: Dann gäbe es sie nicht mehr.
Der Genialissimus |
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J.W. Stalin und der »Aufbau des Sozialismus in einem Land«. Vor 50 Jahren starb der Zar, der sich Generalsekretär nannte |
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Als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, der unter seinem revolutionären Decknamen Stalin Geschichte machte, am 5. März 1953 um 21.30 Uhr starb, war er einsam wie ein Tiger im Wald. Die Mitglieder des Politbüros fanden ihn in seiner Datscha auf dem Fußboden liegend. In der Annahme, daß sich der »Genosse Stalin« wohl ein Nickerchen genehmigt habe, wie Nikita Chruschtschow später erzählte, schlichen sie sich leise davon. Als wollten sie der Geschichte, bevor sie von ihr in die Pflicht genommen wurden, noch eine kleine Atempause abringen.
In ihrem Innersten hatten sie mit dem »Woschd« (Führer), den sie zwar noch fürchteten, aber nicht mehr respektierten, bereits gebrochen. Der Alleinherrscher war zum Opfer seiner Alleinherrschaft geworden. Die Epigonen ahnten, daß der nächste Vernichtungsschlag ihnen gelten werde. Und Stalin ahnte, daß er sich der Seinen nicht mehr sicher sein konnte. Der blutige Machtkampf, den der Nachfolger Lenins jahrzehntelang der Partei aufgezwungen hatte, drängte zum Finale. Der natürliche Tod sorgte für ein versöhnliches Ende der Tragödie.
Als am Morgen des 6. März der Tod des Generalissimus bekanntgegeben wurde, durchlebte das Land einen Kulturschock, von dem es sich nie mehr richtig erholen sollte. Stalin, der große Baumeister der in der Oktoberrevolution wurzelnden sowjetischen Zivilisation, lebte nicht mehr. Der autoritäre Sozialismus war seiner Personifizierung verlustig gegangen. Die durch und durch, bis in die private Lebensweise stalinisierte Gesellschaft fühlte sich alleingelassen. Für einen Augenblick schien das Land in einen Zustand völliger Hilflosigkeit geraten zu sein. Wie an dem Tag, als Stalin den Einmarsch der Hitlertruppen »verschlafen« hatte. Nun schlief er für immer.
Ungleichheit und Despotie
Die spontane Volkstrauer warf die ganze Planung des staatlichen Trauerkomitees über den Haufen. Den Stalinschen Geist bedingungsloser Disziplin Hohn sprechend, zogen unorganisierte Menschenmassen zum Mausoleum, wo Stalin neben Lenin seine (vermeintlich) letzte Ruhestätte fand. Panik brach aus, und Hunderte Menschen wurden zu Tode getrampelt. In der leidenschaftlichen Huldigung des verstorbenen Begründers der sozialistischen Despotie lag bereits ein Element von Rebellion. Vor allem aber wurde klar, daß die Gesellschaft nach Jahrzehnten äußerster Anspannungen und einer noch nie dagewesenen Massenleistung nicht zu ihrem Gleichgewicht gefunden hatte. Stalins Tod fiel in eine Zeit zunehmender sozialer Unzufriedenheit und einer sich ausbreitenden Skepsis hinsichtlich der Realisierbarkeit des kommunistischen Zukunftsideals.
Der von Stalin in Gang gesetzte »Aufbau des Sozialismus in einem Land«, dessen Triebfedern ebenso Massenheroismus wie Massenrepressionen waren, bildete stets auch eine Quelle sozialer Spannungen. Die Erbauer des Sozialismus fühlten sich in ihrem Engagement für die große Sache höchst unterschiedlich entlohnt. Die soziale Differenzierung als Motor einer effektiven Wirtschaft haben nicht erst die Gorbatschow-Leute entdeckt. Die Perestroika fand ihr Vorbild in Stalins unermüdlichen Kampagnen gegen die »kleinbürgerliche Gleichmacherei«. Obwohl keiner der bolschewistischen Revolutionäre je Positionen des von Marx denunzierten »rohen Kasernenhofsozialismus« vertreten hat, dem in der Tat die gleichmacherischen Vorstellungen kleiner Warenproduzenten zugrunde liegen.
Wie Leo Trotzki seinem mörderischen Widersacher in der Schrift »Die verratene Revolution« aber vorhielt, bildete die soziale Ungleichheit die Voraussetzung des vom Generalsekretär verkörperten bürokratischen Herrschaftssystems und deren Aufrechterhaltung die Voraussetzung zur ständigen Reproduktion dieses Systems. In den sozialen Gegensätzen sah Trotzki die Ursache und in deren Verschärfung das Ergebnis der bürokratischen Machtübernahme: »Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut der Gesellschaft an Konsumgütern mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle«, schreibt er. Doch das Erreichen einer höheren Stufe der materiellen Produktion hob das bürokratische Regime und die soziale Ungleichheit nicht auf. Nun ging es darum, so Trotzki, »einer Minderheit erhebliche Privilegien zu gewähren und die Ungleichheit in eine Knute zur Anpeitschung der Mehrheit zu verwandeln. Das ist der erste Grund, warum das Wachsen der Produktion bisher nicht die sozialistischen, sondern die bürgerlichen Züge des Staates verstärkte«.
Anpeitschen, Zuspitzen, Durchrütteln. Das waren Konstanten der Stalin-Politik. Um die Gesellschaft auf Stalinschen Kurs zu bringen und zu halten, mußte ihr permanent Gewalt angetan werden. Doch auch die Ergebnisse waren gewaltig. Aus einem rückständigen Agrarland, das Jahrhunderte verschlafen hatte, war ein moderner Industriestaat geworden. Aus den Tiefen eines analphabetischen, unkultivierten und apathischen Volkes war eine in ihrer Breite beispiellose neue Intelligenz hervorgegangen.
Stalins aus den Fingern gesogene These, daß sich im Sozialismus die Klassenwidersprüche zwangsläufig verschärfen, wurde zur »selffullfilling prophecy«. Die Rolle des Klassenfeindes wurde in dieser subjektivistischen Klassenkampftheorie jeglicher – oft auch nur behaupteter – oppositioneller Strömung zur Stalinschen Generallinie zugeschrieben. Die Oppositionellen kamen und gingen – das Reservoir an Klassenfeinden erwies sich als unerschöpflich. Wer heute noch den Stalinschen Geist verkörperte, konnte morgen schon zu einem erbärmlichen Speichellecker der Bourgeoisie herabgesunken sein. Je fließender der Übergang von Freund zu Feind wurde, desto unverrückbarer stand das Dogma vom nie schlafenden Klassenfeind, das die Ermächtigung zum permanenten Terror abgab.
Es war nicht Josef Stalin, der über die UdSSR einen jahrzehntelangen Ausnahmezustand verhängte. Dieser Zustand war objektiv gegeben. Doch hat die stalinistische Führung die Ausnahmesituation, in der sich das vom Weltkapitalismus umzingelte Land befand, zum latenten Bürgerkrieg weitergetrieben. Das betrifft die Liquidierung der Kulaken als Klasse, den Einsatz von Millionen Zwangsarbeitern an den Großbaustellen des Sozialismus und die Eskalierung des innerparteilichen Konfliktes zu einem Kampf auf Leben und Tod. Das läßt Stalin als linksradikalen Übertreiber der russischen Revolution erscheinen, der die Verhältnisse stets aufs Neue aufmischte und die Gesellschaft permanent radikalisierte.
Prototyp des Zentrismus
Doch nichts lag dem Generalsekretär ferner, als Trotzkis Theorie der »permanenten Revolution« zu adaptieren. Stalin war im Gegenteil der Prototyp des Zentrismus. Seine Macht ergab sich aus der Paralysierung des linken und des rechten Flügels im Bolschewismus, aus der administrativen Gleichschaltung des revolutionären Diskurses. Er liquidierte mit Hilfe der Rechten die Linke und mit Hilfe der Linken die Rechte.
Frage an den Genossen Stalin: Welche ist die gefährlichere Abweichung, die linke oder die rechte? Antwort des Genossen Stalin: Beide sind gefährlicher. Doch auf der ständigen Suche nach der Mitte, in seinem Bestreben, das Stalinsche Zentrum dauerhaft zu festigen, verfiel der Mann, der aus dem sonnigen Georgien kam, immer wieder in einen irrationalen Radikalismus.
Die Industrialisierung war eine – in ihrem Wesen – voluntaristische Großtat historischer Dimension. Es schien, als könnte bolschewistischer Willen tatsächlich Berge versetzen. Doch hatte diese »Widerlegung« der Naturgesetze auch ungeheure soziale und ökonomische Verwerfungen zum Preis. Im bürokratischen Subjektivismus dieser Jahre waren die späteren Fehlentwicklungen bereits angelegt.
Die zwangskollektivierte Landwirtschaft, aus der die Mittel für die »sozialistische Akkumulation« herausgepreßt wurden, ist in all den Jahren der Sowjetmacht nie richtig auf die Beine gekommen. Die Konsumgüterindustrie blieb bis zuletzt ein Stiefkind der Sowjetökonomie, die Tonnenideologie bewies ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Der Übergang vom extensiven zum intensiven Wirtschaften ließ sich, obwohl längst als vordringlich erkannt, nicht vollziehen. Das administrative Kommandosystem, das die industrielle Revolution zum Sieg führte, erwies sich als Anachronismus, als die technologische Revolution an die Tür klopfte.
Bleibt noch, auf die Rolle Stalins als Generalissimus zu verweisen. Am Vorabend des Krieges gegen Hitlerdeutschland köpfte er die Führungsschicht der Roten Armee. Im Kreml wußte man zwar, daß der Krieg unausweichlich war, bei der Einschätzung der Aktualität der Kriegsgefahr aber irrte der Genialissimus, wie es genialer nicht hätte sein können. Ihm, der ständig inneren Verschwörungen auf der Spur war, der die Trotzkisten als »hitlerfaschistische Agenten« enttarnt hatte, war die »revolutionäre Wachsamkeit« abhanden gekommen, als die hitlerfaschistische Verschwörung an den Grenzen zur Sowjetunion Stellung bezog und zum Vernichtungsschlag ausholte. Hier zeigte sich ein seltsam zögerlicher, ängstlicher Wesenszug in Stalins Charakter. Der »Pädagoge« der einfachen Antworten war ein Politiker des ständigen Zickzacks.
Dem Krieg, der anfangs verloren schien, eine Wende gegeben und die Naziwehrmacht in Berlin zur Kapitulation gezwungen zu haben, bleibt die größte Ruhmestat der von Stalin geführten UdSSR. Es war ein Sieg der sowjetischen Zivilisation über die Barbarei, ein Sieg des sowjetischen Kollektivismus über das Herrenmenschentum und auch ein Sieg Stalins über sich selbst. Es war eine Art spontaner Entstalinisierung, die nach dem Krieg allerdings wieder zurückgedreht wurde, was zu einer neuen Repressionswelle führte. Damals aber war es eine Voraussetzung für den Sieg, die über die Gesellschaft verhängte innere Blockade aufzuheben.
Großrussische Staatsidee
Das hatte allerdings auch eine für die Weiterentwicklung sozialistischen Bewußtseins verhängnisvolle Kehrseite. Im »Großen Vaterländischen Krieg« vollzog sich endgültig die Wende von der – zumeist ohnedies nur mehr deklamatorischen – proletarisch-internationalistischen zur großrussischen Staatsidee. Das machte sich auch in den innersowjetischen Beziehungen bemerkbar. Die Huldigung des »ewigen Rußlands«, von Stalins Agitabteilung als Hegemon der Weltzivilisation gepriesen, überformte den Sowjetpatriotismus. Doch es war keine nationale Idee, von der sich der »Vater aller Völker« bewegen ließ, sondern eine imperiale. In ihr fand die sowjetische Großmachtpolitik ihren ideologischen Ausdruck. Die besondere Rolle des russischen Volkes gegenüber den anderen Sowjetvölkern, die Stalin in seiner Rede zum Kriegsende ausdrücklich hervorhob, ergab sich aus dem Bedürfnis des bürokratischen Zentralismus nach einer herrschenden Nation.
Das bürokratische Sozialismusmodell hat seinen Begründer 37 Jahre überlebt. Stalins Nachfolger haben das System zwar liberalisiert, aber nicht demokratisiert. Das von Lenin beschworene »lebendige Schöpfertum der Massen« lag weiterhin fast völlig brach. Das sozialpaternalistische System wurde zunehmend zum Hemmschuh seine eigenen Entwicklung. Aus sich heraus konnte es, auch wenn das subjektiv durchaus gewünscht gewesen sein mochte, keine positive Aufhebung der Verhältnisse bewirken. Zu schwer wog das bürokratische Eigeninteresse. Was aber noch schwerer wog: Die Gesellschaft vermochte es nicht, aus sich selbst heraus ein zu den bürokratischen Interessen antagonistisches Subjekt herauszubilden, das imstande gewesen wäre, das Nomenklatura-Regime und die ihm innewohnende Tendenz zur kapitalistischen Restauration zu überwinden.
Es geschah genau umgekehrt: Die Nomenklatura und die in ihrem Schatten gediehene Wirtschaftskriminalität wuchsen zum – gegen die staatssozialistischen Eigentumsverhältnisse gerichteten – antagonistischen Subjekt. Dieses fand in der werktätigen Bevölkerung keine Gegenkraft. Die bürgerliche Partei, die sich im Sumpf staatssozialistischer Korruption bildete, verstand es vielmehr, die soziale Frustration der Massen auf ihre Mühlen umzuleiten. Leo Trotzki hatte es in der »Verratenen Revolution« kommen sehen: Für den Fall, daß die Bürokratie an der Spitze des Staates bleibe, sagte er voraus, würden »die sozialen Beziehungen nicht starr festgeschrieben bleiben. Keinesfalls kann man damit rechnen, daß die Bürokratie friedlich und freiwillig zum Besten der sozialistischen Gleichheit sich selbst verleugnet, sie wird sich unvermeidlich nach Stützen in den Besitzverhältnissen umsehen müssen«. Trotzki hatte allerdings nicht damit gerechnet, daß sich dieser Prozeß noch 50 Jahre hinziehen werde.
Mit dem 1986 verabschiedeten Gesetz über die Genossenschaften, das ein genossenschaftlich etikettiertes privates Unternehmertum zuließ und das Schöpfertum der Massen stimulieren sollte, hatten Bürokratie und Schattenwirtschaft eine Eigentumsbasis gefunden. Statt der von Lenin entworfenen Gesellschaft zivilisierter Genossenschafter entstanden ehrenwerte Gesellschaften zur Reinwaschung von massenhaft akkumuliertem Schwarzgeld. Während die »demokratischen« Meinungsführer Bürokratismus und Sozialismus als Synonyme darstellten, ging von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt der kapitalistische Eigentumsputsch der Bürokratie über die Bühne. Zu schlechter Letzt waren auch noch die von der Perestroika wachgerufenen antibürokratischen Bestrebungen der Volksmassen von der Bürokratie korrumpiert worden. Die bürgerliche Partei hatte die Interpretationshoheit über die Ereignisse erlangt.
Vollendet im Jelzinismus
So fand der Stalinismus, der in seinen wesentlichen Strukturelementen, wenn auch nicht in seiner terroristischen Form, nach Stalin fortbestanden hatte, im Gorbatschowismus seine Vollendung. Und sein Ende. Der Sowjetgesellschaft war das Bewußtsein ihrer selbst und jegliche »revolutionäre Wachsamkeit« abhanden gekommen. Stalin dürfte das wohl geahnt haben, als er sich vor seinem Tod gegenüber den Epigonen beklagte: »Ihr seid blind wie junge Katzen, was werdet ihr ohne mich machen? Unser Land wird zugrunde gehen, weil ihr es nicht versteht, Feinde zu erkennen«. Der Feind, an dem die Sowjetunion zerbrach, hatte seine Genesis in dem von Stalin geschaffenen bürokratischen Herrschaftssystem. Vor lauter Klassenfeinden konnten oder wollten die Stalinisten die reale Konterrevolution nicht sehen. »Die Kader entscheiden alles«, lehrte uns der weise Stalin. Boris Nikolajewitsch Jelzin, ein im Ural gestählter Kader, lieferte im August 1991 die Bestätigung für diese These. Im Jelzinismus fand der Stalinismus seine genetische Fortsetzung unter Bedingungen der terroristischen Enteignung der Volksmassen.
50 Jahre nach Stalins Tod wird sein Wirken von einem Drittel der Russen positiv eingeschätzt. Das hat nur sehr bedingt etwas mit dem Überleben sozialistischer Wertvorstellungen zu tun. Es ist nicht so sehr der »Schüler Lenins« und der Herrscher über die kommunistische Weltbewegung, der sich in der kollektiven Erinnerung eingeprägt hat, sondern ein ideologisch neutraler Stalin. Der weise Staatsmann, der Bewahrer der russischen Reichsidee, der Begründer der russischen Supermacht und Bannerträger der östlichen Zivilisation. Der Zar, der den Titel Generalsekretär trug. Präsent blieb der im 2. Weltkrieg geläuterte Generalissimus, der die innere Einheit der Großen Rus wiederhergestellt und die zwei Seelen in Rußlands Brust, die rote und die weiße, versöhnt habe. Gemäß dieser nationalpatriotischen Deutung würdigt auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, Gennadi Sjuganow, den bedeutendsten Generalsekretär aller Zeiten: als Vertreter der russophilen Strömung im Bolschewismus, der Rußland vor dem Revolutionarismus der russophoben Bolschewiki gerettet habe.
Einen solchen Stalin-Kult braucht Wladimir Putin nicht zu fürchten.
* Siehe auch die Beiträge »Na sdorowje« von Gerhard Bengsch und »Härtere Lektionen« von Jürgen Elsässer
Na sdorowje |
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Man darf trinken: Zum 50. Todestag Josef Wissarionowitsch Stalins |
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»Die Partei ist nicht gegen das Trinken. Man darf trinken. Die Frage ist nur: wann, wieviel und in welcher Gesellschaft.«
Teilnehmern von Parteischulen in den frühen fünfziger Jahren wird vielleicht nicht das (unverbürgte) Zitat, wohl aber die Diktion bekannt vorkommen. Wer sprach so einfach und allgemeinverständlich? Wer konnte die Sache mit knappen Worten so trefflich auf den dialektischen Punkt bringen? Richtig. Genosse Stalin.
Sehen wir uns das Zitat näher an. Die drei Sätze bestehen aus nicht mehr als zwanzig Wörtern, aber was steckt drin! Wann darf getrunken werden? Selbstverständlich nicht während der Arbeitszeit. Wieviel darf getrunken werden? Nur soviel, daß du nicht in der Ausnüchterungszelle der Miliz landest. In welcher Gesellschaft darf getrunken werden? Natürlich nur in guter Gesellschaft.
Hier aber, beim dritten Kriterium, wird es schwierig. Klar ist, daß Diebe, Betrüger und Faulpelze nicht zur guten Gesellschaft gehören. Mit denen kein Tropfen Wodka! Wie aber steht es mit Genossen, die in Übereinstimmung mit ihrem Generalsekretär zwar ebenfalls gegen hemmungsloses Saufen als Hindernis beim Aufbau des Sozialismus sind, aber in anderen Fragen, zum Beispiel der Kollektivierung, des Tempos der Industrialisierung oder der innerparteilichen Demokratie, seinen Intentionen nicht so ohne weiteres folgen möchten?
Wie es solchen Besserwissern erging oder jedenfalls ergehen konnte, ist spätestens seit Nikita Chruschtschows alles andere als geheimer Geheimrede auf dem 20. Parteitag weltweit bekannt. Daß sie so, wie sie behandelt wurden, nicht hätten behandelt werden dürfen, steht außer Frage. Daß aber aus dem rückständigsten Land Europas in wenigen Jahrzehnten ein moderner Industriestaat wurde, eine Großmacht, ohne die Hitler den Krieg gewonnen hätte, und daß Stalin an dieser Leistung ganz wesentlich beteiligt war, steht für mich auch außer Frage.
Zu Stalins Tod am 5. März 1953 heißt es in Harenbergs »Chronik des 20. Jahrhunderts«: »In Bonn und Washington reagiert man sehr kühl. In Frankreich hingegen werden die Flaggen für zwei Tage auf halbmast gesetzt.«
Die Franzosen, wer sagt es denn! Die Flaggen auf halbmast, auch an Regierungsgebäuden, obwohl die französische Regierung vom Kommunismus so weit weg ist wie die Erde von der Milchstraße. Primitiver, grobschlächtig blöder Antikommunismus ist an der Seine eben nicht so verbreitet wie an Rhein, Ruhr und Isar.
Mit den Jahren, sollte man meinen, müßte sich das hierzulande zum Besseren gewendet, müßte sich differenzierte Betrachtungsweise gegen die Nazilesart des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels und seiner geistigen Söhne und Enkel durchgesetzt haben. Irrtum! Am 24. Februar wurde im Hauptprogramm der ARD eine sogenannte Dokumentation gesendet, die mit der Ankündigung empfohlen wurde, sie zeichne »das Bild eines intriganten, bösartigen Menschen«.
So fürchterlich sah der am 21. Dezember 1879 in Georgien geborene, wegen früher Verbindungen zu den russischen Marxisten aus dem Theologischen Seminar in Tbilissi gefeuerte, sechsmal verhaftete, der Gruppe um Lenin zugehörige Josef Dschugaschwili, der sich Stalin (der Stählerne) nannte, in dieser Fernsehproduktion dann auch aus: Ein Ausbund von Bösartigkeit und ein politisch dilettierender Dummkopf sowieso. Und weil Fernsehen ein visuelles Medium ist, mußte das erst gar nicht bewiesen werden. Man sah es diesem aus der ARD-Retorte stammenden, durch beflissene Montage stets an der passenden Stelle in Großaufnahme auf den Bildschirm bugsierten Schurken auf den ersten Blick an: asiatisch lauernder Blick aus zusammengekniffenen Augen, die Gesichtshaut verdächtig gezeichnet von Erkennungsmerkmalen, mit denen die Natur bekanntlich alle Bösen versieht, damit sie von den Guten unterschieden werden können.
Kurzum, was da aus der Röhre quoll, war Mist und könnte achselzuckend übergangen werden, würde es sich nicht um ein Glied in der Kette ähnlicher Dummheiten handeln. Denn in diesen Tagen bemühen sich aus gegebenem Anlaß alte und neue Antikommunisten um den traurigen Beweis, daß die Einordnung dieser historischen Persönlichkeit in Zeit, Ort und konkrete Zusammenhänge weder ihre Sache noch Absicht ist.
Auf glücklicherweise seriösem Niveau bewegt sich dagegen eine andere Publikation. »Stalin wollte ein anderes Europa« behaupten und beweisen der russische Historiker Wladimir Wolkow und sein deutscher Herausgeber und Fachkollege Harald Neubert. Die beiden Professoren wissen, wovon sie reden beziehungsweise schreiben.
In dieser Dokumentation werden erstmals Quellen ausgewertet, die sich weitgehend im geschlossenen Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation befinden. Behandelt wird die von Stalin bestimmte sowjetische Außenpolitik, wobei der Herausgeber einschränkend voranschickt, der Autor würde sich gelegentlich – »wohl im Bestreben, sich von der früheren sowjetischen Diktion zu lösen und objektiv sein zu wollen« – einer Terminologie bedienen, die »bislang nur aus dem westlichen Sprachgebrauch bekannt war«.
Das aber ist nur eine auf die Form, nicht auf den Inhalt bezogene Einschränkung. Der Inhalt ist solide recherchiert. Wolkow widerlegt die Legende, die Sowjetunion hätte Hitlers Krieg mit einem Präventivschlag zuvorkommen wollen. Er weist mit Dokumenten nach, daß Stalin zunächst nicht an einer Spaltung Deutschlands interessiert war und ein einheitliches, neutrales Deutschland wollte. Zur Befürwortung der Gründung der DDR fand er sich erst bereit, als er einsehen mußte, daß er den Widerstand der Westmächte trotz aller Bemühungen seiner Diplomaten nicht brechen konnte. Lesenswert sind in diesem Zusammenhang die stenografischen Protokolle der Begegnungen Piecks, Grotewohls und Ulbrichts mit Stalin. Stummer Befehlsempfang? Nicht doch. Stalin konnte zuhören. Hörte sich an den gewieften Dickschädel Ulbricht, den geschmeidigen Grotewohl und den vermittelnden Pieck, bevor er die Pfeife aus dem Mund nahm und eine Entscheidung traf. (Wie er es auch in Filmen von Sovexport tat.)
In diesem Buch wird Stalin weder als schurkischer Teufel noch als »Sonne der Gerechtigkeit« (Sowjetpresse 1935/36) dargestellt. Gerecht war der »große Steuermann des Sozialismus« (Prawda 1937), bei dem nicht nur alte Kampfgefährten unter die Räder kamen, wahrlich nicht. Das kann ihm nicht verziehen werden, und das verzeihen ihm auch die Verfasser nicht. Trotzdem liest sich ihr Buch, zumal es hauptsächlich auf Stalins Außenpolitik eingeht, sachlich und ausgewogen.
Unbegreiflich ist die Inhaltsangabe, die der Verlag den Presse-Exemplaren beigelegt hat. Darin heißt es unter anderem: »Hitler und Stalin korrespondierten miteinander. Die Dokumente sind vernichtet, bis auf Hitlers Glückwünsche zu Stalins 60. Geburtstag 1939 und die blumige Antwort des Jubilars. Die mutmaßlichen Postboten wurden 1953 erschossen und Ribbentrop starb in Nürnberg, weil er zuviel wußte.«
Wer in der Presseabteilung hat da den eingangs zitierten Rat nicht beherzigt: »Man darf trinken. Die Frage ist nur: wann, wieviel und in welcher Gesellschaft?«
* Wladimir Wolkow: Stalin wollte ein anderes Europa, herausgegeben von Harald Neubert, edition ost 2003, 283 S., 14,90 Euro |
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Stalin, mit Dimitroff gelesen: Ein Plädoyer für historische Gerechtigkeit |
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Über Stalin ist alles gesagt, tausendmal. Er war ein »aufbrausender, von Verfolgungswahn gepackter, chauvinistischer Herrscher«. Die »Inkompatibilität der Herrschaft Stalins nicht nur mit der Weltrevolution, sondern mit jeglicher politischer, sozialer und kultureller Emanzipation der Menscheit« wurde in Hunderten Büchern nachgewiesen, dieses von Bernhard H. Bayerlein gefällte Verdikt ist alles andere als neu. Bayerlein hat nur einen Fehler gemacht: Er hat dies in einem Zusammenhang geschrieben, der ihn Lügen straft – als Einleitung zu den Tagebüchern Georgi Dimitroffs, die 2001 im Aufbau-Verlag erschienen. Wer sich die Mühe macht, die sperrigen Aufzeichungen Dimitroffs durchzuarbeiten, wird die Kritik an der kommunistischen Strategie vor und im Zweiten Weltkrieg nur schwerlich aufrechterhalten können.
Dimitroff hatte im Reichstagsbrandprozeß die Nazis blamiert und war danach aufgrund seines großen Prestiges von Stalin zum Generalsekretär der Komintern gemacht worden. Auf ihrem VII. Weltkongreß gab diese ihre Feindschaft gegen die Sozialdemokraten (»Sozialfaschisten«) auf und empfahl den Mitgliedsparteien statt dessen den Aufbau von breiten »Volksfronten« gegen den Faschismus. Trotzkisten und andere Linksdissidenten sahen von Anfang an die Revolution verraten, da die neue Politik auch Bündnisse mit Konservativen einschloß: in China mit der Kuomintang, in Spanien mit den Republikanern, in Jugoslawien mit den Königstreuen (»Tschetniks«). Sicherlich kam es bei der Durchsetzung dieser Linie zu Verbrechen. Aber wird dadurch die Linie an sich falsch?
Die nach 1990 hierzulande entstandene antinationale Linke witterte im Volksfront-Konzept zudem eine Affirmierung völkischer Kategorien. Man übersah, daß dieses Konzept zunächst nicht auf Deutschland zielte, wo man in der Tat Schwierigkeiten hatte, außer Heinrich und Thomas Mann nichtfaschistische Bürger zu finden. Vielmehr ging es um die Verteidigung Frankreichs und Österreichs; dort war die Volksfront-Politik schon 1934/35 entstanden, zunächst ohne den Segen Moskaus. Daß die Komintern in Österreich gegen den »Anschluß« kämpfte, also die Selbständigkeit ausgerechnet einer Republik verteidigte, deren Bürger sich mehrheitlich als Deutsche verstanden, dementiert gerade den Vorwurf der völkischen Orientierung. Die Volksfronten waren vielmehr, um einen modernen französischen Terminus einzuführen, souveränistisch – für die Verteidigung der existierenden Staaten gegen deren sezessionistische und imperialistische Auflösung im Interesse Deutschlands.
Daß es dabei in Einzelfällen auch zu völkischen Abweichungen kam, soll nicht bestritten werden, gerade was die KPD anging. Stalin selbst kritisierte das außergewöhnlich scharf. So zitiert ihn Dimitroff in einer Tagebucheintragung von 1934: »Thälmann hat nicht die nationale Frage verstanden. Noch im Jahre 1930 habe ich mit ihm gesprochen. Er hat nicht verstanden.« In jenem Jahr hatte die KPD ein Parteiprogramm verabschiedet, das den nationalen dem sozialen Kampf überordnete. Später sagte Stalin über den inhaftierten Thälmann: »Er ist kein prinzipientreuer Marxist, und seine Briefe zeugen vom Einfluß der faschistischen Ideologie.« Stalins antideutsche Positionierung während des Krieges liest sich, als hätte er von Goldhagen gelernt: »Offensichtlich ist die Mehrheit der deutschen Arbeiter nicht abgeneigt, herrschende Nation zu sein … Die deutschen Soldaten begeben sich noch nicht reihenweise in die Gefangenschaft. Noch härtere Lektionen durch die Rote Armee sind erforderlich, damit der Zersetzungsprozeß beginnt.«
Die von Dimitroff aufgezeichneten Trinksprüche und Tischreden Stalins konterkarieren viele Klischees. Herrschte er nicht wie ein Diktator über die Komintern? Dagegen spricht, daß die Aufstellung Internationaler Brigaden für den Spanischen Bürgerkrieg von Dimitroff gegen das Votum Stalins durchgesetzt wurde. War er nicht selbst für Lenin ein großrussischer Chauvinist, der die Minderheiten in der Sowjetunion gnadenlos unterdrückte? Hören wir seine eigenen Worte: Die Zaren »haben eine große Sache vorzuweisen: sie haben ein Riesenreich zusammengezimmert. Wir haben diesen Staat als Erbe erhalten … Deshalb ist jeder, der versucht, diese Einheit des sozialistischen Staates zu zerstören, der danach strebt, einzelne Teile oder Nationalitäten von ihr abzutrennen, ein Feind, ein geschworener Feind des Staates, der Völker der UdSSR.« Spricht so ein Großrusse? Sorgte sich Stalin, der georgischer Herkunft war, nicht vielmehr um das Auseinanderfallen eines – in heutiger Terminologie – multikulturellen Staates?
Hat Stalin nun aber nicht jeden emanzipatorischen Anspruch durch den Pakt mit Hitler diskreditiert? Einige Einwände seien erlaubt: 1938 paktierten auch die Westmächte mit Hitler. Mit dem Münchner Abkommen gaben sie ihm freie Hand zur Zerschlagung der Tschechoslowakei. Dies geschah ohne Not: Moskau hatte Paris und London ein Bündnis angeboten. Im Unterschied dazu kam der deutsch-sowjetische Vertrag nur zustande, weil Stalins bevorzuge Option, die Anti-Hitler-Koalition, selbst dann noch von den Westmächten abgelehnt wurde, als im Frühsommer 1939 der deutsche Angriff auf Polen schon absehbar war. Und trotz einiger unappetitlicher Zugeständnisse an die Nazis im geheimen Zusatzabkommen des Paktes stellte die Sowjetunion den Kampf gegen Deutschland keineswegs ein. Dimitroff im November 1940: »Wir streben die Zersetzung der deutschen Okkupationstruppen in verschiedenen Ländern an, und diese Aktivitäten wollen wir, ohne es an die große Glocke zu hängen, noch verstärken.«
In anderen Passagen der Dimitroffschen Tagebücher werden hingegen sämtliche Vorurteile gegen Stalin bestätigt, etwa in dessen Tiraden gegen Münzenberg und andere untadelige Kommunisten. Man erinnert sich an Trotzkis Kennzeichnung der Stalinschen Machtergreifung als »Thermidor«, eine Anspielung auf das Abwürgen der Französischen Revolution und den Übergang zur napoleonischen Herrschaft. Wie damals Sansculotten zu Tausenden aufs Schaffott geschickt wurden, so unter Stalin Altbolschewiken in den Gulag. Die Außenpolitik beider Diktatoren trug imperiale Züge, die Unterworfenen hatten wenig zu lachen. Trotzdem bilanziert die Nachwelt die zivilisatorische Leistung des korsischen Bonaparte positiver als die des georgischen. 70 Prozent Verdienste, 30 Prozent Fehler und Verbrechen – so milde wollte nur Mao über Stalin urteilen. |
58) J. W. Stalin:
Was wäre die Folge, wenn es dem Kapital gelänge, die Republik der Sowjets zu zerschlagen? Eine Epoche der schwärzesten Reaktion würde über alle kapitalistischen und kolonialen Länder hereinbrechen, man würde die Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker vollends knebeln, die Positionen des internationalen Kommunismus würden liquidiert!
J.W. Stalin: Rede am 7.Dezember 1926 auf dem VII. erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Werke Bd. 9, S.29 |
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Chinesische Wissenschaftler erklären den Zusammenbruch der Sowjetunion |
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Es ist schade: Der nicht-chinesischsprachige Leser bleibt aus einer hochinteressanten Debatte ausgeschlossen. Es geht um das Scheitern der UdSSR, um die Ursachen des Untergangs des ersten sozialistischen Staates. Chinesische Wissenschaftler haben dazu eine ganze Reihe von Untersuchungen vorgelegt. Einige sehen die Ursachen für den Niedergang im »System Stalin«, andere machen die politischen Reformen von Gorbatschow verantwortlich. Allen hier dem deutschsprachigen Leser vorgestellten Autoren und Büchern gemeinsam aber ist eines: Sie versuchen, die Niederlage aus den inneren Widersprüchen der Sowjetunion zu erklären. Bis auf Li Zhencheng legt niemand eine Verratstheorie vor, nach der plötzlich ein Führer daherkam und den Sozialismus »verkaufte«. Für viele Kommunisten in Deutschland ist entweder Stalin, Chruschtschow oder Gorbatschow der Verräter. Eine materialistische Niederlagenanalyse müßte hingegen die sozialen Verhältnisse in den Vordergrund stellen. Keiner der chinesischen Autoren langweilt den Leser mit seinen moralischen Bauchschmerzen, sondern versucht, sachlich die Geschichte der UdSSR zu analysieren.
Neuinterpretation der Revolution
Eine beachtliche Neuinterpretation der Oktoberrevolution von 1917 nimmt Jinyan vor. Ihr Buch »Forschung zur sowjetisch-russischen Modernisierung und Reform« erschien 1999 und ist eine Sammlung wissenschaftlicher Artikel. Im Zentrum steht die russische Dorfgemeinschaft. Anders als im Westen gründete sich die Dorfgemeinde in Rußland auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden. Karl Marx spielte mit dem Gedanken, ob Rußland deshalb in Verbindung mit einer Revolution im Westen direkt zum Kommunismus übergehen könne. Engels und Lenin sagten später den baldigen Untergang dieser »asiatischen Produktionsweise« voraus.
Jinyan sieht in den Versuchen der zaristischen Regierung von 1907 bis 1914, die Dorfgemeinde zu zerstören, einen wichtigen Grund für die Oktoberrevolution. Der Regierungschef Stolypin wollte damals den Boden privatisieren und ein modernes Farmertum schaffen. In den Augen der Bauern wurde der Zar so vom Vater der Dorfgemeinde zu ihrem Zerstörer. Als die russischen Bauern im Oktober 1917 spontan eine Bodenreform durchführten, wurde Land nicht etwa privatisiert, sondern ganz Rußland zur Dorfgemeinde erklärt, weshalb es auch Dekret über Grund und Boden hieß. Jinyan stellt die Begriffe der »demokratischen« Februarrevolution und der »sozialistischen« Oktoberrevolution in Frage. Im Oktober 1917 habe ihrer Ansicht nach eine »Entstolypinisierung« und die Wiederherstellung einer mittelalterlichen Agrarordnung stattgefunden. Auf dieser Grundlage mußten die Bolschewiki den Sozialismus aufbauen.
Bei der Einschätzung der russischen Gesellschaft hätten die Bolschewiki einen schweren theoretischen Fehler gemacht. Für Lenin stand dem kleinen Proletariat ein »Meer von kleinbürgerlichen Warenproduzenten« gegenüber. In Wirklichkeit sei es das »Meer« der egalitären Dorfgemeinschaft gewesen. Die Kulaken, die reicheren Bauern des Dorfes, wurden als Kapitalisten und Ausbeuter eingestuft. Diese Überschätzung der Entwicklung der Warenproduktion auf dem Lande habe Stalin 1928 zum Abbruch der »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP) und zur überstürzten »Kulakenvernichtung« und Kollektivierung verleitet. Die aus dieser Bewegung hervorgegangene landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (Kolchose), blieb bis zum Untergang der Sowjetunion die Grundeinheit des Dorfes.
Gestützt auf russische Dokumente versucht Jinyan die These der Klassenspaltung auf dem Dorf in den 20er Jahren durch die Marktpolitik der NÖP zu widerlegen. Die Kulaken produzierten nur 20 Prozent ihres Getreides für den Markt. Die Hälfte von ihnen heuerte gar keine Tagelöhner an und nur ein Drittel vermietete seine Produktionsgeräte. Unter dem Dogma »Sozialismus=Kulakenvernichtung+ Kollektivierung« führte Stalin das Land 1929 in eine schwere Agrarkrise. Bis zu seinem Tod 1953 konnte die Landwirtschaft das Produktionsniveau von vor dem Ersten Weltkrieg nicht wieder erreichen.
Grundsätzlich kritisiert Jinyan das ökonomische System Stalins, der »auf dem Rücken der Bauern zum Sozialismus reiten« wollte. Durch den staatlichen Zwangsaufkauf von Getreide zu Billigpreisen wurde der Aufbau der Schwerindustrie in den Städten finanziert. Jinyan meint, daß die Industrialisierungsstrategie Stalins mehr Todesopfer gekostet hat als die »ursprüngliche Akkumulation« bei der Industrialisierung in Großbritannien im 18. und 19. Jahrhundert.
Heute meinen viele chinesische Historiker und Politikwissenschaftler, daß auch China von 1953 bis 1978 den Weg des »sowjetischen Modells«, also der »Ausbeutung der Bauern für den Aufbau der Schwerindustrie« gegangen ist. Erst die Reformen hätten mit der »sozialistischen Marktwirtschaft« ein chinesisches Modell geschaffen.
NÖP und Staatskapitalismus
Eine umfassende Stalin-Kritik hat 2001 auch Cheng Youzhong veröffentlicht. Sein Buch »Aufstieg und Fall des sowjetischen Modells« setzt sich vor allem mit der »linksradikalen Ideologie des Kriegskommunismus« von Stalin auseinander. Der Autor hat von 1989 bis 1990 in der Sowjetunion unterrichtet. Die »Erstarrung« des sowjetischen Systems und die fehlende Überwindung der Ideologie von Stalins Kriegskommunismus macht er für die Stagnation und schließlich den Zusammenbruch der UdSSR verantwortlich.
Mit der sozialistischen Umwälzung von 1929, der Kollektivierung und Einführung der Planwirtschaft, habe Stalin ein neues System des »Kriegskommunismus« eingeführt. Nach der Oktoberrevolution 1917 hatten die Bolschewiki versucht, die Warenproduktion abzuschaffen und direkt zum Kommunismus überzugehen. Der Austausch zwischen Stadt und Land wurde mit der Gewalt der Roten Armee geregelt. Nach Bauernaufständen und Versorgungsengpässen begann Lenin 1921 seine Neue Ökonomische Politik, die auf dem Land wieder den Markt und »Staatskapitalismus« in der Industrie zuließ.
Cheng Youzhong meint: Lenin und Stalin hatten ein völlig unterschiedliches Verständnis vom »Staatskapitalismus« der NÖP. Für Lenin war die NÖP ein Schritt nach vorne, da ein neuer Kriegskommunismus das Land in den Untergang geführt hätte. Er wollte, wie er u.a. in seiner Schrift »Über das Genossenschaftswesen« schrieb, das Wirtschafts- und Kulturniveau Rußlands einige Jahrzehnte lang mit Hilfe der NÖP erhöhen. Erst auf dieser Grundlage könne man später zum Sozialismus übergehen. Liest man die Reden Stalins und den von ihm herausgegebenen berühmt-berüchtigten »Lehrgang zur Geschichte der KPdSU (B)« von 1937, so erscheint die NÖP als taktischer Rückzug und notwendige Verschnaufpause, nicht als strategische Etappe. Für Stalin waren die russischen Bauern »kleinbürgerliche Warenproduzenten«, die der proletarische Staat bei passender Gelegenheit als Klasse vernichten müsse. Cheng Youzhong meint, da Stalin in der Entwicklung der Warenproduktion nicht den Gradmesser des Fortschritts, sondern der Restauration des Kapitalismus sah, sei die Entwicklung der Wirtschaft langfristig behindert worden. Den Austausch zwischen Stadt und Land regelte man mit Zwang, statt mit Hilfe des Marktes.
Wie viele andere chinesische Historiker und Politikwissenschaftler stellt sich der Autor auf den Standpunkt von Nikolai Bucharin, der als Kopf der »Rechten Opposition« 1928 gegen die Kollektivierung und für weitere Zugeständnisse an die Bauern auf dem Boden der NÖP eingetreten war. Die Schriften von Bucharin wurden erst Anfang der 80er Jahre ins Chinesische übersetzt und erfreuen sich bei »Marktsozialisten« besonderer Beliebtheit.
Cheng glaubt, daß die Ideologie des Kriegskommunismus von Stalins Tod im März 1953 bis zum Machtantritt Gorbatschows 1985 die wesentliche Grundlage der KPdSU geblieben ist und zur Versteinerung der Verhältnisse geführt hat. Das »Primat der Schwerindustrie« zeitigte zwar anfangs große Erfolge, schon seit den 50er Jahren war es aber an die Grenzen der Entwicklungsmöglichkeit gelangt. Chruschtschows halbherzige Reformen scheiterten. In der Breshnew-Ära sei die Sowjetunion unter der Parole »Stabilität« dem Abgrund entgegengegangen.
Auch Cheng ist aufgefallen, daß sich die KPdSU in den 30er Jahren völlig gewandelt hat. Aber während bisherige Analysen (z.B. von Rogowin) die veränderte Sozialstruktur der KPdSU mit den Massenrepressalien Stalins 1937 ff. erklärt hatten, argumentiert Cheng, daß nun Millionen Bauern in die Städte strömten. Gleichzeitig verwandelte sich die KP von einer kleinen Kaderpartei der Intellektuellen in eine Massenpartei von Millionen. Das neue, wenig gebildete vom Dorf kommende Proletariat stellte die neuen Parteimitglieder.
Im Gegensatz zu Jinyan hat der Autor die gesellschaftlichen Verhältnisse wenig untersucht, dafür ist ihm eine ausführliche Analyse der Ideologie Stalins und der KPdSU zugute zu halten. Leider macht er sich keine Gedanken über die Folgen der Verwandlung der KPdSU in eine Partei des »Bauernproletariats«.
Die überwiegend negative Bewertung der von Stalin geführten KPdSU ist in China eine neuere Erscheinung. Vor den Reformen von 1979 galt Stalin als Klassiker des Marxismus-Leninismus und das Verhältnis von Errungenschaften und Fehlern wurde 70 zu 30 bewertet.
Kritik an Chruschtschow
Unter der Redaktion von Lu Nanquan wurde 2001 ein Sammelband zur Umwälzung in der Sowjetunion herausgegeben. Im Falle von Nikita Chruschtschow sind die chinesischen Wissenschaftler heute noch unschlüssig, ob sie ihn als »Revisionisten« oder gescheiterten »Reformer« einstufen sollen. Positiv wird der Mut von Chruschtschow 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU bewertet, auf dem er die Partei über Verbrechen Stalins informierte und den Personenkult kritisierte. Als unwissenschaftlich gerügt wird aber, daß alle Verantwortung auf Stalin allein abgewälzt wurde.
Auch die Aussöhnung mit dem jugoslawischen Reformkommunismus von Tito 1956 wird heute positiv bewertet, da die KPdSU zum ersten Mal die Möglichkeit eines alternativen Sozialismus-Modells anerkannte. Anfang der 80er Jahre versuchte die KP Chinas noch von dem »jugoslawischen Marktsozialismus« zu lernen. Chruschtschow hatte auch den Willen, die einseitige Entwicklung der Schwerindustrie durch eine ausgeglichene Entwicklung der ganzen Wirtschaft zu ersetzen, scheiterte aber an seiner Industriereform.
Früher prangerten die Chinesen Chruschtschows rechte Fehler an, heute die linken. Seine Wirtschaftsplanung habe nicht auf der Realität beruht. Die KPdSU verkündete 1960, die Sowjetunion werde 1980 in den Kommunismus eintreten. So sei die »revisionistische« Theorie des 22.Parteitages, die Sowjetunion sei der »Staat des ganzen Volkes« und keine Diktatur des Proletariats mehr, nur Folge der linken Fehleinschätzung, bald in den Kommunismus einzutreten.
Die Breshnew-Ära war die Phase mit dem größten Einfluß des Militärs auf die Politik. Durch die massive Aufrüstung und den Rüstungsexport in alle Erdteile sei mehr als die Hälfte des Bruttosozialprodukts im militärisch-industriellen Komplex erwirtschaftet worden. Die große Mehrheit aller Experten und Fachkräfte konzentrierte sich in diesem Sektor. Bis heute hat sich an der Kritik der Chinesen an dem »russischen Großmachtchauvinismus« Breshnews und seinem aggressiven Kurs gegen die anderen sozialistischen Staaten nichts geändert, auch wenn diese Politik heute als »Hegemonismus« und nicht mehr als »Sozialimperialismus« bezeichnet wird. (»Sozialismus in Worten, Imperialismus in Taten«) Schließlich ging es damals im Streit zwischen China und der UdSSR nicht nur um ideologische Haarspalterei, sondern um die nationalen Interessen Chinas, die Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion zu bewahren.
Niederlage ernstgenommen
Auch die Reformen von Gorbatschow nach 1985 haben die chinesischen Wissenschaftler genauer unter die Lupe genommen. Der Artikel »Das Bauernproblem und der Untergang der Sowjetunion« von Xu Tianxin analysiert die Agrarpolitik Gorbatschows. Die chinesische Kritik an »Perestroika« und »Glasnost« geht meistens in die Richtung, daß Gorbatschow die KPdSU politisch zu Tode reformierte, aber am Wirtschaftssystem nichts Wesentliches geändert habe.
Schon seit der Breshnew-Ära stagnierte die sowjetische Agrarproduktion trotz erhöhter staatlicher Ankaufpreise und großer staatlicher Subventionen. Seit 1985 befand sich die UdSSR permanent in einer Agrarkrise. Trotzdem habe Gorbatschow dies als Nebenproblem abgetan. So dauerte es noch bis 1988, bis die Partei eine neue Politik für das Dorf beschloß. Die Kolchosen sollten demokratisiert und das Land an die Bauern verpachtet werden, doch die Reform zeigte nicht viel Wirkung. Erst 1990 habe man versucht, mit Hilfe des Marktes die Landwirtschaft zu entwickeln und das Eigeninteresse der Bauern zu wecken.
Die sozialistische Genossenschaft, der Kolchos, ist nach Meinung von Xu deshalb rückständig und entwicklungsunfähig gewesen, weil sie im wesentlich die Wiederherstellung der alten russischen Dorfgemeinschaft war. Einen Bauern, der noch ein anderes Interesse an der Produktion hat außer, sich selbst satt essen zu können, konnte die Politik der KPdSU nie hervorbringen. Durch die Stagnation verloren die Bauern die Hoffnung. Die Bolschewiki hätten die Macht 1917 von den Bauern bekommen und sie 1990 mit ihnen verloren.
Besondere Beachtung schenken die Chinesen auch dem Nationalitätenproblem, da China selbst ein Vielvölkerstaat ist und mit dem »Separatismus« der Uiguren und Tibeter zu kämpfen hat. Hu Yanfen schreibt in ihrem Artikel »Der Nationalitäten-Faktor beim Zusammenbruch der Sowjetunion«, daß die KPdSU von Stalin bis Gorbatschow das Nationalitätenproblem unterschätzt hat. Ein Grund dafür sei die »linksradikale« Vorstellung gewesen, mit den Klassenunterschieden würden letztendlich auch die Nationalitäten verschwinden. Man ordnete das Nationalitätenproblem völlig der Klassenfrage unter. So wurde nationales Bewußtsein von Minderheiten immer gleich als »bürgerlicher Nationalismus« abgetan. Nachdem Stalin vor dem Zweiten Weltkrieg Millionen Angehörige von nationalen Minderheiten hinter den Ural umsiedeln ließ und das russische Volk zum Führer des Sowjetvolkes erklärte, wurde das Verhältnis zwischen Russen und den anderen Völkern für lange Zeit vergiftet.
Laut Hu vertiefte sich der Graben zwischen den Nationalitäten auch durch die Praxis der Arbeitsteilung durch Monokulturen. Gorbatschow wiederum hätte bei seiner Parteireform nicht begriffen, daß nur die KPdSU den Vielvölkerstaat zusammenhalten konnte. Mit der Schwächung der Partei und der Einführung des Mehrparteiensystems habe er im entscheidenden Moment das Mittel aus der Hand gegeben, das die Existenz des Vielvölkerstaates garantierte.
Der Lehrer der Parteischule aus Tianjin, Li Zhencheng, übt an Gorbatschows Reformen viel radikalere Kritik. In seinem Buch »Gedanken zum Untergang der Sowjetunion« sieht er Gorbatschows »Verrat am Leninismus« als Hauptursache für das Scheitern des Sozialismus. Der Leninismus sei die Grundlage für alle vorherigen Erfolge der Sowjetunion gewesen. Durch die politischen Reformen habe Gorbatschow die Partei zugrunde gerichtet und durch die Außenpolitik des »Neuen Denkens« den Sozialismus dem Westen ausgeliefert. Li untersucht in seinem über 500seitigen Buch weder die sozialen Verhältnisse Rußlands noch die Krise und Stagnation, die schon vor 1985 herrschten.
Die Kritik des »Verrats am Leninismus« verwundert etwas, da die KP China sich schon lange von Lenins Imperialismustheorie, der Revolution des »Weltproletariats« und des bewaffneten Umsturzes als Weg zum Sozialismus verabschiedet hat. Nur an der Theorie der zentralistischen Führung der Gesellschaft durch eine monolitische Kaderpartei hält sie, allerdings eher nach dem Modell Stalins, noch fest. Die neue Außenpolitik Gorbatschows, Abrüstung und Aufgabe des sowjetischen Führungsanspruches, hatte gerade für China Vorteile. Gorbatschow schloß nach über 20jähriger Feindschaft der beiden Länder wieder Frieden mit China.
Schon der wissenschaftliche Kongreß zur Geschichte des Zusammenbruchs der Sowjetunion in Schanghai 1997 hatte deutlich gemacht, daß es zur Bewertung der Reformen unterschiedliche Ansichten gibt. Einige Wissenschaftler meinen, das »sowjetische Modell« sei schon 1985 unheilbar krank gewesen, andere, daß es noch zu retten war. Die Kommunistische Partei Chinas wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ansicht gestärkt, daß China wirtschaftliche Reformen durchführen muß, ohne die Einpartei-Diktatur aufzugeben. Crash-Privatisierung und sofortige Demokratisierung würden zum Verfall der Gesellschaft und des Staates führen.
Man kann zu allen Fragen der Geschichte der UdSSR auch eine andere Meinung haben als die vorgestellten Autoren. Sicher haben sie das Problem, die Erfahrungen und Kriterien der »Sozialistischen Marktwirtschaft« in China zu sehr auf die Geschichte der Sowjetunion zu übertragen. Ob es 1929 wirklich möglich war, den NÖP-Weg Lenins und Bucharins jahrzehntelang zu gehen, ist nicht zu beantworten. Es ist sicher auch kein Zufall, daß in einem Land ohne demokratische Tradition auch der Sozialismus despotische Formen annahm. Die umfangreiche Forschung zeigt, daß die KP China die Krise des Sozialismus ernst nimmt. Da sie an der Macht bleiben will, kann sie es sich nicht leisten, die Niederlage der Sowjetunion mit absurden Verschwörungstheorien zu erklären. |
Die Geheimrede |
Über den Personenkult und seine Folgen. Von Nikita S. Chruschtschow |
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*** In einer mutigen Rede enthüllte Nikita Chruschtschow vor 45 Jahren auf dem XX. Parteitag der KPdSU (14. bis 25. Februar 1956) erstmals die Stalinschen Verbrechen. Allerdings unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Eine theoretisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus war auf diese Weise nicht möglich - und nach kurzem Tauwetter politisch auch nicht mehr gewollt ***
Das Zentralkomitee ... hat aus dem Kreis des Präsidiums des ZK eine Parteikommission eingesetzt und beauftragt, genau zu untersuchen, auf welche Weise die Massenrepressalien gegen die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten des ZK der Partei, das vom XVII. Parteitag der KPdSU(B) gewählt wurde, möglich wurden. Die Kommission machte sich mit einer großen Anzahl von Materialien aus den Archiven des NKWD und mit anderen Dokumenten vertraut, und sie stellte zahlreiche Fakten fest über fabrizierte Anklagen gegen Kommunisten, falsche Beschuldigungen, schreiende Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit, als deren Folge unschuldige Menschen umkamen. Aufgedeckt wurde, daß viele Parteiarbeiter, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre, die in den Jahren 1937/1938 als »Feinde« angesehen wurden, in Wirklichkeit niemals Feinde, Spione, Schädlinge u.ä. gewesen sind, daß sie tatsächlich immer ehrliche Kommunisten waren.
Aber man hat sie angeschwärzt, und manchmal hielten sie die barbarischen Foltern nicht aus und beschuldigten sich selbst (unter dem Diktat der mit Fälschungen arbeitenden Untersuchungsrichter) sämtlicher schwerer und unwahrscheinlicher Verbrechen. Die Kommission hat dem Präsidium des ZK ein umfassend dokumentiertes Material über die Massenrepressalien gegen die Delegierten des XVII. Parteitags und die Mitglieder des von diesem Parteitag gewählten Zentralkomitees vorgelegt. Diese Materialien wurden vom Präsidium des Zentralkomitees begutachtet.
Festgestellt wurde, daß von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren, 98 Personen, d.h. 70 Prozent, (hauptsächlich in den Jahren 1937/1938) verhaftet und erschossen wurden. (Empörung im Saal.) ... Dasselbe Geschick traf nicht nur die Mitglieder des ZK, sondern auch die Mehrheit der Delegierten zum XVII. Parteitag. Von den 1 966 Delegierten mit beschließender und beratender Stimme wurden auf der Grundlage von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen weit mehr als die Hälfte - 1 108 Personen - festgenommen ...
Nach der verbrecherischen Ermordung S. M. Kirows begannen Massenrepressalien, und es gab brutale Akte der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Am Abend des 1. Dezember 1934 unterschrieb der Sekretär des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees Jenukidse auf Initiative Stalins (ohne Beschluß des Politbüros; dieses wurde erst zwei Tage später beiläufig unterrichtet) folgende Anordnung:
»I. Die Untersuchungsbehörden werden angewiesen, die Angelegenheiten der der Vorbereitung und Durchführung von Terrorakten Beschuldigten im Schnellverfahren durchzuführen.
II. Die Gerichtsorgane werden angewiesen, im Zusammenhang mit der von Straffälligen dieser Kategorie geäußerten Bitte auf Gnadenerlaß von der Ausführung des Todesurteils keinen Abstand zu nehmen, da das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der UdSSR es nicht für möglich hält, derartige Bitten zur Bearbeitung anzunehmen.
III. Die Organe des Kommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) werden angewiesen, Todesurteile gegen oben genannte Kategorien von Verbrechern sofort nach Verhängung der Urteile zu vollstrecken.«
Diese Verfügung bildete die Grundlage für massenhafte Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit. In vielen zurechtgezimmerten gerichtlichen Verfahren wurde den Beschuldigten die »Vorbereitung« von Terrorakten zugeschrieben, und das beraubte die Angeklagten jeglicher Möglichkeit der Revision ihrer Angelegenheiten selbst dann, wenn sie vor Gericht die von ihnen erzwungenen »Geständnisse« widerriefen und die gegen sie vorgebrachten Anklagen auf überzeugende Art zu Fall brachten ...
Die Massenrepressalien verstärkten sich gewaltig seit Ende 1936, nach dem Telegramm Stalins und Shdanows aus Sotschi vom 25. September 1936, das an Kaganowitsch, Molotow und andere Mitglieder des Politbüros adressiert war. Der Inhalt des Telegramms war folgender:
»Wir erachten es für absolut notwendig und dringend, Gen. Jeshow mit dem Posten des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten zu betrauen. Jagoda stand deutlich nicht auf der Höhe der Aufgaben bei der Entlarvung des trotzkistisch- sinowjewistischen Blocks. Die OGPU ist in dieser Frage um vier Jahre in Verzug. Davon reden alle Parteiarbeiter und die Mehrheit der Bezirksvertreter des NKWD.« Richtigerweise sollte man unterstreichen, daß Stalin mit Parteiarbeitern nicht zusammentraf und deshalb ihre Meinung auch nicht kennen konnte.
Die Stalinsche Formulierung, wonach bei der Anwendung von Massenrepressalien das NKWD »um vier Jahre in Verzug« war, daß man die Verspätungen schnell »aufholen« sollte, trieb die Mitarbeiter des NKWD direkt auf den Weg der Massenverhaftungen und Exekutionen. ...
Eingebürgert hatte sich die verbrecherische Praxis, im NKWD Listen derjenigen Personen anzufertigen, deren Fälle der Erörterung durch das Militärkollegium unterlagen und für die von vornherein das Strafmaß festgelegt wurde. Diese Listen übermittelte Jeshow an Stalin persönlich, damit er die vorgeschlagenen Strafen bestätigte. In den Jahren 1937/1938 sind 383 solcher Listen an Stalin geschickt worden, die viele tausend Partei-, Sowjet-, Komsomol-, Militär- und Wirtschaftsfunktionäre betrafen und die seine Billigung fanden.
Ein bedeutender Teil dieser Verfahren wird gegenwärtig der Revision unterzogen und eine große Zahl davon als unbegründet und gefälscht gelöscht. Es genügt zu sagen, daß seit 1954 bis jetzt das Militärkollegium des Obersten Gerichts bereits 7 679 Personen rehabilitiert hat, wobei viele von ihnen postum rehabilitiert wurden ...
Als die Welle von Massenrepressalien 1939 abzuflauen begann, als die Führer von territorialen Parteiorganisationen begannen, Mitarbeiter des NKWD der Anwendung physischer Einwirkungsmethoden gegenüber Verhafteten anzuklagen, richtete Stalin am 10. Januar 1939 ein chiffriertes Telegramm an die Sekretäre der Gebiets- und Regionskomitees, an die Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien, an die Volkskommissare für Innere Angelegenheiten und die Chefs der NKWD-Verwaltungen.
Das Telegramm lautete: »Das ZK der KPdSU(B) erklärt, daß die Anwendung physischer Einwirkung in der Praxis des NKWD seit 1937 mit Erlaubnis des ZK der KPdSU (B) zugelassen ist ... Bekannt ist, daß alle bürgerlichen Geheimdienste physische Einwirkung gegenüber den Vertretern des sozialistischen Proletariats anwenden, und zwar in den abscheulichsten Formen. Es erhebt sich die Frage, warum ein sozialistischer Geheimdienst gegenüber erbitterten Agenten der Bourgeoisie, gegenüber Todfeinden der Arbeiterklasse und der Kolchosbauern humaner sein sollte. Das ZK der KPdSU(B) ist der Ansicht, daß die Methode der physischen Einwirkung auch weiterhin unbedingt gegenüber offenen und sich nicht ergebenden Feinden des Volkes als vollkommen richtige und zweckmäßige Methode ausnahmsweise angewendet werden sollte.« Somit wurde die brutalste Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit, die Folter, die Quälerei, die - wie zuvor bereits festgestellt - zur Diffamierung und Selbstanschwärzung unschuldiger Menschen führten, durch Stalin im Namen des ZK der KPdSU(B) sanktioniert. ...
Genossen! Beschäftigen wir uns mit einigen anderen Tatsachen. Die Sowjetunion wird zu Recht als Muster eines multinationalen Staates angesehen, denn bei uns wurden in der Praxis Gleichheit und Freundschaft aller Völker gewährleistet, die unsere große Heimat bewohnen. Um so ungeheuerlicher sind die Aktionen, deren Initiator Stalin war und die eine brutale Vergewaltigung der grundlegenden Leninschen Prinzipien der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates waren. Die Rede ist von der Massenumsiedlung ganzer Völker aus ihren heimatlichen Orten, darunter auch aller Kommunisten und Komsomolzen ohne jede Ausnahme, wobei derartige Aussiedlungsaktionen durch keinerlei militärische Beweggründe diktiert waren...
So wurde noch Ende 1943, als an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges ein dauerhafter Umschwung zugunsten der Sowjetunion eingetreten war, der Beschluß über die Aussiedlung aller Karatschaier aus ihrem angestammten Gebiet gefaßt und durchgeführt. Im gleichen Zeitraum, Ende Dezember 1943, traf die gesamte Bevölkerung der Kalmykischen Autonomen Sowjetrepublik das gleiche Schicksal. Im März 1944 wurden Tschetschenen und Inguschen ausgesiedelt, die Tschetschenisch-Inguschische Autonome Republik wurde liquidiert. Im April 1944 wurden alle Balkaren aus der Karbadinisch-Balkarischen Autonomen Republik in entlegene Gebiete ausgesiedelt, die Republik in Autonome Kabardinische Republik umbenannt. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal deshalb, weil sie zu viele sind und es keine Möglichkeit ihrer Umsiedlung gab. Sonst hätte er auch sie ausgesiedelt.
Nicht nur für Marxisten-Leninisten, sondern für jeden vernünftig denkenden Menschen ist es unverständlich, wie man die Verantwortung einzelner Personen oder Gruppen für feindliche Handlungen auf ganze Völker übertragen konnte, Frauen und Kinder, Alte, Kommunisten und Komsomolzen nicht ausgenommen, wie man ihnen gegenüber Massenrepressalien anwenden und sie Entbehrungen und Leiden aussetzen konnte...
Weitsichtig, hellsichtig, aber hilflos |
Lenins »Testament« vor 75 Jahren. Von Harald Wessel |
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Am 4. Januar 1923, morgen vor 75 Jahren, diktierte Wladimir Iljitsch Lenin (1870 bis 1924) seiner Sekretärin Lydia Alexandrowna Fotiewa (1881 bis 1975) eine »Ergänzung« zu jenem »Brief an den Parteitag«, den er zwischen 23. und 31. Dezember 1922 abschnittsweise ins Stenogramm gesprochen hatte. Der Zusatz umfaßte nur dreizehn Druckzeilen, die allerdings eine ungeheuere politische Sprengkraft in sich bargen: Lenin schlug seinen Genossen vor, »sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte«. Stalin sei »zu grob«, und »dieser Mangel« könne »in der Funktion des Generalsekretärs« - des ZK der KPR(B) - »nicht geduldet werden«.
Den Anlaß zur »Ergänzung« vom 4. Januar 1923 bildete ein eher banaler Streit zwischen Stalin (1879 - 1953) und Lenins Frau Nadeschda Konstantinowna Krupskaja (1869 - 1939). Nach Lenins neuerlichem Schlaganfall am 16. Dezember 1922 hatte das ZK am 18. Dezember Stalin ermächtigt, für die Einhaltung der ärztlichen Anordnungen zu sorgen. Alles, was den kranken Mann aufregen konnte, sollte von ihm ferngehalten werden. Als Lenin dennoch am 21. Dezember seiner Frau einen Brief an Leo Trotzki (1879 - 1940) diktierte, in dem auch noch um telefonischen Rückruf gebeten wurde, beschimpfte Stalin die Krupskaja und drohte ihr mit der Parteikontrollkommission. Lenin verlangte von Stalin eine Entschuldigung. Als diese zunächst ausblieb, zog Lenin Stalins Ablösung in Betracht.
Obgleich die Stenogramme sogleich vernichtet und die fünf Exemplare des getippten »Briefes an den Parteitag« in versiegelten Umschlägen aufbewahrt wurden, konnte Lenin davon ausgehen, daß Stalin alles »brühwarm« erfuhr. Im Sekretariat des Rates der Volkskommissare, dessen Vorsitzender Lenin war, arbeitete als Sekretärin auch Stalins Frau Nadeschda Sergejewna Allilujewa (1901 - 1932). Stalin soll sich dann doch noch entschuldigt haben, aber der persönliche Dissens blieb aktenkundig. Und dieser Umstand sollte die Rezeption dessen, was Lenin der Partei als politisch substantielles Vermächtnis mitzuteilen gedachte, ungemein erschweren. Fast 34 Jahre sollten vergehen, ehe Lenins letzte politische Erwägungen (von der Jahreswende 1922/23) erstmalig veröffentlicht wurden (nach dem XX. Parteitag der KPdSU in Heft 9/1956 der Zeitschrift »Kommunist«). Und die systemkritischen Ansätze des Lenin-»Testaments« blieben faktisch bis zum Ende der UdSSR in der Lenin-Partei weitestgehend unbeachtet.
Sebastian Haffner hat 1968 von Lenins »fast übermenschlicher Demut vor Tatsachen« und von seiner »Fähigkeit zur krötenschluckenden Selbstverleugnung« gesprochen. Beides trat im sogenannten Testament besonders hervor. Nach mehreren Schlaganfällen und angesichts des Todes »schluckte« er gleich zwei »ungeheuerliche Kröten«: die Tatsache, daß es in seinem Politbüro keinen ordentlichen Nachfolger gab, wie auch das ernüchternde Faktum, daß »dieser Apparat« »nicht uns gehört«, »sondern wir gehören ihm!!«
Schon ganz gewöhnliche »Regierungschefs mit Richtlinienkompetenz« sagen lieber »Der Staat bin ich« als »Der Staat ist die Bürokratie, der ich gehöre«. Von einem Revolutionär aber, der die Diktatur des Proletariats proklamierte, fünf Jahre nach der Revolution ein solches Eingeständnis eigener Ohnmacht gegenüber der Bürokratie zu vernehmen, ist gewiß bemerkenswert. Es hätte die Bolschewiki schockieren müssen. Es hätte sie aufrütteln müssen - zu neuen Konzepten und exorbitanten Taten. Statt dessen fügten sie sich mehrheitlich Stalin, dem Protagonisten der Bürokratie und Liebhaber konspirativer bürokratischer Apparate.
Wer heute, wenige Jahre nach dem elenden Zusammenbruch des moskowitischen »Kommunismus«, Lenins politische Diagnose von vor 75 Jahren liest (etwa die Seiten 568 bis 596 des Bandes 36 der DDR-Ausgabe der Werke Lenins, Berlin 1962), der gewahrt nicht ohne Beklemmung, wie prophetisch, weitsichtig, hellsichtig, aber auch hilflos Lenins Problem- und Krisenbewußtsein damals war. So gut wie alle seine Befürchtungen sind eingetroffen.
Das betrifft die Führungsstruktur der Partei, den politischen wie persönlichen Stalin-Trotzki-Dissens, die bürokratische Entmachtung der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (als Element von Gewaltenteilung), die Entmündigung wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Kompetenz in der Plankommission, die soziologische Schwäche des russischen Proletariats, die allgemeine Zurückgebliebenheit des Landes und (schließlich) die »Frage der Nationalitäten«, den »großrussischen Chauvinismus« sowie dessen »Unausstehlichkeit« angesichts des heraufziehenden revolutionären »Sturmes über Asien«. Es ist faszinierend, wie genau der kranke Mann die Dinge voraussah.
Spätestens seit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 hatte Lenin seine Hoffnungen auf baldige revolutionäre Änderungen in Europa weitgehend aufgegeben. Zunehmend wurde ihm klar, wie schwer es die russische Revolution auf sich allein gestellt haben würde. Den zivilisatorischen Nachholbedarf sah er (im Gegensatz zu Stalin und dessen Bürokraten) mit wachsendem Entsetzen. Lenins »Kassandra-Ruf«, als Generalsekretär habe Stalin »eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert«, näherte sich der Warnung Rosa Luxemburgs vom Sommer 1918, die Bolschewiki würden statt der proklamierten Diktatur des Proletariats eine Diktatur einer Handvoll Politiker« und »eine Verwilderung des öffentlichen Lebens« hervorbringen. Und dabei hatten weder Lenin noch gar Rosa Luxemburg konkrete Vorstellungen von den Abgründen, die sich mit dem Ausbau konspirativer Repressionsapparate auftun würden.
Schon im Frühjahr 1925, rund ein Jahr nach Lenins Tod, zeigte die »Eastman-Affäre«, zu welch politischer Niedertracht die »parallelen Apparate« (Parteiapparat und Geheimapparate) führten. Dem amerikanischen Kommunisten Max Eastman (1883 - 1969) wurden provokativ personelle Passagen aus Lenins »Brief an den Parteitag« zugespielt (der den Delegierten des XIII. Parteitages der KPR(B) im Mai 1924 nur vorgelesen worden war). Eastman, ein Trotzki-Bewunderer, verwendete die »Testament«- Passagen (in seinem Buch »Since Lenin Died«/»Seit Lenin starb«) »antistalinistisch« und »protrotzkistisch«. Damit erwies er Trotzki einen Bärendienst: Das Politbüro zwang Trotzki, sich von Eastman zu distanzieren und die Existenz eines Lenin-»Testaments« öffentlich zu bestreiten!
Mit Trotzkis verlogenem Dementi vom 1. Juli 1925 wurde der »Brief an den Parteitag« so stark tabuisiert, daß die KPdSU es noch im Herbst 1989, auf ihrem total mißglückten »Nationalitäten-Plenum«, kaum wagte, Lenins Postulate von Ende 1922 auch nur zu erörtern - in einer Zeit, da die ungelösten nationalen Konflikte überall in der UdSSR zu bewaffneten Auseinandersetzungen eskalierten und das Ende des bürokratisch gefügten und beherrschten »Vielvölkerstaates« ankündeten. Textende --> |
Die Jahre Lenins und Stalins |
Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthaß (Teil IV). Von Domenico Losurdo |
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Man kann die Geschichte der UdSSR nicht von ihrem internationalen Kontext trennen. Weit mehr als auf die belastende asiatische Tradition verweist der - erst leninsche, dann stalinsche - Terror auf den Totalitarismus, der sich weltweit auszubreiten beginnt seit dem Ausbruch des zweiten Dreißigjährigen Krieges, als der Staat, auch in den liberalen Ländern, sich die »>legitime< Gewalt über Leben, Tod und Freiheit« (Max Weber) anmaßt. Davon zeugen die totale Mobilmachung, die Militärgerichte, die Exekutionspelotons, die Dezimationen (Hinrichtung jedes zehnten Mannes, ehemaliger Kriegsbrauch - die Red.). Es lohnt sich, vor allem über diese letztere Praxis nachzudenken, von der das Oberkommando des liberalen Italien regen Gebrauch macht und die das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit über Bord wirft.
Totaler Krieg und »Totalitarismus«
Aufschlußreich ist auch, was sich in den USA abspielt. Nach Pearl Harbor läßt Franklin Delano Roosevelt die amerikanischen Bürger japanischer Herkunft (einschließlich der Frauen und Kinder) in Konzentrationslager deportieren, und zwar nicht auf Grund irgendwelcher Vergehen, sondern einzig wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer verdächtigen ethnischen Gruppe. (Auch hier wird - und dies ist eins der konstitutiven Merkmale des Totalitarismus - das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit aufgegeben.) Noch 1950 kommt es zur Verabschiedung des McCarran Act, eines Gesetzes, das den Bau von sechs Konzentrationslagern, die politische Gefangene aufnehmen sollen, in verschiedenen Regionen des Landes vorsieht. Zu den Befürwortern dieses Gesetzes gehören etliche Abgeordnete, die einmal als Präsidenten der USA bekannt werden sollen: John F. Kennedy, Richard Nixon und Lyndon B. Johnson! Sogar das Phänomen der Personalisierung der Macht kann in vergleichender Perspektive untersucht werden. Von den Wogen der großen Krise ins Präsidentenamt gespült und sofort mit größten Machtbefugnissen ausgestattet, wird F. D. Roosevelt dreimal wiedergewählt (er stirbt freilich schon zu Beginn seiner vierten Amtszeit).
Entstanden im Verlauf eines Krieges, der die totale Mobilmachung und Gleichschaltung der Bevölkerung mit sich brachte, und zwar auch in Ländern mit einer gefestigten liberalen Tradition und darüber hinaus einer relativ sicheren geographischen Lage (weil vom Mittelmeer oder vom Ozean umgeben), ist die Sowjetmacht gezwungen, mit einer permanenten Ausnahmesituation zurechtzukommen. Wenn wir die Periode vom Oktober 1917 bis 1953, dem Todesjahr Stalins, untersuchen, stellen wir fest, daß sie von mindestens vier oder fünf Kriegen und von zwei Revolutionen gekennzeichnet ist. Im Westen folgt der Aggression des wilhelminischen Deutschland (bis zum Frieden von Brest- Litowsk) erst die der Entente und dann die des hitlerfaschistischen Deutschland und schließlich ein von lokalen Konflikten durchsetzter kalter Krieg, der jederzeit zu einem großen heißen werden kann - in dem dann auch die Atomwaffe eingesetzt wird. Im Osten wird Japan (das sich erst 1922 aus Sibirien und erst 1925 von Sachalin zurückgezogen hat) durch die Invasion in der Mandschurei zu einer militärischen Bedrohung an den Grenzen der UdSSR, die jedenfalls schon 1938 und 1939, noch vor dem offiziellen Beginn des Zweiten Weltkrieges, in größere Grenzgefechte verwickelt wird.
Alle hier genannten Kriege sind totale Kriege in dem Sinn, daß ihnen entweder keine Kriegserklärung (ob seitens der Entente oder des »Dritten Reichs«) vorausgeht oder daß die Invasoren die erklärte Absicht verfolgen, das bestehende Regime zu zerschlagen: Der hitlerfaschistische Feldzug zielt dann gar auf die Ausrottung der »Untermenschen« im Osten.
Zu den Kriegen kommen die Revolutionen hinzu, nämlich außer der vom Oktober die Revolution von oben in Form der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung des flachen Landes, die 1929 beginnen. Die Diktatur Lenins und, bei aller Unterschiedlichkeit, die Stalins stimmen in dem wesentlichen Punkt überein, daß sie konfrontiert sind mit diesem totalen Krieg und mit dem permanenten Ausnahmezustand in der Sowjetunion (und das heißt in einem zurückgebliebenen Land ohne liberale Tradition).
Gulag und Emanzipation in der Epoche Stalins
Bisher haben wir wenig oder nicht von der inneren Entwicklung des Landes gesprochen, das aus dem Roten Oktober hervorging. Hier muß sofort gesagt werden, und das gilt sogar für die Stalinsche Periode, daß der Terror nur die eine Seite der Medaille ist. Die andere soll hier mit Ziffern und Angaben angedeutet werden, die von gänzlich unverdächtigen Autoren stammen: »Der fünfte Fünfjahresplan für das Unterrichtswesen war ein organisierter Anlauf zur Beseitigung des Analphabetentums«; weitere Initiativen auf diesem Gebiet führen zur Herausbildung »einer völlig neuen Generation von Facharbeitern und Technikern und technisch gebildetem Verwaltungspersonal«. Zwischen 1927/28 und 1932/33 steigt die Zahl der Studierenden an Universitäten und höheren Schulen sprunghaft an von 160 000 auf 470 000; der Anteil der Studenten aus Arbeiterfamilien steigt von einem Viertel auf die Hälfte. »Neue Städte werden gegründet, und alte Städte werden umgestaltet«; die Entstehung neuer gigantischer Industriekomplexe geht Hand in Hand mit einer großen vertikalen Mobilität, die zum »sozialen Aufstieg fähiger und ehrgeiziger Bürger aus dem Arbeiter- oder Bauernmilieu« führt. Als Folge auch der grausamen und großangelegten Repression jener Jahre »werden Zehntausende von Stachanow-Arbeitern Werksdirektoren« und es kommt - ein analoger Vorgang - zu einer gigantischen vertikalen Mobilität in den Streitkräften. Man versteht nichts von der Stalinperiode, wenn man sich nicht die für sie charakteristische Mischung von Barbarei (einem enormen Gulag) und sozialem Aufstieg auf großer Stufenleiter vor Augen hält. (1)
Die Geschichte der Machtausübung unter Lenin und Stalin ist kein Kapitel, dessen sich Kommunisten vor allem schämen müßten, wie dies die Anhänger des (antimarxistischen) Phantoms einer »Rückkehr zu Marx« behaupten. Das epochale Kennzeichen der Oktoberrevolution und der von Lenin eingeleiteten Wende wurde 1924 von Stalin so beschrieben:
»Früher beschränkte sich die nationale Frage gewöhnlich auf einen engen Kreis von Fragen, die hauptsächlich die >zivilisierten< Nationalitäten betrafen. Irländer, Ungarn, Polen, Finnen, Serben und einige andere Nationalitäten Europas - das war der Kreis der nicht vollberechtigten Völker, für deren Schicksale sich die Helden der II. Internationale interessierten. Die Millionen und aber Millionen der Völker Asiens und Afrikas, die unter der nationalen Bedrückung in ihrer rohesten und härtesten Form litten, blieben gewöhnlich außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Man konnte sich nicht entschließen, Weiße und Farbige, >Zivilisierte< und >Unzivilisierte< in eine Reihe zu stellen. [...] Der Leninismus hat dieses schreiende Mißverhältnis aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern und Asiaten, zwischen >zivilisierten< und >unzivilisierten< Sklaven des Imperialismus niedergerissen und auf diese Weise die nationale Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft.« (Über die Grundlagen des Leninismus. Vorlesungen an der Swerdlow-Universiät, Kap. VI.)
Nur Gerede? So könnten knickrige Provinzkrämer oder kurzsichtige kapitalistische Manager argumentieren, die alle Theorie, welche keinen unmittelbaren Profit bringt, für unwesentlich halten. Auf keinen Fall aber kann dies der Standpunkt eines Kommunisten sein, der von Lenin gelernt haben sollte, daß Theorie völlig unentbehrlich ist für die Konstituierung einer emanzipatorischen Bewegung, und der von Marx gelernt haben sollte, daß die Theorie, wenn sie die Massen ergreift, zu einer materiellen Kraft ersten Ranges wird. Und dies ist auch wirklich geschehen.
Churchill, Roosevelt und Stalin - ein Vergleich
Auch in den dunkelsten Jahren des Stalinismus hat die internationale kommunistische Bewegung eine fortschrittliche Rolle gespielt - nicht nur in den Kolonien, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern. In den USA ist Franklin D. Roosevelt Präsident geworden. Aber im Süden wird die gegen die Schwarzen gerichtete Politik der Rassentrennung und Lynchjustiz fortgesetzt. Wer dagegen kämpft, sind die Kommunisten, die deshalb nicht zufällig von der herrschenden Ideologie als »Ausländer« und »Negerliebhaber« (nigger lovers) gebrandmarkt werden. Ein amerikanischer Historiker beschreibt den Mut, dessen die Kommunisten auch in den USA bedurften: »Ihre Kampfansage an den Rassismus und den Status quo führte zu einer Repressionswelle, die man für unvorstellbar in einem demokratischen Land gehalten hätte«; Kommunist zu sein habe bedeutet, »die Möglichkeit von Gefängnis, Zusammengeschlagenwerden, persönlicher Verfolgung und sogar des Todes einzukalkulieren«. (2)
Doch prüfen wir jetzt die Ideologie des Diktators in Person und konfrontieren wir sie nicht mit der Hitlers - einen derart absurden Vergleich überlassen wir den professionellen Antikommunisten -, sondern mit der Ideologie zweier anderer Führer der antifaschistischen Koalition. Vor einigen Jahren hat die angesehene englische Zeitung The Guardian (20. /21. Juni 1992) enthüllt, daß Churchill sich mit dem - unter Reaktionären des ausgehenden 19. Jahrhunderts weit verbreiteten - Gedanken trug, die »Rasse der Vagabunden, Müßiggänger und Kriminellen, der Barbaren, die unfähig sind, sich auf dem Niveau der Zivilisiertheit zu bewegen«, zwangsweise sterilisieren zu lassen.
Diese Denktradition ist auch noch bei Franklin Delano Roosevelt spürbar. Nachdem er in Jalta erklärt hatte, er fühle sich »mehr denn je rachedurstig gegenüber den Deutschen« wegen der von diesen begangenen Verbrechen, liebäugelte der US-Präsident zumindest eine Zeitlang mit einem radikalen Projekt: »Wir müssen hart sein Deutschland gegenüber - und ich meine damit das deutsche Volk, nicht nur die Nazis. Wir müssen das deutsche Volk kastrieren oder es jedenfalls so behandeln, daß es nie wieder Leute hervorbringen kann, die sich wie in der Vergangenheit aufführen wollen.«
Ungeachtet der Verluste und unsäglichen Leiden aufgrund der hitlerfaschistischen Aggression gab es bei Stalin keinerlei vergleichbare En-bloc-Rassisierung der Deutschen. Im August 1942 erklärte er: »Es wäre lächerlich, die Hitler-Clique mit dem deutschen Volk, dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte zeigen, daß die Hitler kommen und gehen, daß aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt. Die Stärke der Roten Armee beruht auf der Tatsache, daß diese keinerlei Rassenhaß hegt und hegen kann gegen andere Völker, auch nicht gegen das deutsche Volk.«
Auch in diesem Fall kann man versuchen, dies als bloße Theorie abzutun, aber eins ist gewiß: Ungeachtet der Barbarisierung und der Schrecken dieser Jahre, noch bei Stalin erweist sich die marxistische Theorie jener überlegen, zu der sich die angesehensten Exponenten der bürgerlichen Welt bekennen.
Zwei Seiten der gleichen Medaille
Den Kommunisten, die sich der von der herrschenden Ideologie aufgezwungenen Dämonisierung Stalins anschließen, wollen wir eine Überlegung vorschlagen. Berufen sie sich doch zuweilen auf Spartakus. Die Geschichtsschreiber berichten, daß Spartakus, um den Tod seines Genossen Crissus zu rächen und zu ehren, dreihundert römische Gefangene geopfert habe; die anderen tötete er am Vorabend der Schlacht. Noch gewalttätiger war das Verhalten der Sklaven, die einige Jahrzehnte zuvor einen Aufstand in Sizilien wagten; nach Diodorus Siculus brachen sie in die Häuser der Herren ein, vergewaltigten die Frauen und richteten »ein großes Blutbad (an), das nicht einmal vor den Säuglingen haltmachte«.
Dies sind gewiß nicht die Verhaltensweisen, an die die italienischen Kommunisten erinnern wollen, wenn sie bei den Liberazione-Festen oder im Parteiorgan des PRC das Bild von Spartakus schwenken. Sie weigern sich jedenfalls, ihn auf eine Ebene mit Crassus zu stellen, dem es gelang, nachdem er im römischen Heer mittels Dezimierung eiserne Disziplin durchgesetzt hatte, die Aufständischen zu besiegen, und der dann viertausend Gefangene entlang der Via Appia kreuzigen ließ. Dort also Crassus, der reichste Mann Roms und damit befaßt, die Institution der Sklaverei zu verewigen und den »sprechenden Werkzeugen der Erde« alle Würde zu verweigern; und hier eines dieser sprechenden Werkzeuge, dem es gelingt, den Protest seiner Arbeits- und Leidensgenossen auszudrücken und zu organisieren und wenigstens eine Zeitlang die Arroganz seiner imperialen Herren in die Schranken zu weisen. Indem sie Spartakus ehren, bekräftigen die italienischen Kommunisten lediglich, daß seine Persönlichkeit und sein Schicksal untrennbar zur Geschichte der subalternen Klassen gehören, daß sie Teil einer Bewegung sind, die, ungeachtet ihrer Irrtümer, eine Emanzipationsbewegung war und ist.
Davon unterscheidet sich kaum die Bedeutung, die russische Kommunisten ihrem Demonstrieren hinter dem Porträt Stalins beimessen: Sie wollen sich damit ebensowenig mit dem Gulag und der systematischen Liquidierung der Gegner identifizieren, wie die Liberazione sich identifizieren will mit der Vergewaltigung der Frauen und dem Massakrieren von Gefangenen und Säuglingen, derer sich die aufständischen Sklaven schuldig gemacht haben. Die alberne Verklärung von Spartakus ist die andere Seite der Medaille der Dämonisierung Stalins. Es macht keinen Sinn, vor der Realität zu flüchten oder sie willkürlich so zu vereinfachen, daß der Seelenfrieden gewahrt bleibt: Man braucht kein Kommunist zu sein, jeder ehrliche Historiker kann erkennen, daß der »Stalinismus«, mit allen seinen Schrecken, ein Kapitel jenes Emanzipationsprozesses ist, der das »Dritte Reich« besiegt hat, der den Impuls gab für die Dekolonisierung und für den Kampf gegen den antisemitischen und anticamitischen Rassismus (letzterer richtet sich gegen Schwarzafrikaner - die Red.).
Ein Historiker hat beobachtet: Es ist ein Irrtum zu glauben, daß »der Rassismus der Nazis schon in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts zurückgewiesen worden sei«; der Neologismus »Rassismus« mit seiner negativen Konnotation wird erst später benutzt, während zuvor das Rassenvorurteil ein selbstverständlicher Bestandteil der herrschenden Ideologie auf beiden Seiten des Atlantik war. (3) Kann man sich die radikalen Wandlungen in der Auseinandersetzung über »Rasse« und »Rassismus« ohne den Beitrag der UdSSR Stalins überhaupt vorstellen?
Kolonisierung des historischen Bewußtseins
Vor einigen Monaten hat William Clinton erklärt, er wolle sich an Theodore Roosevelt ein Beispiel nehmen. Dieser ist nicht nur der Theoretiker des »großen Knüppels«, der im Umgang mit den Ländern Lateinamerikas benutzt werden müsse. Die Person, die dem derzeitigen amerikanischen Präsidenten so teuer ist, ist auch der Verkünder des »ewigen Kriegs« ohne »falsche Sentimentalitäten« gegen die Rothäute: »Ich gehe nicht so weit zu glauben, daß nur tote Indianer gute Indianer seien, doch glaube ich, daß dies in neun von zehn Fällen zutrifft; und andrerseits würde ich auch beim zehnten nicht allzu tief schürfen wollen.« Natürlich ist dies nicht jener Theodore Roosevelt, den sich Clinton zum Vorbild nehmen möchte. Aber zu denken gibt das sorglose Sichberufen auf eine Persönlichkeit, die bis an die Schwelle zur theoretischen Rechtfertigung des Völkermords gegangen ist; und zu denken gibt das Schweigen jener, die unermüdlich von den Kommunisten und der Linken verlangen, sie sollten endlich mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit abrechnen.
Andrerseits haben bekannte Juristen angesichts des Dauerembargos gegen das irakische Volk von einem »westlichen Völkermord« oder jedenfalls einem Massaker gesprochen (das schon Hunderttausende Menschenleben gekostet hat). Und dieses Massaker fand nicht im Verlauf eines schrecklichen Ausnahmezustands statt, sondern in einer Friedensperiode, zu einer Zeit, da die Sicherheit und sogar die Hegemonie der Vereinigten Staaten in keiner Weise gefährdet sind. Auf Grund welcher Logik kann man also behaupten, die Verbrechen Lenins und Stalins seien schlimmer als jene, derer sich Clinton schuldig macht?
Sergio Romano hat die periodischen Bombenangriffe auf den Irak eine Fortsetzung der Wahlkampagne mit anderen Mitteln genannt. Das Terrorbombardement als Werbespot: Diese Erfindung, die Goebbels Freude gemacht hätte, war jedoch dem Führungsland des »demokratischen« Westens vorbehalten. Und all dies, noch einmal, in einer Periode des Friedens. Und von neuem stellt sich die Frage: Warum eigentlich sollte ein künftiger Historiker die US-Präsidenten für »humaner« halten als jene, welche die UdSSR in einer der tragischsten Perioden der Weltgeschichte geführt haben? Da mutet die Haltung gewisser Kommunisten schon sehr befremdlich oder philiströs an, die einerseits Stalin dämonisieren, andrerseits in Clinton einen Exponenten der, wenn auch gemäßigten, »Linken« sehen wollen.
Prüfen wir die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus: Der Westen hat die Indios von der Erdoberfläche getilgt und die Schwarzen versklavt; einem ähnlichen Schicksal hat er andere Kolonialvölker unterworfen, doch dies hat den Westen nicht daran gehindert, seine Expansion deshalb als Vormarsch von Freiheit und Zivilisation darzustellen und zu feiern. Und diese Vision hat zuweilen damit geendet, die Opfer in einer Weise zu erobern bzw. völlig abhängig zu machen, daß sie, in der Hoffnung, in den Schoß der »Zivilisation« aufgenommen zu werden, ihre Niederlage verinnerlicht und ihr historisches Gedächtnis und ihre kulturelle Identität aufgegeben haben.
Heute werden wir Zeugen von einer Art Kolonisierung des historischen Bewußtseins der Kommunisten. Und das ist mehr als eine bloße Metapher. Historisch ist die kommunistische Bewegung an die Macht gekommen in Kolonialländern, jedenfalls an den Rändern des Westens. Andrerseits ist mit dem Triumph der Globalisierung und der Pax americana unter medialen Gesichtspunkten der ganze Rest der Welt Provinz und Kolonie geworden - zumindest potentiell und in Hinblick auf das Zentrum des Imperiums, das von Washington aus tagtäglich jeden Ort des Erdballs mit konzentriertem multimedialen Feuer bestreichen kann und bestreicht. Dem zu widerstehen ist schwer, doch ohne solchen Widerstand gibt es keine Kommunisten.
(1) Vgl. zu den hier behandelten Problemen: D. Losurdo: Il revisionismo storico, Laterza, Roma-Bari 1996; Utopia e stato d'eccessione. Sull'esperienza storica del »socialismo reale«, Laboratorio politico, Napoli 1996; Il peccato originale del Novecento, Laterza, Roma-Bari 1998
(2) R. D. G. Kelley: Hammer and Hoe. Alabama Communists during the Great Repression, Chapel Hill and London 1990, S. 30 u. XII
(3) E. Barkan, The retreat of scientific racism. Changing concepts of race in Britain and the United States between the world wars, University Press, Cambridge 1992, S. 1-3 |
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Die Gerichte, die Wahlen und die politische Systemkrise in den USA
Neue Ausgabe der gleichheit Lehren aus dem Irakkrieg
Die Krise des amerikanischen Kapitalismus und der Irakkrieg
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Eine politische Strategie gegen den Krieg
Der Krieg gegen den Irak und Amerikas Streben nach Weltherrschaft
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Eine Bilanz der Herrschaft Jelzins
Von Wladimir Wolkow 18. Januar 2000
Am 31. Dezember 1999 erklärte Russlands Präsident Jelzin das vorzeitige Ausscheiden aus seinem Amt. Damit endet eine Epoche, die zu den dramatischsten und widersprüchlichsten der russischen und internationalen Geschichte gehört. Sie war vor allem durch die Auflösung der Sowjetunion und die Einführung kapitalistischer Beziehungen auf dem Territorium der Länder des "sozialistischen Lagers" geprägt.
Unter den herrschenden Schichten Russlands findet man zwei Auffassungen über die Bedeutung der vergangenen zehn Jahre.
Die erste, die offizielle Ideologie des Kremls, wird auch von dessen liberalen Anhängern und Unterstützern im Westen geteilt. Sie stellt die Jelzin-Periode als großen Schritt aus der "Sackgasse des bolschewistischen Experiments" hin zu einer "normalen" modernen Zivilisation dar. An die Stelle der totalen Regulierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens durch den Staat und der Unterdrückung jeglicher privater Initiative sei eine Periode der persönlichen Freiheit und Demokratie getreten. Jeder Bürger habe nun die Möglichkeit, sich zu verwirklichen.
Die zweite stammt von den russischen Nationalisten jeglicher Couleur - roten, weißen und braunen. Ihrer Ansicht zufolge durchlebte Russland unter Jelzin eine neue "Zeit der Wirren" (in Analogie zum Beginn des 17. Jahrhunderts, als die Dynastie der Rurikiden von den Romanows abgelöst wurde), d.h. einen Bruch in der Entwicklung der russischen Staatlichkeit. Die wahrhaft russischen Formen des gesellschaftlichen Lebens, die während der Zeit der Sowjetunion die Form der "sowjetischen Volksherrschaft" angenommen hätten, seien durch die Öffnung gegenüber den Einflüssen der westlichen Zivilisation untergraben worden. So sei ein Regime entstanden, das den traditionellen Eigenheiten des "russischen Charakters" und den Interessen des russischen Volkes nicht entspreche.
Beide Auffassungen führen in die Irre. Die wirkliche Bedeutung der Jelzin-Periode erschließt sich erst, wenn man sie im Lichte der gesellschaftlichen Konflikte betrachtet, die die Sowjetunion im Lauf ihrer Geschichte geprägt haben: Des Kampfs zwischen der herrschenden Bürokratie und den Bestrebungen der Masse der Bevölkerung, die im Programm der trotzkistischen Linken Opposition einen bewussten Ausdruck fanden.
Die Oktoberrevolution von 1917 hatte sich auf die aktive Unterstützung breiter Schichten des russischen Proletariats und der Bauernschaft gestützt. Die Sowjetunion verdankte ihre Entstehung einer breiten Massenbewegung, die sich die revolutionäre Umgestaltung der weltweiten Zivilisation auf der Grundlage von sozialer Gleichheit und Demokratie zum Ziel gesetzt hatte. Aber diese Bewegung stieß bald auf entscheidende Hindernisse.
Zum einen wurde die Sowjetunion durch die Niederlage der Revolution in Deutschland und anderen europäischen Ländern international isoliert und von den Ressourcen der Weltwirtschaft abgeschnitten, auf die sie dringend angewiesen war. Zum anderen erwuchs im Innern aufgrund der allgemeinen Not in Form der Bürokratie eine neue privilegierte Schicht, die in Stalin ihren politischen Führer fand und sich schließlich zur alleinigen Herrscherin der Gesellschaft aufschwang.
In den dreißiger Jahren stellte Trotzki die Prognose, dass sich die instabile und zutiefst widersprüchliche Lage der Sowjetgesellschaft in zwei Richtungen entwickeln kann: entweder vollendet die Bürokratie die Konterrevolution, kehrt zum Privateigentum zurück und etabliert sich als vollwertige herrschende Klasse; oder das sowjetische Proletariat vollzieht eine neue politische Revolution, stellt Formen wirklicher Rätedemokratie her und ebnet den Weg für eine Wiedergeburt des Sozialismus in der UdSSR.
In der Großen Säuberung von 1937/38 wurde die sozialistische Opposition gegen den Stalinismus weitgehend vernichtet, aber das endgültige Schicksal der Sowjetunion wurde noch nicht entschieden. Bis in die achtziger Jahre hinein wagte es die Bürokratie nicht, die durch die Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse anzutasten. Erst in den Jahren der Perestroika, als die Stalinsche Politik vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land" die Sowjetwirtschaft in eine tiefe Sackgasse geführt hatte und alle gesellschaftlichen Probleme in extremer Weise offen wurden, gelang es der Bürokratie, der sowjetischen Arbeiterklasse ihr eigenes Programm aufzuzwingen.
Gorbatschow trat als Führer der Bürokratie hervor, der das Fundament für den Beginn der kapitalistischen Reformen legte, während Jelzin als "Ausbrecher" aus der Nomenklatur die gesamte Verantwortung für die Verwirklichung dieses kapitalistischen Programms auf sich nahm.
Siegeszug der Konterrevolution?
Kann man die zehnjährige Herrschaft Jelzins daher als Siegeszug der Konterrevolution bezeichnen? In gewissem Sinne ja. Geschichtlich betrachtet, setzte Jelzin den Schlusspunkt hinter die Politik, die Stalin Jahrzehnte vorher begonnen hatte. Andererseits erinnert vieles, was unter Jelzin geschah, kaum an einen Triumph der Konterrevolution, weil sie keinen tatsächlichen Gegner hatte.
Man kann die Sowjetunion am Ende der 80er Jahre kaum noch mit jener am Vorabend des Zweiten Weltkrieges vergleichen. Mehrere Generationen hatten gelebt, die in intellektueller und psychologischer Hinsicht vollständig von den Traditionen und dem Geist der Revolution von 1917 abgeschnitten waren. Sie fanden in der sie umgebenden sowjetischen Wirklichkeit nichts vor, was sie als ihre eigene Errungenschaft ansehen konnten und demzufolge für verteidigenswert hielten.
Außerdem war die wirtschaftliche Rückständigkeit der Sowjetwirtschaft und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt so offensichtlich geworden, dass vielen jede Form der Integration in die Weltwirtschaft, selbst unter kapitalistischen Vorzeichen, unabhängig von den negativen Folgen als Vorzug erschien.
Unter diesen Umständen konnte Jelzin an die Spitze des russischen Staats aufsteigen und sich zeitweilig sogar einer gewissen Popularität erfreuen. Letztlich ist er aber - wie schon Gorbatschow - eine Übergangsfigur. Beide hatten die Funktion, den Massen eine Politik zu verkaufen, die ausschließlich den Interessen einer privilegierten Schichte dient. Gorbatschow führte das Land unter dem Banner der "Erneuerung des Sozialismus" bis zur Schocktherapie, während Jelzin im Namen der "Einführung der Demokratie" der Mehrheit der Bevölkerung alles nahm, was sie hatte, und sie in einen puren Überlebenskampf warf.
Schon die erste von Jelzin ernannte Regierung unter Jegor Gaidar begann Anfang 1992 mit ihrer Politik der "Schocktherapie" einen rücksichtslosen Angriff auf das Lebensniveau und die Rechte der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Wiktor Tschernomyrdin, der Gaidar Ende 1992 ablöste, bemühte sich, das Finanzsystem zu stabilisieren und ausländische Investoren anzuziehen, und erhöhte zu diesem Zweck den Druck auf die Arbeiterklasse. Sein Nachfolger Sergej Kirijenko unternahm 1998 den Versuch einer Neuauflage der "Schocktherapie" und organisierte den finanziellen Zusammenbruch, der vor allem die schutzlosen Bevölkerungsschichten traf. Danach wurde Tschernomyrdin noch einmal zurückgerufen, aber nicht von der Duma bestätigt.
Seither hat Jelzin nur noch Premierminister ernannt, die ihre Karriere in den Sicherheitsorganen und dem Geheimdienst begonnen haben: Jewgenij Primakow im September 1998, Sergej Stepaschin im Mai 1999 und schließlich Wladimir Putin im August 1999.
Inzwischen ist auch das "demokratische" Programm aus der Rhetorik des Kremls entschwunden. Die offizielle Propaganda konzentriert sich auf die Stärkung des Staates und die Durchsetzung "nationaler Interessen". Putins Rolle in dieser Hinsicht ist voraussehbar. Er wird gegen jeden mit schmutzigen Tricks vorgehen, der sich den Interessen der neuen herrschenden Klasse in Russland widersetzt.
Die objektive Bedeutung von Jelzins Rücktritt besteht darin, dass für die weitere Durchführung kapitalistischer "Reformen" eine Reorganisation des Staatsapparats erforderlich ist, die diesen in die Lage versetzt, mit direkter Polizeigewalt gegen die wachsenden Proteste der Arbeiterklasse vorzugehen. Dafür ist eine Figur notwendig, die nicht mit den Versprechungen von gestern und einem Ruf als "Demokrat" belastet ist.
Eine Bilanz von Jelzins Herrschaft
Was ist das Ergebnis der knapp zehnjährigen Herrschaft Jelzins? Gibt man eine kurze Antwort, kann sie nur lauten: Katastrophen, Armut, Zerstörung aller Lebensgrundlagen und aller Perspektiven auf eine Zukunft.
Am Ende der fünfjährigen Perestroika Gorbatschows verfügte die Sowjetunion trotz der tiefen Krise, in der sie sich befand, immer noch über ein gewisses ökonomisches Fundament. Das sowjetische Bildungs- und Sozialsystem hatte Entwicklungsmöglichkeiten und ein kulturelles Potential hinterlassen, das dem gesellschaftlichen Organismus zu einer relativ schnellen Genesung und Wiederbelebung hätte verhelfen können, auch wenn alles, was mit der "sowjetischen Lebensweise" zu tun hatte, einen Anstrich charakterloser Grauheit und geringer Qualität trug.
So fand Jelzin Russland vor, als er in den Kreml einzog. Doch was hinterlässt er bei seinem Auszug an der Schwelle zum 21. Jahrhundert?
Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die als Ersatz einer erneuerten UdSSR ins Leben gerufen wurde, zerfällt in alle Richtungen. Die Industrieproduktion Russlands ist vorsichtigen Schätzungen zufolge mindestens auf die Hälfte geschrumpft. Das russische Bruttoinlandsprodukt befindet sich in etwa auf dem Niveau der Niederlande, einem Land mit einer wesentlich kleineren Bevölkerung, geringerem Territorium und ohne Rohstoffvorräte. Dutzende Millionen Bürger leben von miserablen Einkünften, die nicht einmal die Befriedigung der minimalen Bedürfnisse eines modernen Menschen erlauben. Millionen Menschen haben ihren früheren Wohnort verlassen, um sich vor ethnischen und regionalen Konflikten zu retten oder einfach ein besseres Leben zu finden.
Die durchschnittliche Lebenserwartung ist stark gesunken und die Jugend ist jeglicher Chance beraubt, einen vernünftigen Arbeitsplatz zu finden. Alle Machtorgane sind vollständig vom Krebsgeschwür der Korruption zerfressen und über unsichtbare Fäden eng mit der Kriminalität zusammengewachsen. Sie haben eine vorher nicht gekannte Fülle an Macht und Einfluss erhalten. Über dem Ozean der Tragödie der einfachen Menschen erhebt sich eine äußerst dünne, rücksichtslose, unendlich gierige und extrem egoistische Schicht Neureicher, die in den Tag hineinleben und denen es völlig gleichgültig ist, welchen Preis ihr Reichtum fordert und was nach ihnen kommt.
Jelzin ist zum Symbol dieser Epoche des Niedergangs und dieser dünnen Schicht reicher Aufsteiger geworden. In seiner Abschiedsrede im Fernsehen versuchte er sich zwar als Figur darzustellen, die eine große historische Aufgabe erfüllt hat und zurücktreten kann, weil Land und Gesellschaft wachsende Erfolge zu erwarten hätten. Er kam aber nicht darum herum, wenigstens in Form einer billigen Entschuldigung auf die reale Lage einzugehen.
"Ich möchte Sie um Vergebung bitten," sagte er. "Um Vergebung dafür, dass viele Ihrer Erwartungen enttäuscht wurden. Das, was uns einfach erschien, hat sich als qualvoll und schwierig herausgestellt. Ich bitte um Vergebung dafür, dass ich die Hoffnungen der Menschen nicht zu erfüllen vermochte, die glaubten, dass wir schlagartig aus dem grauen, totalitären Stillstand der Vergangenheit in eine lichte, wohlhabende und zivilisierte Zukunft springen könnten. Ich habe selbst daran geglaubt. Es schien, noch ein Ruck, und wir schaffen es. Mit einem Ruck hat es nicht geklappt. Teilweise war ich zu naiv. Teilweise waren die Probleme zu schwierig. Wir kämpften uns vor durch Fehler und Misserfolge. Viele Menschen mussten in dieser schwierigen Zeit Erschütterungen erleben."
Das war alles, was er zu seiner Rechtfertigung zu sagen hatte.
Das Ende der Jelzin-Epoche
Die Jelzin-Epoche ist eigentlich schon mit dem Finanzzusammenbruch vom August 1998 zu Ende gegangen. Dieser Zusammenbruch hat alle Hoffnungen auf die Fähigkeiten des russischen Kapitalismus begraben, das Land in absehbarer Zukunft aus seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit und Armut herauszureißen. Jelzin selbst fand sich im Zentrum eines großen internationalen Geldwäscheskandals wieder und entpuppte sich als Mann, der von käuflichen Höflingen und halbkriminellen Oligarchen umgeben ist.
Der Tschetschenien-Krieg diente dem Kreml als Mittel, um kritische Stimmen unzufriedener Teile der Elite zu unterdrücken und den sozialen Protest der Massen zu dämpfen. Jelzin nutzte die Gelegenheit und verschwand im günstigsten Augenblick durch eine vorbereitete Hintertür von der Szene - ohne zu vergessen, das Tafelsilber einzustecken.
Er verlässt die Bühne nicht als Triumphator, sondern als Scharlatan, der von Buhen und Schreien begleitet wird. Davon zeugt der Präsidentenerlass seines Nachfolgers Putin, der Jelzin und seiner Familie besonderen staatlichen Schutz gewährt. Dem früheren Präsidenten wird auf Lebenszeit eine staatliche Leibwache gestellt und seine Persönlichkeit wird als unantastbar erklärt.
"Er kann weder in einem strafrechtlichen noch in einem staatsrechtlichen Verfahren zur Verantwortung gezogen, festgehalten, verhaftet, durchsucht oder verhört werden," lautet der Text des Erlasses. Ähnliche Garantien wurden ihm für sein persönliches Vermögen gewährt: "Die Unantastbarkeit des Präsidenten... erstreckt sich auf die von ihm bezogenen Wohn- und Arbeitsunterkünfte, Transport- und Kommunikationsmittel, seine Dokumente und sein Gepäck und auf seinen Schriftverkehr."
Vor diesem Hintergrund hören sich die Worte aus seiner Fernsehansprache, gerichtet an die Millionenbevölkerung Russlands, zutiefst heuchlerisch an: "Den Schmerz eines jeden von Ihnen fühlte ich als Schmerz in meinem Herzen nach. Ich verbrachte schlaflose Nächte, in denen ich qualvoll überlegte, was getan werden kann, damit die Menschen leichter und besser leben. Ich hatte keine wichtigere Aufgabe".
Es ist bezeichnend, dass Jelzin in seiner Fernsehansprache den Schlüsselbegriff, auf den sich die Kreml-Propaganda in den vergangenen Jahren stützte, kaum mehr erwähnt hat - "Demokratie". Dieser Begriff diente tatsächlich stets nur Propagandazwecken. Wenn man sich die wichtigsten Ereignisse seiner Herrschaft vor Augen führt - die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991, der Beginn der "Schocktherapie" im Januar 1992, die Beschießung des Parlamentsgebäudes mit Panzern im Herbst 1993, der Zusammenbruch des Finanzmarktes im August 1998 und die beiden blutigen Tschetschenien-Kriege von 1994-96 und 1999 -, so waren sie allesamt Etappen im Aufbau eines autoritären Polizeiregimes.
Als Politiker und Persönlichkeit verkörperte Jelzin nicht Demokratie und Gerechtigkeit, er war eine typische sowjetische Autoritätsfigur mit Stalinschem Beigeschmack. Er war ein Bojar, ein "Herr", dem alles gleichgültig ist, was über den Rahmen seiner eigenen Karriere und seines beschränkten Lebens hinausgeht. Er war und ist ein wenig intelligenter, beschränkter und arroganter Aufsteiger, der von einem komplexen historischen Prozess vorübergehend an die gesellschaftliche Oberfläche gespült wurde, tatsächlich aber sehr wenig verändert hat.
Das alles hinderte den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton allerdings nicht daran, Jelzin in einem kürzlich in der Times erschienenen Artikel als "Vater der Demokratie" zu betiteln. In Russland bemüht man sich allerdings, diese Formulierung so selten wie möglich zu verwenden. Sie erweckt zu starke Assoziationen an den bekannten Roman "Die zwölf Stühle" von I. Ilf und E. Petrow. Dieses Ende der 20er Jahre geschriebene Werk macht sich über den Versuch lustig, mit dem im vorrevolutionären Russland ein Mythos von der Größe der "russischen Demokratie" geschaffen werden sollte.
Alle heutigen Versuche, in Russland eine lebensfähige Demokratie auf kapitalistischer Grundlage aufzubauen, haben historisch betrachtet eine noch viel geringere Aussicht auf Verwirklichung als zu Beginn des Jahrhunderts. Wenn der russische Kapitalismus existieren kann, dann nur um den Preis einer rücksichtslosen Anwendung autoritärer Unterdrückungsmethoden.
Jelzin hatte es zu Beginn seiner politischen Karriere verstanden, diffuse Hoffnungen auf soziale Gleichheit und Gerechtigkeit um seinen Namen zu konzentrieren. Solange solche Hoffnungen anhielten, übte er für die neue herrschende Klasse eine wichtige Funktion aus, indem er den Abgrund zwischen der neuen privilegierten Schicht von Privateigentümern und den Millionen einfacher Bürger ausfüllte. Mit seinem Weggang wird dieser Abgrund noch viel offensichtlicher werden.
Die Periode des romantischen Glaubens der Massen in die Wunderkraft des Kapitalismus wird für Russland endgültig Vergangenheit werden. Die Herrschenden gruppieren sich um und bereiten sich auf die rücksichtslose Gewaltanwendung zur Unterdrückung jeglichen Wiederstandes seitens der Werktätigen vor. Genau darin besteht die objektive soziale Rolle des neuen amtierenden Präsidenten Putin.
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Präsidentenwechsel in Moskau
Von Peter Schwarz 7. Januar 2000
Was will Putin? - Diese Frage füllt die Kommentarspalten der Zeitungen, seit der russische Präsident Boris Jelzin am Silvesterabend überraschend zurücktrat und das Amt an seinen selbsterkorenen Nachfolger Wladimir Putin übergab.
Obwohl Putin seit fünf Monaten die Regierung leitet, ist er, was seine politischen Ansichten und Ziele betrifft, nach wie vor ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Man weiß nur, dass er seine berufliche und politische Bildung in den Reihen des sowjetischen Geheimdiensts KGB erhielt, dass er Präsident Jelzin, solange dieser die Zügel der Macht in den Händen hielt, bedingungslos ergeben war, und dass er, zum Ministerpräsidenten ernannt, mit großer Härte und Rücksichtslosigkeit gegen die Zivilbevölkerung den Tschetschenien-Krieg vorantrieb.
1952 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg geboren, studierte Putin Jura und trat 1975 unmittelbar nach Abschluss seines Studiums in die Dienste des KGB ein. Für diesen war er als führender Mitarbeiter der Auslandsaufklärung in der DDR tätig, wobei er mindestens zehn Jahre lang in Dresden stationiert gewesen sein soll. Der genaue Charakter seiner Tätigkeit als KGB-Agent bildet bis heute einen weißen Fleck in seiner Biografie.
In den Wendejahren 1990/91 trat Putin erstmals politisch in Erscheinung - als Gefolgsmann der Radikalreformer Anatoli Sobtschak und Anatoli Tschubais. Er arbeitete als Berater und schließlich als Stellvertreter des damaligen St. Petersburger Bürgermeisters Sobtschak und galt bald als "graue Eminenz" der Stadtverwaltung, wobei er sich stets im Hintergrund hielt und selten in der Öffentlichkeit auftrat. St. Petersburg erwarb sich damals den Ruf einer Stadt der Korruption und Skandale, in deren Geschäftsleben auch Auftragsmorde zur Normalität gehören.
1996 holte Tschubais Putin in die Kremladministration nach Moskau. Dort stieg er in kurzer Zeit zum Vizechef des Kreml-Stabs auf. 1998 ernannte ihn Jelzin zum Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, einer Nachfolgeorganisation des KGB, und im März 1999 zusätzlich zum Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. In diesen Funktionen hielt Putin dem zunehmend von Skandalen bedrängten Präsidenten den Rücken frei. Berüchtigt wurde der Fall des Staatsanwalts Juri Skuratow, der es gewagt hatte, die Finanzpraktiken der Jelzin-Familie und ihres Hintermanns, Boris Beresowski, zu untersuchen. Der FSB präsentierte ein Video, das Skuratow in einer verfänglichen Situation mit Prostituierten zeigte - der Fall war erledigt, Skuratow musste gehen.
Auf diesem Hintergrund erscheint der Amtswechsel im Kreml als geschickter Schachzug Jelzins, um sich und seinem Hofstaat aus schwerreichen Oligarchen für weitere fünf Jahre Macht und Einfluss zu sichern. Dank Jelzins vorzeitigem Rücktritt wird die Präsidentenwahl um drei Monate vorgezogen und bereits am 26. März, statt wie regulär vorgesehen im Juni stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt gilt ein Wahlsieg von Putin als so gut wie sicher, vor allem wenn er noch den Bonus des amtierenden Präsidenten einsetzen kann. In sechs Monaten wäre der Wahlausgang wesentlich ungewisser. Die Süddeutsche Zeitung spricht deshalb vom Versuch einer "Erbfolgeregelung nach Zarenart".
Auch die erste Amtshandlung Putins stützt diese Interpretation der Dinge. Er unterzeichnete ein Dekret, das Jelzin auf Lebenszeit strafrechtliche Immunität und zahlreiche materielle Privilegien zusichert.
Dennoch stellt sich mit Jelzins Abtreten von der politischen Bühne die Frage: Was denkt und will Putin selbst? Bedeutet der Wechsel im Präsidentenamt nur einen Austausch von Figuren, oder leitet er auch eine andere Politik ein?
Eine erste Antwort auf diese Fragen gibt ein Papier, das Putin fünf Tage vor dem Amtswechsel unter seinem Namen auf der Web Site der Regierung ( Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.) veröffentlichen ließ. Ein Thema durchzieht dieses Papier wie ein Leitmotiv: Der Ruf nach einem starken, autoritären Staat.
Eingangs zieht Putin eine verheerende Bilanz der wirtschaftlichen Entwicklung unter seinem Amtsvorgänger. Das Bruttoinlandprodukt habe sich in den neunziger Jahren nahezu halbiert, dass Bruttosozialprodukt belaufe sich auf ein Zehntel des amerikanischen und auf ein Fünftel des chinesischen. Die Produktivität liege - mit Ausnahme des Rohstoff- und Energiesektors - bei 20 bis 24 Prozent der amerikanischen.
Ausrüstung und Maschinen, von denen die Qualität der Produktion abhänge, seien hoffnungslos veraltet. Nur knapp fünf Prozent seien weniger als fünf Jahre alt, im Gegensatz zu 29 Prozent vor zehn Jahren. Die Summe der Direktinvestitionen aus dem Ausland belaufe sich lediglich auf 11,5 Milliarden Dollar, im Gegensatz zu 43 Milliarden in China. In Forschung und Entwicklung werde kaum Geld investiert.
Die Realeinkommen seien seit Beginn der Reformen kontinuierlich gesunken. Das gesamte Geldeinkommen der Bevölkerung belaufe sich auf weniger als zehn Prozent des amerikanischen Vergleichswerts. Ebenso hätten sich Gesundheit und durchschnittliche Lebenserwartung verschlechtert.
Obwohl sich die von Putin angeführten Zahlen ausschließlich auf die sogenannte Reformperiode beziehen, d.h. auf die Zeit nach der Auflösung er Sowjetunion, bezeichnet er die dramatische wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation als "Preis, den wir für die von der Sowjetunion ererbte Wirtschaft bezahlen müssen". Aufgrund von Fehlkalkulationen und Unerfahrenheit seien im Erneuerungsprozess zwar Fehler gemacht worden, aber zur Marktwirtschaft gebe es "keine Alternative".
Jedem nostalgischen Rückblick auf die Sowjetunion erteilt er eine klare Absage: "Unser Land und sein Volk haben für das bolschewistische Experiment einen verabscheuenswürdigen Preis bezahlt." Der Kommunismus sei "der Weg in eine Sackgasse gewesen, weit weg von der Hauptrichtung der Zivilisation".
Gestützt auf diese Festlegungen tritt Putin für eine Korrektur des bisherigen wirtschaftlichen und politischen Kurses ein.
Russland, schreibt er, habe sein "Limit für politische und sozio-ökonomische Erschütterungen, Umwälzungen und radikale Reformen erschöpft". Land und Leute würden neuen radikalen Brüchen nicht standhalten, "ganz gleich ob sie unter kommunistischen, nationalpatriotischen oder radikalliberalen Parolen stattfinden". Angebracht seien "evolutionäre, graduelle und vorsichtige Methoden". Die Erfahrung der 90er Jahre habe gezeigt, dass "abstrakte Modelle und Schemata aus ausländischen Textbüchern nicht auf Russland übertragen werden" könnten. Russland müsse "seinen eigenen Weg der Erneuerung" finden, indem es "die universellen Prinzipien der Marktwirtschaft und Demokratie mit den russischen Realitäten" verbinde.
Was darunter konkret zu verstehen ist, wird auf den folgenden Seiten deutlich. Putin betrachtet die Gesellschaft mit den Augen eines Machttechnikers aus dem Geheimdienst, dem jede wirklich demokratische Bestrebung der Massen ein Gräuel ist. Ein starker Staat und eine starke, nationalistisch gefärbte Ideologie sind für ihn die beiden wichtigsten Voraussetzungen, um die gesellschaftliche Einheit zu erreichen, die er als Grundlage für die Verwirklichung seines liberalen Wirtschaftsprogramms betrachtet.
Ganz im Stile eines angehenden Bonaparte beschwert er sich, dass gegenwärtig viel Energie durch "politische Zänkereien" verschwendet werde, "anstatt die konkrete Aufgaben von Russlands Erneuerung im Angriff zu nehmen".
Dann beschwört er die "traditionellen russischen Werte" als Grundlage für die Einheit der russischen Gesellschaft. Darunter versteht er "Patriotismus", "der Glaube an die Größe Russlands", "Staatlichkeit" ("Für die Russen ist ein starker Staat keine Anomalie, die beseitigt werden muss. Im Gegenteil, sie betrachten ihn als Quelle und Garant von Ordnung und als Initiator und Haupttriebkraft jeder Veränderung.") und "gesellschaftliche Solidarität".
Auch das nächste Kapitel steht unter der Überschrift "Starker Staat". Erneut wird betont: "Russland benötigt eine starke Staatsmacht und muss sie haben."
Und schließlich wird das Papier mit einem Kapitel "leistungsfähige Wirtschaft" abgeschlossen, in dem neben den traditionellen Postulaten der Marktliberalen - besseres Klima für ausländische Investoren; effektiveres Steuer- und Finanzsystem; Integration der russischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft - vor allem eine aktivere Rolle des Staates in der Wirtschaft gefordert wird. Russland, heißt es, müsse "ein gesundes System der staatlichen Regulierung der Wirtschaft und Gesellschaft aufbauen".
Betrachtet man Putins Aufstieg im Lichte dieses Papiers, dann wird deutlich, dass der Präsidentenwechsel in Moskau tatsächlich mehr bedeutet als den Austausch einer Figur durch eine andere.
Jelzins Aufgabe - zumindest in den ersten Jahren seiner Amtszeit - bestand darin, die von der Sowjetunion ererbten staatlichen Institutionen niederzureißen, um den Weg für den beispiellosen Raubzug frei zu machen, der unter dem Namen "Privatisierung" in die Geschichte einging. Diesem Zweck diente die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 ebenso wie die Beschießung des russischen Parlaments im Oktober 1993.
Der beispiellose wirtschaftliche und gesellschaftliche Niedergang, der folgte, sowie das aggressive Vordringen der USA und der Nato im ehemaligen Ostblock und Süden der Sowjetunion, bedrohen nun die Grundlagen der Russischen Föderation selbst. Nun werden wieder starke staatliche Institutionen benötigt, um die Interessen der neuen Herrscherclique nach außen und vor allem nach innen zu verteidigen.
Dass sich Putin in seinem Papier neben den USA immer wieder auf China beruft, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend. Die stalinistische Bürokratie in China hat den Weg der kapitalistischen Restauration ebenso entschieden beschritten wie jene in Moskau. Aber im Gegensatz zu letzterer hat sie den staatlichen Repressionsapparat - einschließlich Kommunistischer Partei, Armee und Geheimdienst - intakt gehalten und ist damit wesentlich besser gefahren. So gesehen signalisiert Putins Papier eine Annäherung Moskaus an den "chinesischen Weg".
Daraus erschließt sich auch die Bedeutung des Tschetschenienkriegs, der Putins kometenhaften Aufstieg erst ermöglicht hat. Außenpolitisch dient er dazu, die Ansprüche der russischen Herrscherclique auf den Kaukasus und die kaspische Region geltend zu machen, die immer stärker unter westlichen Einfluss geraten. Innenpolitisch dient er als Hebel, um den Patriotismus zu schüren, auf den Putin seinen starken Staat baut. Die ungeheure Brutalität, mit der die russische Armee gegen die lokale Bevölkerung vorgeht, ist nur ein Vorgeschmack darauf, was all jene in Russland selbst zu erwarten haben, die sich Putins Kurs der nationalen Einheit widersetzen oder gegen soziale Missstände protestieren.
Der Krieg ist allerdings noch nicht entschieden. Weitere hohe russische Verluste oder gar eine Niederlage, wie im ersten Tschetschenienkrieg, könnten Putins Stern schnell wieder sinken lassen.
Karl Grobe hat Putin in der Frankfurter Rundschau als "personifizierten Ausdruck des Machttransfers an den militärisch-geheimpolizeilichen Komplex und seiner Einigung mit der raubkapitalistischen Oligarchie" bezeichnet. Eine treffende Charakterisierung. Man sollte aber nicht aus den Augen verlieren, dass dieser Machttransfers auf dem Hintergrund einer tiefen sozialen Krise und wachsender Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten stattfindet. Diese Unzufriedenheit hat bisher noch keine bewusste politische Artikulation gefunden. Das ermöglicht es Putin vorläufig, seinen starken Staat pseudodemokratisch zu bemänteln. Das wird sich aber schnell ändern, wenn es zu offenen Klassenkonfrontationen kommt.
Die westlichen Regierungen haben durchgängig ihre Hoffnung auf eine gute und enge Zusammenarbeit mit Putin zum Ausdruck gebracht. Nicht eine hat bisher an seinen innenpolitischen Vorstellungen Anstoß genommen. Es wurde lediglich vereinzelt die Sorge geäußert, dass er sich auf internationalem Parkett als schwierigerer Verhandlungspartner erweisen könnte, als sein Vorgänger.
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Andrej Sacharow und das Schicksal liberaler und demokratischer Ideen im postsowjetischen Russland
Von Wladimir Wolkow 6. Juni 2001 aus dem Russischen (24. Mai 2001)
Am 21. Mai wäre der Wissenschaftler Andrej Sacharow, der zunächst als Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe und später als Dissident und liberaler Kritiker des stalinistischen Regimes bekannt wurde, achtzig Jahre alt geworden. Diesem Anlass widmeten sich zahlreiche Artikel in der russischen Presse.
Allgemeiner Tenor war der Tonfall des Triumphes. Typisch war beispielsweise folgende Formulierung der Zeitung Iswestija: "Sacharow überwand Raum und Zeit", "Sacharow ging als Sieger aus seiner Begegnung mit der Geschichte hervor", er und Alexander Solschenizyn seien "zwei Freie in versklavten Zeiten" gewesen.
Diese Begeisterungsstürme lassen sich erklären. Das neue kapitalistische Russland hat sämtliche alten Werte und Autoritäten aufgehoben, ohne etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Die meisten populären Berühmtheiten - Politiker, Schriftsteller, Stars der Unterhaltungsbranche - haben sich gleich mehrfach in Misskredit gebracht und die Erwartungen des Durchschnittsbürgers enttäuscht. In dieser Atmosphäre allgemeiner Enttäuschung, angesichts des Mangels an Autoritäten und Orientierungen, versucht die Regierung von oben eine Reihe von Kultfiguren zu schaffen, die als Modelle für Moral und Ethik dienen sollen.
Der Wissenschaftler Sacharow erwies sich als recht geeignet für diesen erlauchten Kreis neuer "Heiliger". Seine tiefe Überzeugung, dass allein die Vorherrschaft des Privateigentums Demokratie und Menschenrechte sichern könne, hat ihn zu einer Art Propheten des kapitalistischen Russland werden lassen. Glücklicherweise verließ er die Bühne rechtzeitig, so dass ihn niemand mehr für die Folgen verantwortlich machen kann.
Die reichen Blüten der Bewunderung, welche die neue herrschende Elite heute über Sacharows Grab ausschüttet, lassen jedoch auch Spuren von Ambivalenz erkennen. Die heutigen russischen Politiker und Medienbarone wünschen keine gründliche Diskussion über die wirklichen Gedanken des sowjetischen Dissidenten, über seine ideologische Evolution und über die Folgen des politischen Programms, für das Sacharow in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre öffentlich eingetreten war.
Der Jubel über Sacharow bezieht sich daher in erster Linie auf ihn als bewundernswerten Menschen, nicht als Persönlichkeit des öffentlichen und politischen Lebens. Typisch sind in dieser Hinsicht die Worte von Alexander Ginsburg, der in der Zeit der sechziger bis achtziger Jahre ebenfalls ein bekannter Dissident war: "Wenn Sacharow heute noch am Leben wäre, dann würde unser Leben nicht wesentlich anders aussehen... Er wies uns keinen politischen, sondern einen ethischen Weg."
Die Nüchternheit dieser Äußerung wird von anderen noch übertroffen. Der Kommentator Leonid Radsichowski schreibt: "Sacharow bleibt natürlich eine historische Figur, doch aus irgend einem Grunde ist er in der russischen Öffentlichkeit nicht zu einem ‚brandheißen‘ Propheten geworden; sein Name wurde nicht zu einem heroischen und mythologischen nationalen Symbol."
Eine wichtige Beobachtung: Sacharow ist nicht zum Volkshelden geworden; er war und bleibt eine Kultfigur der "offiziellen" russischen Intelligenz und von deren Eliten. Darüber hinaus äußern selbst seine glühendsten Verehrer gewisse Vorbehalte.
Welche Inhalte von Sacharows "Vermächtnis" wecken heute Befremden und Widerspruch? In erster Linie sind es bestimmte grundlegende Ziele Sacharows, die mit seinen Appellen an das menschliche Gewissen, mit seinem Fortschrittsglauben und mit seiner Überzeugung verbunden sind, dass die Gesellschaft im Interesse ihrer Mehrheit verändert werden könne.
Obwohl seine konkreten politischen Perspektiven und Vorschläge von Mitte der siebziger Jahre an zunehmend reaktionären Charakter annahmen und er die Ideen der kapitalistischen Restauration verbreitete, blieb Sacharow bis zu seinem Tode frei von dem Zynismus und der überheblichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Menschheit, wie sie für die Postmodernisten typisch sind.
In seiner Autobiographie, die er im reifen Alter verfasste, schrieb Sacharow: "Ich bin kein Berufspolitiker, und vielleicht mache ich mir deshalb ständig Gedanken über die Wechselbeziehung zwischen meinem Handeln und seinen Endergebnissen. Ich denke, dass hinsichtlich dieser komplexen und widersprüchlichen Probleme eigentlich nur moralische Kriterien in Verbindung mit geistiger Offenheit eine Art Richtschnur abgeben können."
Andererseits hegte Sacharow nicht von Anfang an liberale und demokratische Illusionen über den Kapitalismus. In einem Papier von 1968 unter dem Titel "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit", in dem er sein Credo umriss, bezeichnete er "die Anschauungen des Autors als zutiefst sozialistisch".
Dieses interessante Dokument interpretiert die bekannte Idee der Konvergenz in dem Sinne, dass die soziale Basis der Sowjetunion erhalten bleiben, ihr gesellschaftliches Leben allerdings von Grund auf demokratisiert werden müsse. Hier hält der Autor einen von allen Spuren des Stalinismus gereinigten Sozialismus für das historisch überlegene Gesellschaftsmodell. Erst später verschob er die Gewichte so, dass die diametral entgegengesetzte Auffassung entstand. Die heute vorherrschende Ideologie in Russland ist natürlich wenig geneigt, diesen Aspekt von Sacharows geistigem Werdegang zu würdigen.
Eine weitere für ihn typische Überzeugung war sein unablässiges Eintreten für das Recht auf freie Meinungsäußerung und für Menschenrechte. Dieses Thema ist bei den offiziellen Politikern seit geraumer Zeit nicht mehr gefragt. Der Kreml betreibt, insbesondere seit Putin das Amt des Regierungschefs übernahm und den zweiten Tschetschenienkrieg begann, die gezielte Unterdrückung der Ansätze zu demokratischen Gepflogenheiten und zu Bürgerrechten, die Anfang der neunziger Jahre in Russland entstanden waren.
Auch möchte das russische Establishment nicht daran erinnert werden, dass Sacharow Ende der achtziger Jahre am Entwurf einer neuen Verfassung gearbeitet hatte. Unter anderem hatte diese die juristische Gleichberechtigung sämtlicher nationaler Gebietsteile der Sowjetunion vorgesehen. Als Boris Jelzin in den frühen neunziger Jahren die regionalen Eliten aufrief, "Nehmt Euch so viel Souveränität, wie Ihr verkraften könnt", stützte er sich noch auf diese und ähnliche Vorstellungen. Die Folgen dieser destruktiven Politik äußerten sich in zahlreichen ethnischen und regionalen Konflikten auf dem gesamten Gebiet der ehemaligen Union, und ihre unschuldigen Opfer zählen heute nach Hunderttausenden.
In dieser Frage hat der Kreml eine Wendung um 180 Grad vollzogen. Er begegnet mittlerweile dem Virus des Separatismus mit einer Stärkung des zentralen Militär- und Polizeiapparats und belebt eben jene Traditionen wieder, die zuvor mit dem gesamten Erbe des Stalinismus untergegangen schienen.
Mit anderen Worten, der Versuch, Sacharow in einen "Propheten" und eine "Ikone" zu verwandeln, bezieht sich nur auf den Privatmenschen, nicht aber auf den gesellschaftlichen und politischen Führer.
Es gibt noch eine weitere Frage, der die russischen Massenmedien ausweichen. Sie betrifft Sacharows Vermächtnis. Hat er etwas hinterlassen, das der Entstehung einer neuen Generation geistig unabhängiger und verantwortungsbewusster Bürger dienen könnte, die Verantwortung für das Schicksal der Gesellschaft übernehmen? Die Zustände im postsowjetischen Russland lassen erkennen, dass eine solche Generation nicht einmal im Ansatz vorhanden ist.
Die Soziologin der Zeitschrift Expert, T. Gurova, meint, dass die Ideen der Demokratie, der Verteidigung von Bürgerrechten und Freiheiten in der Dissidentenbewegung aus Sowjetzeiten wurzeln; ihre Vertreter sind hauptsächlich "Personen aus der parteiungebundenen oder nur lose parteigebundenen Intelligenz", die im Großen und Ganzen über 45 Jahre alt sind. "In diesen Kreisen wird der Begriff der Freiheit gleichgesetzt mit den Begriffen der freien Meinungsäußerung, der Gewissens- und Assoziationsfreiheit, mit dem Recht auf Auswanderung", usw.
Doch nicht diese Leute entscheiden über das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben im heutigen Russland. An den Hebeln von Macht und Einfluss sitzen Leute, die in den vergangenen zehn Jahren sehr erfolgreich waren, "doch diesen Erfolg verdankten sie nicht dem mystischen Ideal der Demokratie, sondern ihrem eigenen Willen und ihrer Tatkraft". Ihre Wurzeln liegen, fährt die Expert -Autorin fort, "in den ungezügelten Gesetzesüberschreitungen ihrer Partner, in der Dummheit der regionalen Gouverneure, in der Brutalität und im Erfindungsreichtum ihrer Kollegen, in der Größe des Marktes, in der Gleichgültigkeit der Staatsmacht - in allem, was unser Alltagsleben ausmacht."
Möglicherweise sind dies die einzigen objektiven gesellschaftlichen Folgen, anhand derer wir die Bedeutung A. Sacharows und ähnlicher Figuren bewerten müssen. Vielleicht war seine subjektive Zielsetzung in Ordnung. Persönlich hat er sich nicht, wie die überwiegende Mehrheit der Kremlpolitiker seit den neunziger Jahren, mit Lügen, Blutvergießen und Korruption besudelt. Doch seine politischen Ideen sind darum nicht weniger reaktionär. Aus der großen historischen Perspektive stand sein politisches Programm nicht für einen Ausweg der Sowjetunion aus der Sackgasse, in die sie geraten war, sondern für das genaue Gegenteil: für ihr immer tieferes Versinken in einer tödlichen Krise, für den gesellschaftlichen Verfall.
Es sollte uns nicht überraschen, dass seine Ideen in der neuen, postsowjetischen Generation keinen positiven Widerhall finden. Der Geburtstag des Wissenschaftlers Sacharow, dessen Tod nun zwölf Jahre zurückliegt, bietet Anlass, diese bezeichnende Tatsache zu überdenken und uns die Frage zu stellen, welche gesellschaftliche Perspektive zu einer wirklichen Erneuerung unseres Landes führen kann.
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Neuer Abrüstungsvertrag bereitet Weg für Aufrüstung der USA
Von Joseph Kay 1. Juni 2002 aus dem Englischen (22. Mai 2002)
Während seines Besuchs in Moskau hat US-Präsident George W. Bush ein neues Waffenkontrollabkommen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet. Die am 13. Mai geschlossene Vereinbarung ist nur dem Namen nach ein Abrüstungsvertrag. Er ermöglicht eine Eskalation des amerikanischen Militarismus, jetzt mit der Duldung der russischen Regierung.
Im Zentrum des Vertrags steht die Verpflichtung beider Seiten, die Atomsprengköpfe in den nächsten zehn Jahren auf ein Drittel ihrer gegenwärtigen Zahl zu verringern. Im Moment haben beide Atommächte jeweils etwa 6.000 bis 7.000 Sprengköpfe, diese würden demnach auf 1.500 bis 2.000 verringert. Es gibt aber keinen Fahrplan für die Deaktivierung der Waffen, d.h. die Vereinigten Staaten (ebenso wie Russland) könnten ohne weiteres in der Zwischenzeit ihre Bestände sogar noch erhöhen, solange das Limit im Jahre 2012 nicht überschritten wird. Dann läuft der Vertrag aus, wenn er nicht erneuert wird.
Und das ist nicht das einzige Schlupfloch. Der Vertrag verlangt nicht die tatsächliche Zerstörung der deaktivierten Sprengköpfe. Russland protestierte zwar, als die Vereinigten Staaten andeuteten, sie könnten ihre Bestände einfach dadurch reduzieren, dass sie sie einlagern, von wo aus sie schnell und leicht reaktiviert werden könnten - eigentlich ein reiner Buchhaltungstrick. Die Vereinbarung verbietet das aber nicht, und US-Vertreter haben durchblicken lassen, dass sie zumindest mit einem Teil des gegenwärtigen Arsenals so verfahren wollen.
Beide Vertragspartner können mit einer Frist von 90 Tagen aus dem Vertrag aussteigen. Der ABM-Vertrag, den die USA im Dezember letzten Jahres kündigten, und die meisten Waffenkontrollverträge haben eine doppelt so lange Kündigungszeit. Und im Gegensatz zu Verträgen wie Start 1 gibt es keine Bestimmungen darüber, welche Art von Nuklearwaffen weiterhin stationiert werden darf.
Die Verhandlungen über das Abkommen dauerten nur sechs Monate, und es umfasst nur drei Seiten (verglichen mit Start 2, das 700 Seiten lang ist und mehr als zehn Jahre in Anspruch nahm). Es erweckt den Anschein, dass es zusammengestoppelt wurde, um Putin zu ermöglichen, das Gesicht zu wahren - ein Fetzen Papier ohne Substanz, der aber Putin die Behauptung ermöglicht, er habe die Amerikaner gezwungen, einen Vertrag zu unterzeichnen.
Seit ihrer Amtsübernahme hat die Bush-Regierung jeden internationalen Vertrag rundheraus abgelehnt, der dem amerikanischen Militär und der Rüstungsindustrie irgendwelche Beschränkungen auferlegt. Das entspricht der unilateralen Haltung der amerikanischen Regierung insgesamt, die in ihrer Außenpolitik keinerlei Schranken mehr anerkennt. Im vergangenen Jahr hatte Bush betont, ein Abrüstungsabkommen sollte lediglich ein informelles Abkommen zwischen den beiden Regierungen und kein formeller Vertrag sein.
Die Regierung akzeptierte Russlands Forderung nach einem formellen Vertrag schließlich nur deswegen, weil er keine Auswirkungen auf die amerikanische Militärpolitik haben wird. Bush hatte schon vorher bekannt gegeben, dass er die Verringerung des amerikanischen Nuklearpotentials auf das in dem Vertrag vorgesehene Maß plane, ganz unabhängig davon, ob ein Abkommen zustande komme oder nicht. Die Vertreter des Pentagon und Bushs wollten allerdings sicherstellen, dass diese Zahl jederzeit wieder erhöht werden kann, wenn das amerikanische Militär es wünschen sollte. Das Memorandum zur Nuklearpolitik, dass das Pentagon Anfang des Jahres vorlegte, schlug zum Beispiel eine Verringerung des Nukleararsenals vor, erklärte aber gleichzeitig: "Für den Fall, dass die Beziehungen der USA mit Russland sich in Zukunft deutlich verschlechtern sollten, könnte es für die USA notwendig sein, das nukleare Rüstungsniveau wieder zu erhöhen."
Der Vertrag räumt Russland den gleichen Spielraum ein, einschließlich der Stationierung landgestützter Mehrfachsprengköpfe, gegen die sich Washington bisher gewehrt hatte. Die russische Wirtschaft ist aber gar nicht in der Lage, eine mit den USA vergleichbare Nuklearstreitmacht zu finanzieren, und der Vertrag bedeutet die Anerkennung der amerikanischen Überlegenheit. "Platt ausgedrückt hat die unilaterale Verringerung des Nuklearpotentials der USA die Form eines bilateralen Dokuments angenommen," schrieb der russische Verteidigungsexperte Alexander Goltz. Ein hoher amerikanischer Experte wurde im gleichen Sinne zitiert: "Was wir jetzt in dem Vertrag vereinbart haben, wollten wir sowieso tun. Es ist ein Vertrag nach unseren Vorstellungen."
Quid pro quo
Das Abrüstungsabkommen über Nuklearwaffen ist ein Bereich von mehreren, über die es Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland gibt. Unter Putin hat die russische Regierung in den vergangenen Monaten an einer Neuorientierung ihrer Haltung gegenüber den USA gearbeitet und dabei ihre Opposition gegen die Militäroperationen der USA weitgehend fallengelassen; sie hofft darauf, dass Washington sich entsprechend revanchiert.
Als Teil seiner Bemühungen, die Billigung der USA für seine eigenes Vorgehen zu erhalten, hat Russland seine Opposition gegen die amerikanischen Pläne für den Aufbau einer Raketenabwehr (NMD) weitgehend fallengelassen. Bis zum Herbst letzten Jahres lehnte Russland den Versuch Washingtons, den ABM-Vertrag zu kündigen, entschieden ab. Als die Bush-Regierung dann im Winter ihre Absicht bekannt gab, den Vertrag aufzugeben, war die russische Reaktion ziemlich unaufgeregt. Bush versicherte Russland damals, dass das System nicht dazu dienen werde, russische Raketen abzuwehren. In dem Vertrag steht über dieses Versprechen allerdings nichts, und Raketenabwehrsysteme werden darin gar nicht erwähnt.
Der Vertrag bereitet daher dem Aufbau einer NMD den Weg, der in wenigen Wochen nach Ablauf der sechsmonatigen Kündigungsfrist in Alaska beginnen wird. Es hat zwischen den Ländern sogar Gespräche über eine mögliche Beteiligung Russlands am Aufbau eines zukünftigen Raketenabwehrsystems gegeben. Bush und Putin haben einem gemeinsamen NMD-Komitee zugestimmt, das diese Möglichkeit ergründen soll, und ein hoher Sprecher der Regierung sagte, dass die beiden bei einem Treffen in Moskau über "verstärkte Zusammenarbeit... bei der Raketenabwehr" sprechen wollen. Die USA hoffen, dass eine Unterstützung Russlands auch die Opposition Europas schwächen wird.
Die Putin-Regierung hat ihre Kritik an der zunehmenden US-Militärpräsenz in Zentralasien, darunter auch in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken, abgeschwächt. Gleichzeitig plant die Nato, sich in die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum - Estland, Lettland und Litauen - auszudehnen.
Außerdem gibt es Anzeichen, dass Russland sich darauf vorbereitet, eine amerikanische Intervention im Irak zu akzeptieren, die für Ende des Jahres erwartet wird. Kurz nach dem Abschluss des Raketenabkommens stimmte Russland mit den anderen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats der von den USA unterstützten Neuformulierung der Irak-Sanktionen zu. Durch die Unterstützung der Resolution versuchte Washington die europäische Kritik an der Sanktionspolitik zu unterlaufen und dadurch mehr Unterstützung für eine Militärintervention zu bekommen. Russland hofft auf der anderen Seite, dass die USA ihm in einem Irak nach Hussein die Kontrolle eines Teils der Ölfelder des Landes überlassen wird.
Neben dem Beharren auf dem Prinzip eines internationalen Vertrags spekuliert Russland auch darauf, dass engere Beziehungen mit den USA seine wirtschaftlichen Aussichten verbessern und ihm ermöglichen werden, seine regionalen Interessen ohne Einmischung der USA zu verfolgen. Wladimir Frolow, ein Berater des Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses der Duma, schrieb in einem Kommentar in der St. Petersburg Times : "Putin scheint wirklich zu glauben, dass die Annäherung Russlands an den Westen in dessen ureigenem Interesse ist, weil nur so die Voraussetzungen für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Wiederbelebung Russlands und seine Wiedergeburt als Großmacht geschaffen werden können... Er steht damit nicht allein und hat in der wachsenden Unternehmerklasse Russlands eine starke Stütze, die nach Anerkennung durch den Westen hungert."
Einen Tag nach der Übereinkunft über die Abrüstungsmaßnahme stimmte die Nato einer neuen Partnerschaft zwischen Russland und der Nato zu. Russland wird an verschiedenen Nato-Entscheidungen beteiligt werden, obwohl die Vereinigten Staaten und die westeuropäischen Großmächte die Kontrolle in den meisten Fragen, darunter auch die Entsendung von Truppen, behalten werden. Putin hofft auch auf die Unterstützung der USA für die Aufnahme Russlands in die Welthandelsorganisation (WTO) Ende des Jahres.
Putin hat die Außen- und Militärpolitik Russlands umorientiert und auf regionale Fragen konzentriert, besonders auf die Unterdrückung der nationalistischen Revolte in Tschetschenien und auf den Konflikt mit Georgien, die beide den Zugang Russlands zum ölreichen Kaspischen Meer bedrohen. Seit dieser Umorientierung Russlands haben die USA ihre bis dahin scharfe Kritik an dem brutalen Krieg in Tschetschenien fallen gelassen.
Am 13. Mai - dem Tag des Abschlusses der Abrüstungsverhandlungen - unterzeichnete Russland ein Abkommen mit dem zentralasiatischen Staat Kasachstan über die Aufteilung der Öl- und Gasvorräte unter einem Teil des Kaspischen Meeres. Russlands größte Ölgesellschaft LUKoil hat umfangreiche Interessen in der nordkaspischen Ölförderung, und Russland hofft, durch eine gesteigerte Ausbeutung dieser Vorkommen den Nahen Osten als wichtigsten Rohöllieferanten Europas und Amerikas herausfordern zu können. In den vergangenen Monaten haben die USA eine viel freundlichere Haltung gegenüber den Ölinteressen Russlands eingenommen als früher.
Innere Konflikte
Im vergangenen Jahr hat Russland seinen Ton in den Beziehungen zu Washington merklich verändert. Es hat für den Moment die Hoffnung aufgegeben, den USA in einer "multipolaren Welt" Paroli bieten zu können. Der russische Außenminister Igor Iwanow äußerte sich euphorisch über die neue Zusammenarbeit mit der Nato: "Wir müssen jetzt zusammen am Aufbau der neuen Weltordnung arbeiten."
Diese Umorientierung könnte sich schnell wieder ändern, vor allem wenn die wachsenden Spannungen zwischen den USA und Europa zu einem offenen Bruch der transatlantischen Beziehungen führen sollten. Russland hat enge Beziehungen zu Europa und besonders zu Deutschland. Es ist zudem Bestandteil von Putins Strategie, Washington für eine Verbesserung der Beziehungen zu Westeuropa zu benutzen. Sollte diese Strategie fehlschlagen, könnte die pro-amerikanische Haltung in sich zusammenbrechen.
Es gibt in der russischen Elite starke Widerstände gegen eine so empfundene völlige Kapitulation vor den Vereinigten Staaten. Leonid Iwaschow, der frühere Leiter der außenpolitischen Abteilung der russischen Armee, nannte Putins Kurs "einen geostrategischen Selbstmordversuch".
Alexei Mitrofanow, ein Mitglied der russischen Duma, nannte das Nuklearabkommen "einen Fehler.... Wir tun den USA einen Gefallen. Sie bauen einen Abwehrschild und wir zerbrechen unser Schwert. Wir müssen uns das Recht vorbehalten, so viele Raketen wie möglich zu behalten, damit wir unter jedem Baum eine stationieren können." Besonders in der Militärführung gibt es starke Vorbehalte gegen eine Raketenabwehr und eine amerikanische Präsenz in Zentralasien.
In den USA ist ein Teil der herrschenden Elite empört, dass Bush überhaupt einem Vertrag zugestimmt hat, selbst einem, der den USA völlige Freiheit lässt. In einem Leitartikel des Wall Street Journal mit dem Titel "Ein Geschenk für Mr. Putin" hieß es: "Bush hat dem Leichnam Abrüstung neues Leben eingehaucht. Der Vertrag wir die veraltete und gefährliche Vorstellung neu beleben, dass die Sicherheit der USA gleichbedeutend mit Verträgen sei."
Trotzdem wird der Vertrag vermutlich von beiden Ländern ratifiziert werden. Im US-Senat haben die meisten führenden Demokraten und Republikaner Zustimmung signalisiert. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Senats, der Demokrat Joseph R. Biden, und der Republikaner Jesse Helms haben sogar darauf bestanden, dass ein richtiger Vertrag geschlossen wird. Die Führer des Senats wollten, dass der Kongress wenigstens einen gewissen Einfluss in dieser Frage hat. Senator Joseph Lieberman nannte den Vertag "einen kühnen bedeutenden Schritt" der "die Welt sicherer machen" wird.
Die Unverbindlichkeit des Vertrags macht ihn für die herrschende Klasse der USA im Großen und Ganzen akzeptabel. Es ist aber unklar, wie lange die Unterstützung in Russland anhalten wird. Dimitri Trenin, ein außenpolitischer Experte des Moskauer Zentrums des Carnegie Endowment for International Peace, meinte: "Der Preis [den Russland zahlen muss] ist Russlands Integration in die Weltgemeinschaft, die von den Vereinigten Staaten dominiert wird." Die zweifelhafte Stabilität dieser "Gemeinschaft" macht den Nutzen dieses Eintrittspreises ungewiss.
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Bushs Besuch in Moskau
Russlands veränderte Rolle in der Weltpolitik
Von Patrick Richter 31. Mai 2002
Seit dem Ende der Sowjetunion vor über zehn Jahren wurde kaum so oft von einer "Zeitenwende", einem "historischen Ereignis" oder der "Beerdigung des Kalten Krieges" gesprochen wie in den vergangenen Tagen.
Während seiner jüngsten Europareise unterzeichnete US-Präsident George W. Bush bei seinem dreitägigen Besuch in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Verträge zur Abrüstung von nuklearen Sprengköpfen und zu einer "strategischen Partnerschaft". Vier Tage später, am 28. Mai, wurde Russland in Rom mit großem Zeremoniell unter Anwesenheit der Regierungschefs aller 19 Nato-Länder im Rahmen eines zu bildenden Nato-Russland-Rates in die Strukturen der Nato aufgenommen.
Bei der Vertragsunterzeichnung in Moskau erklärte Bush feierlich, dass "eine neue amerikanisch-russische Partnerschaft geschnitzt wird". "Wir sind Freunde und keine Feinde mehr". Es herrsche nun ein "Klima des Vertrauens". Putin ergänzte: "Es herrscht ein Geist des gegenseitigen Verstehens wie zu Zeiten des Nazismus", als USA und Sowjetunion gemeinsam gegen Nazi-Deutschland kämpften. "Wir sprechen heute eine Sprache".
Doch bei all diesen Vereinbarungen steht hinter der feierlichen Betonung von "Freundschaft", "gleichberechtigter Zusammenarbeit" oder gar einer "Verringerung der atomaren Bedrohung" die nahezu vollständige und bedingungslose Unterordnung des Kremls unter die machtpolitische Dominanz Washingtons. Es ging nur noch darum, dass Moskau wenigstens dem Schein nach sein Gesicht wahren kann.
Im Ergebnis des jüngsten Treffens bleibt das militärische Potenzial der USA unangetastet, und deren Vorbereitungen auf einen Krieg gegen den Irak werden stillschweigend toleriert, wenn nicht sogar tatkräftig unterstützt.
Schon die Gestaltung des Abrüstungsvertrages spricht Bände. Die innerhalb weniger Monate hektisch zusammengezimmerte und nur drei Seiten umfassende Vereinbarung sieht den Abbau von zwei Dritteln der jeweils rund 6000 Sprengköpfe umfassenden Arsenale strategischer Atomwaffen vor. In ihm sind abgesehen von der zehnjährigen Laufzeit keinerlei bindende Abrüstungsschritte festgelegt, und die Prozeduren der Vertragsüberwachung sollen erst nach der Unterzeichnung ausgehandelt werden. Darüber hinaus kann der Vertrag jederzeit mit einer Vorankündigungsfrist von drei Monaten einseitig aufgehoben werden.
Russland konnte sich ohnehin Unterhalt und Wartung der Sprengköpfe im bisherigen Umfang nicht mehr leisten und ließ schon vor einiger Zeit durchsickern, dass der Bestand bis 2012 auf 1500 reduziert werden solle. Auf US-Seite ist dagegen vorgesehen, die Sprengköpfe lediglich von den Trägersystemen zu trennen. Nur ein kleiner Teil der Sprengköpfe wird zerstört, der Rest zu einem Teil unterirdisch eingelagert und zu einem anderen Teil "in operationeller Reserve" gehalten. Die Trägersysteme werden dabei überhaupt nicht verringert bzw. vernichtet, was immer indiskutable Bedingung aller früheren Abrüstungsverträge war.
Dieser Scheinvertrag ist Ergebnis eines außenpolitischen Schwenks, den der Kreml spätestens seit Beginn des Afghanistankrieges vollzogen hat. Ihm liegt das Eingeständnis zugrunde, dass es dem Kreml militärisch und wirtschaftlich nicht möglich ist, sich der immer aggressiveren außenpolitischen Linie der USA zu widersetzen, ohne Gefahr zu laufen, in einer ernsthaften Konfrontation mit den USA vollständig in eine Krise getrieben zu werden. Auch in Anbetracht seiner innenpolitischen Schwäche und der wachsenden sozialen Spannungen im Innern flüchtet das russische Establishment in die Arme Washingtons.
Bis zum Beginn des Afghanistankrieges demonstrierte der Kreml von Zeit zu Zeit seine Opposition gegenüber den Ansprüchen der USA. Als Reaktion auf die Bombardierung Belgrads ließ der damalige Ministerpräsident Jewgeni Primakow am 24. April 1999 auf dem Weg zu einem Treffen mit Präsident Clinton und den Oberhäuptern der Nato-Staaten sein Flugzeug über dem Atlantik wenden. Wenige Wochen später besetzten russische Soldaten in einem Überraschungscoup den Flughafen von Priština, der Hauptstadt des Kosovo. Ein halbes Jahr darauf begann unter Putin der zweite Krieg in Tschetschenien, das Moskau als wichtiges Pfand im Kampf um die Öl-Ressourcen des Kaspischen Raumes betrachtete.
Noch bis zum letzten Sommer bemühte sich Putin um strategische Allianzen mit China und Indien, die als Gegengewicht zur internationalen Dominanz der USA dienen sollten.
Doch spätestens seit den amerikanischen Angriffen auf Afghanistan und der gleichzeitigen Stationierung von US-Truppen in Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan stand fest, dass Moskau dem nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Es nahm das Eindringen des stärksten Konkurrenten in seine traditionelle Einflusssphäre tatenlos hin. Auch die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA vor einem halben Jahr akzeptierte Moskau nolens volens.
Trotz aller noch verbliebener Ansprüche, als Großmacht oder gar als eine der beiden Supermächte zu gelten, ist das tatsächliche Gewicht Russlands im Vergleich zu den USA kaum noch relevant. Bei einer Bevölkerungsgröße von etwa 55 Prozent beträgt die Wirtschaftsleistung Russlands weniger als 5 Prozent der amerikanischen, und der gesamte Staatshaushalt liegt nur knapp über 30 Milliarden Dollar. 10 Milliarden davon werden für militärische Zwecke ausgegeben - ein Taschengeld im Vergleich zum Verteidigungshaushalt der USA mit über 340 Milliarden Dollar. Das einzige Pfand von Gewicht bildet die verbliebene atomare Streitkraft.
So wurde dieser Abrüstungsvertrag von vornherein als Formalie ausgehandelt. Er dient zur Wahrung des Gesichts und enthält keinerlei Verpflichtungen für die USA. Die US-Regierung signalisierte von Anbeginn, dass sie sich auf keinerlei kodifizierte atomare Abrüstungsvereinbarung einlassen werde, die ihr irgendetwas vorschreibt.
In den herrschenden Kreisen Russlands besteht über dieses Vorgehen weitgehend Einigkeit, und der Vertragsentwurf konnte unbeschadet die Abstimmung im Parlament, der Duma, überstehen. Alexej Arbatow, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Duma, erklärte, dass Russland mit diesem Vertrag "die beste Lösung für sich herausgehandelt hat, nachdem das russische Militär Pläne bekannt gegeben hatte, aufgrund von Geldmangel sogar ohne jegliche Vereinbarung mit den USA den Bestand an nuklearen Waffen zu reduzieren". Außenminister Igor Iwanow gab sich noch bescheidener: "Das ist das meiste, was wir erreichen konnten. Die größte Errungenschaft ist, dass wir den Verhandlungsprozess aufrechterhalten konnten."
Lediglich die Kommunistische Partei meldete Opposition gegen diesen Vertrag und Putins Tolerierung von US-Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken an. Sie sieht sich als Verteidigerin und Sprachrohr einer großrussischen, nationalen Idee und als Interessenvertreterin bestimmter Teile der Armee sowie der Rüstungs- und anderer vom Staat abhängiger Industrien. Ihr Vorsitzender, Gennadi Sjuganow, bezeichnete die Vereinbarung als "nationalen Verrat".
Das russische Erdöl als letzter Trumpf
Die Kremlführung geht über ihren Kotau vor den USA in Sachen Abrüstung hinaus und bietet sich jetzt auch in anderen Fragen direkt als Juniorpartner an. Wesentlichen Raum auf dem jüngsten Gipfel nahmen Diskussionen über Russlands Rolle auf dem Weltölmarkt ein. Russische Ankündigungen, sich nicht an Mengenabsprachen mit der OPEC zu halten, sorgten im unmittelbaren Vorfeld des Bush-Besuches für fallende Preise.
Gegenwärtig setzt Moskau alles auf den Energiesektor, der als letzter ökonomischer Trumpf verblieben ist. Allein in den vergangenen beiden Jahren wurde die Ölproduktion um jeweils über 7 Prozent ausgeweitet, so dass mittlerweile 38 Prozent der Einnahmen des Staatshaushaltes und 54 Prozent der russischen Devisenreserven von Energieerlösen abhängen. Russland ist nach Saudi-Arabien der weltweit zweitgrößte Erdölexporteur und schickt sich an, zur Nummer Eins aufzusteigen. Bereits im Februar wurden die Exporte Saudi-Arabiens erstmalig überboten. Experten sehen Russland einen "größeren Ölexporteur werden, als es Saudi-Arabien je war".
Obwohl US-Ölimporte nur zu einem Prozent mit russischem Öl (Irak 7 Prozent) bedient werden, will sich Moskau in Bezug auf seine Energiepolitik voll in den Dienst Washingtons stellen. In Gesprächen und Absichtserklärungen wurde auf dem Gipfeltreffen den Worten Bushs zufolge eine "wichtige neue Energiepartnerschaft" eingeleitet.
Russlands Öffnung trifft in mehrerer Hinsicht mit vitalen US-Interessen zusammen. Einerseits soll die Ölwaffe der OPEC-Länder und Anrainerstaaten des Persischen Golfs entschärft werden, die immer wieder mit einer Verknappung des Ölangebotes und dadurch steigenden Preisen drohen und die bei dem beabsichtigten Militärschlag gegen den Irak angesichts ihrer eigenen Instabilität unberechenbare Größen im amerikanischen Kalkül darstellen. Andererseits soll der russische Ölmarkt für US-Investitionen und -Beteiligungen geöffnet werden. Schon im letzten Herbst erhielt Exxon Mobil den Zuschlag, 4 Milliarden Dollar in die Erschließung von Ölfeldern im russischen Fernen Osten zu investieren.
Für Russland kann eine permanente Gegnerschaft zur OPEC allerdings zu einem Vabanquespiel werden, verfügt das Kartell doch über 78 Prozent der weltweiten Ölreserven. Zurzeit sind die Förderkapazitäten des Kartells begrenzt. Eine mittelfristige Ausweitung der Produktion könnte jedoch den gegenwärtig etwa 25prozentigen Anteil Russlands an der Weltproduktion reduzieren und einen schweren Preiskrieg auslösen. Im Moment entgehen Russlands Staatshaushalt bei einem Rückgang des Ölpreises um einen Dollar 900 Millionen Dollar an Einnahmen. Die Folgen einer längerfristigen Preissenkung wären verheerend.
Daher hofft Moskau angesichts der neuen Weltlage zumindest kurzfristig von einer Ausschaltung des Irak als Ölproduzenten zu profitieren. In Bezug auf das offensichtliche Hauptziel der Europareise Bushs - die Vorbereitung einer militärischen Invasion im Irak - dürfte der Kreml nicht zuletzt aus dieser Berechnung heraus jeglichen Widerstand aufgegeben haben. Die russischen Beziehungen zum Irak haben sich abgekühlt und Moskau hat seine langjährige Opposition gegen neue Sanktionen gegen den Irak zurückgezogen. Gerade das Verhältnis zum Irak, für den Russland einer der wichtigsten Wirtschaftspartner ist und in dem Russland über nicht unwesentliche Beteiligungen vor allem im Ölsektor verfügt, hatte in der Vergangenheit zu Spannungen mit den USA geführt.
Lediglich in Bezug auf den Iran, der wie der Irak Teil von Bushs "Achse des Bösen" ist, zeigt Moskau noch offenen Widerstand. Würden die USA volle Kontrolle über dieses Land bekommen, hätten sie damit die Schlüsselposition bei der Ausbeutung der Kaspischen und zentralasiatischen Öl- und Gasreserven. Auf Vorwürfe von Bush, dass ein im Iran im Bau befindliches russisches Kernkraftwerk die Herstellung von "Massenvernichtungswaffen" ermögliche, erwiderte Putin, dass das gleiche auf die Errichtung eines amerikanischen Kraftwerkes in Nordkorea zutreffe.
Mehr oder weniger stillschweigend wurde die weitere Stationierung von US-Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und seit kurzem auch in Georgien von Moskau akzeptiert. Einen Tag nach Bushs Abreise aus Moskau begannen US-Soldaten ein 64 Millionen Dollar teueres Ausbildungsprogramm georgischer Elitesoldaten für den "Kampf gegen den Terror". Damit wird eindeutig Moskaus Einfluss im Kaukasus untergraben und dem langgehegten Plan einer Erdölleitung vom aserbaidschanischen Baku ins türkische Ceyhan unter Umgehung Russlands und des Iran weiteren Auftrieb gegeben.
Die Gegenleistung für diesen umfassenden russischen Aderlass ist minimal. Anstelle einer vollwertigen Nato-Mitgliedschaft wurde Russland nur eine Neuauflage des 1997 ins Leben gerufenen und während des Kosovokrieges de facto gescheiterten "Nato-Russland-Rates" gewährt, in dem Russland weiterhin keinerlei Einfluss auf Entscheidungen der Nato besitzt, dafür aber als "gleichberechtigter Partner" mitdiskutieren kann. Seine Opposition gegen eine Nato-Mitgliedschaft der drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland, die früher zur Sowjetunion gehörten und heute an Russland grenzen, hat Moskau dabei übrigens ebenfalls kommentarlos fallengelassen.
Mitgliedschaft in der WTO und die soziale Krise
Der für Moskau so entscheidende Punkt einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO konnte kaum zu dessen Befriedigung geregelt werden. Russland ist seit dem Beitritt Chinas die größte Wirtschaft außerhalb der WTO. Bisher wird ein Beitritt Russlands von den USA verhindert, die es noch immer nicht als "Marktwirtschaft" anerkennen und vermittels der weiterhin gültigen Jackson-Vanik-Klausel von 1974 wesentliche Handelsbeschränkungen, insbesondere im Hightech-Bereich, aufrecht erhalten.
Die USA würden einer Aufnahme Russlands in die WTO nur bei einer kompletten Öffnung seines Marktes zustimmen. Davor schreckt der Kreml in Anbetracht des zu erwartenden Bankrotts breiter Teile der heimischen und international nicht konkurrenzfähigen Industrie, wie der Automobil- und Luftfahrtindustrie, aber noch zurück. Andererseits droht die weitere internationale wirtschaftliche Isolation die russische Wirtschaft immer weiter ins Hintertreffen geraten zu lassen.
Das ist tatsächlich die Hauptsorge der Wirtschaftsstrategen der russischen herrschenden Elite. Seit 1998 ist der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung kontinuierlich gesunken. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt fiel seit 1997 von 2600 auf 1700 Dollar. Die soziale Krise weitet sich aus, und die um sich greifende Ernüchterung über die großspurigen Versprechen Putins macht den Abgrund zur Bevölkerung immer bedrohlicher spürbar.
Da die einheimische Industrie nach einem zehnjährigen Niedergang völlig veraltet und bankrott ist, sind weite Teile der russischen Elite zu dem Schluss gelangt, dass sie sich auch wirtschaftlich in die Arme des Westens und seiner Konzerne werfen und den russischen Markt für sie öffnen sollten. Trotz unversöhnlicher Rhetorik, einem WTO-Beitritt nur bei Gewährung von Sonderbedingungen zuzustimmen, sind sie stillschweigend auf die harte Linie der USA eingeschwenkt. Als großer Erfolg wurde daher gefeiert, dass die USA am 14. Juni bekannt geben werden, ob Russland als Marktwirtschaft anerkannt wird. Ein WTO-Beitritt könnte dann im Herbst nächsten Jahres erfolgen. Auf US-Drängen haben die EU-Regierungen Russland bereits am 29. Mai als "Marktwirtschaft" anerkannt.
Die "historischen Ereignisse" der letzten Tage haben deutlich gemacht, dass alles andere als eine Periode "partnerschaftlicher Zusammenarbeit" bevorsteht. Die russischen herrschenden Kreise sehen zur Wahrung ihrer eigenen Klasseninteressen in einer von den USA und globalen Konzernen dominierten Welt für sich nur noch eine Rolle als Mittler und Helfershelfer bei der Ausbeutung ihres Landes und der umkämpften Region Zentralasiens. Zunehmend unter dem Druck der eigenen Bevölkerung, der es trotz der "Erfolge" des Putinschen Russland immer schlechter geht, erhoffen sie sich durch beinahe völlige Unterwerfung eine Lösung ihrer Krise. Ihren eigenen Bankrott eingestehend verwandeln sie Russland in kaum mehr als eine klassische Rohstoff-, Absatz- und Arbeitskräftekolonie, in der sie als Polizist fungieren.
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Putin verurteilt Irakkrieg als "Fehler"
Von Wladimir Wolkow 26. März 2003 aus dem Russischen (20. März 2003)
Wenige Stunden nachdem die ersten amerikanischen Bomben und Granaten auf dem Territorium des Irak einschlugen, trat der russische Präsident Wladimir Putin mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit. Er verurteilte den Beginn der amerikanischen Aggression als "großen politischen Fehler".
Putin zog weder die Ziele des Krieges in Zweifel, noch widerlegte er die falschen und konstruierten Argumente, die von der Bush-Regierung und den US-Medien als Grund für dieses blutige Abenteuer angeführt werden. Putin rief lediglich zur Respektierung der staatlichen Souveränität und zur Einhaltung des Völkerrechts auf und erklärte, dass nur der UN-Sicherheitsrat eine Entscheidung über den Irak treffen könne.
Putin knüpfte mit seiner Erklärung an die Haltung Russlands vor dem Azorengipfel an, auf dem die Regierungschefs der USA, Großbritanniens und Spaniens Saddam Hussein ihr "endgültiges" Ultimatum gestellt hatten, ohne die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates einzuholen. In dieser Zeit hatte sich Putin mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder solidarisiert, die das Vorgehen der USA kritisierten.
Auf den Ausgang des Azorengipfels reagierte Putin mit Erleichterung, weil er ihn von der Notwendigkeit befreite, bei einer Abstimmung im Sicherheitsrat auf "Konfrontationskurs" mit den USA zu gehen. Jetzt kann er sich, wie auch die Regierungschefs Deutschlands und Frankreichs, als Verteidiger der Grundlagen der Nachkriegsordnung gegen den amerikanischen Imperialismus ausgeben.
Im Laufe der letzten Monate bemühte sich die russische Diplomatie, die Kriegsvorbereitungen der USA zu bremsen, ohne jedoch die strategische Orientierung auf ein militärisch-politisches Bündnis mit den USA im Rahmen des "Kampfes gegen den Terrorismus" infrage zu stellen.
Innerhalb der herrschenden Elite Russlands hatte sich letztendlich ein gewisser Konsens herausgebildet, dass die USA in einem Krieg zwar nicht unterstützt, mit ihnen aber auch nicht zugunsten einer Allianz mit Europa gebrochen werden sollte. So erklärte Leonid Slutski, der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Fragen: "Wenn Russland auf ein antiamerikanisches Dreierbündnis mit Frankreich und Deutschland zusteuern würde,... würde dieser taktisch vorteilhafte Schritt zu einer strategischen Niederlage führen."
Die Begründung für diese Orientierung gab die Iswestija, die gegenwärtig das wichtigste regierungsfreundliche Sprachrohr Russlands ist. Am 13. März argumentierte die Zeitung in einem Artikel unter der Überschrift "Die Enthaltsamkeit des ehrlichen Vermittlers", die Achse Moskau-Berlin-Paris würde Russland nichts einbringen.
"Würde man uns bei den Verhandlungen mit der WTO oder in Fragen der Binnenpreise für russische Energieträger [von europäischer Seite] entgegenkommen?" fragte die Iswestija. "Würde der jesuitische Hohn gegenüber den Russen in den Konsulaten der europäischen Staaten aufhören... ? Würde sich Frankreich auf ein ‚partnerschaftliches Geschäft‘ auf dem Markt für Kernbrennstoffe einlassen?"
Der Preis für einen Streit mit den USA könnte "viel zu hoch sein", schreibt die Zeitung weiter: "Interessiert uns der amerikanische Stahlmarkt etwa nicht mehr? Benötigen wir nicht die Unterstützung der Weltbank...? Wollen wir nicht die arabischen Ölanbieter auf dem US-Markt verdrängen, im Gegenzug mit US-Investitionen in unserer Ölwirtschaft?"
Die Schlussfolgerungen der Iswestija lauten folgendermaßen: "All das bedeutet noch lange keine Unterstützung der Politik Bushs im Irak. Soll er nur seinen Fehler allein machen, wenn es ein Fehler ist: vor einer rasenden Dampflok zu stehen, selbst wenn sie sich auf einen Abgrund zu bewegt, ist zumindest kurzsichtig." Es sei notwendig, die "goldene Mitte" zu finden und "sich jeder Beteiligung an der großen Schlägerei mit ihren völlig unvorhersehbaren Folgen zu enthalten."
Diese passiv-pragmatische Position entspricht völlig der Rolle Russlands in der Weltwirtschaft als ein Rohstofflieferant, der von der Gewogenheit der wichtigsten Abnehmer abhängig ist.
Bis heute hat der Putin-Regierung das geschickte Manövrieren zwischen Europa und Amerika jedoch noch keine großen Vorteile eingebracht. Von beiden Seiten hat sie keine handfesten Garantien oder Zusagen erhalten. Das wird innerhalb des russischen Establishments mit ziemlicher Nervosität empfunden. Der Krieg könnte zu einem Absinken der Ölpreise führen, das die russischen Interessen empfindlich treffen würde.
Das "europäische Dilemma", das heißt, die Unmöglichkeit, sich mit dem Verlust von früheren Stellungen anzufreunden, und die gleichzeitige Unfähigkeit, Amerika offen entgegenzutreten, nimmt in Russland noch schärfere Formen an als in Europa und steigert die Nervosität. Daher erinnerte die russische Politik der letzten Wochen an den Zustand einer stillen Hysterie, die sich zwischen Gegensätzen bewegt - zwischen Angstanfällen und unbestimmten Hoffnungen.
Die Iswestija griff zu psychologischen Beruhigungstherapien, indem sie dazu aufrief, "nicht in Verzweiflung zu verfallen" und "nicht panisch zu werden". Nach dem Treffen auf den Azoren sei "für Russland nichts Schreckliches passiert".
In Russland gab es bisher im Unterschied zu Europa und Amerika keine Massenproteste gegen den Krieg, nicht weil die Bevölkerung für den Krieg wäre, sondern weil nicht eine politische Organisation, einschließlich der liberalen Demokraten (SPS oder Jabloko) und der nationalistisch-stalinistischen Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganows, die Motive der amerikanischen Aggression verurteilt hat.
Die russischen Nationalisten schlagen verschiedene Varianten vor, wie der Krieg für die Stärkung des russischen geopolitischen Einflusses ausgenutzt werden könnte. Der notorische ultrarechte Demagoge, Wladimir Schirinowski, erklärte bereits: "Wir sollten uns schlimmer [d. h. frecher] benehmen als die Amerikaner." Er rief dazu auf, dass Russland massiv Militär in den Nahen Osten verlagern, prorussische Regimes in Transkaukasien und Zentralasien errichten oder die baltischen Staaten wirtschaftlich erdrücken solle, um mit diesen und anderen Maßnahmen Russland wieder in den Rang einer Supermacht zu verhelfen. Schirinowski sagte: "Der Irak tut uns natürlich leid, aber die Irakkrieg ist eine Sternstunde für Russland."
So extravagant sich Schirinowski auch ausdrückt, spiegelt er doch bestimmte Stimmungen in Teilen der russischen herrschenden Elite wider.
Vor diesem Hintergrund versucht Putin nahezu als Friedensstifter zu erscheinen. Er verurteilte das Ultimatum des Azoren-Gipfels und begründete seine Haltung damit, dass über zwanzig Millionen Muslime in Russland leben. "Wir können deren Meinung nicht ignorieren", erklärte er, ohne zu beachten, dass es im Irak nicht um das Schicksal eines religiösen, sondern eines weltlichen Regimes geht.
Diese Worte sind eine heuchlerische und billige Ausrede. In den drei Jahren seiner Amtszeit hat Putin den Islam im Rahmen der offiziellen Kreml-Propaganda als Hauptfeind und im Grunde als Verkörperung des Terrorismus angesehen. Gerade die kaukasischen Völker, die nach 1991 unter den Einfluss des Islam gerieten, wurden zur Zielscheibe einer wütenden chauvinistischen Hetzkampagne, die nach dem Moskauer Geiseldrama vom Herbst vergangenen Jahres verstärkt auflebte.
Putin selbst ist nicht bereit, die Bürger- und demokratischen Rechte der Bevölkerung und insbesondere der religiösen und nationalen Minderheiten Russlands zu respektieren. Besonders deutlich wurde das an dem Referendum, das an diesem Wochenende in Tschetschenien stattfand. Es war eine Polizeifarce, vor den Mündungen der Gewehrläufe der russischen Armee sollten die jetzigen Machtstrukturen legitimiert werden.
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Der nationalistische Reflex
Junge Welt und konkret begeistern sich für Putin
Von Peter Schwarz 30. September 2000
Der Untergang des russischen Atom-U-Boots "Kursk" im August wurde in der russischen und internationalen Öffentlichkeit mit großer Betroffenheit verfolgt. Das Ereignis traf einen Nerv, der tiefer lag, als dies die Anteilnahme für das tragische Schicksal der 118 Besatzungsmitglieder und ihrer Angehörigen allein hätte vermuten lassen. In gewissem Sinne befand sich, wie wir damals schrieben, "die gesamte Bevölkerung Russlands in einer ähnlichen Lage wie die U-Bootbesatzung: sie leidet, sucht einen Ausweg aus der Sackgasse und hofft auf Hilfe."
Dem internationalen Publikum führte die Katastrophe das Ausmaß des Niedergangs vor Augen, den Russland seit der Auflösung der Sowjetunion durchgemacht hat. Präsident Wladimir Putin stand plötzlich ohne Kleider da. Die Mischung von Gleichgültigkeit, Inkompetenz und Arroganz, mit der der Kreml auf die Katastrophe reagierte, erinnerte an die schlimmsten Zeiten der Stagnation unter Breschnew und Tschernenko. Die tiefe Kluft zwischen Regime und Bevölkerung, die hier sichtbar wurde, blieb auch der internationalen Presse nicht verborgen, die Putin wegen seines unsensiblen Verhaltens teilweise scharf kritisierte.
Unter diesen Umständen hat der russische Präsident von scheinbar unerwarteter Seite Schützenhilfe bekommen. Zwei deutsche Zeitungen, die sich selbst zum linken Spektrum zählen, haben sich für ihn in die Bresche geworfen.
Die junge Welt sieht in der Berichterstattung der westlichen Medien über die "Kursk"-Havarie den Versuch, "alte Feindbilder zu bedienen". Der neue Mann im Kreml, kommentiert Rainer Rupp am 23. August, habe der NATO die Zähne gezeigt. "Da er nicht bereit ist, das russische Erbe für eine westliche Erbsensuppe an den aggressiven Neoliberalismus zu verkaufen, ändert sich inzwischen der Ton der ‚freiheitlichen‘ Weltpresse." Das U-Boot-Unglück eigne sich trefflich, "altgewohnten anti-russischen Reflexen freien Lauf zu lassen".
Noch deutlicher - und mit größerer Distanz zu den Ereignissen - äußert sich Ralf Schröder in der Oktoberausgabe der Zeitschrift konkret. Schröder sieht in Putin einen "erklärten russischen Patrioten", der angetreten sei, "Russlands Größe wiederherzustellen und das gesetzlose Kartell [gemeint sind Jelzin und die Oligarchen] aus dem Kreml zu vertreiben". Das habe "die einfachen Russen begeistert" und "mit neuem Nationalstolz erfüllt". Die "Putin-Skeptiker innerhalb und außerhalb Russlands" habe dagegen "die Furcht geeint, der russische Staat werde sich auf seinen letzten, eigentlich weithin akzeptierten Daseinsgrund besinnen und - im Gegensatz zur Jelzin-Ära - von nun an nationale Interessen vertreten".
In diesem Ton geht es weiter. Putin habe vor, "sein Land aus dem halbkolonialen Status zu befreien, den die Politik Jelzins herbeigeführt hat," erklärt Schröder, und: "Da Putin gleich nach seinem Amtsantritt recht energisch und unter dem Beifall seiner Untertanen an eine Reorganisation der staatlichen Souveränität nach innen und außen ging und zudem ankündigte, künftig möglichst auf West- und IWF-Kredite zu verzichten, kam die informelle Allianz zwischen der russischen Mafia und dem deutschen Journalismus beinahe zwangsläufig zustande."
Faktisch betrachtet ist diese Darstellung absurd. Die Behauptung, Putin sei ein Gegner westlicher Wirtschafts- und russischer Oligarcheninteressen, entspringt nicht dem Boden der Tatsachen, sondern politischem Wunschdenken. Sie sieht einfach darüber hinweg, dass der völlig unbekannte Geheimdienstler als handverlesener Kandidat seines Vorgängers Jelzin ins höchste Staatsamt aufstieg und seinen Wahlerfolg der propagandistischen und finanziellen Unterstützung der Oligarchen verdankte. Insbesondere Boris Beresowski, der Finanzier der Jelzin-Familie, hatte den gesamten, von ihm kontrollierten Medienapparat für Putin eingesetzt.
Dass sich Putin inzwischen mit Beresowski überworfen hat, macht ihn noch lange nicht zum Gegner der Oligarchen. Wer das behauptet, verwechselt den Machtkampf innerhalb einer Clique mit dem Kampf gegen diese Clique. Putin hat den Oligarchen umfangreiche Garantien gegeben, dass ihr Besitz nicht angetastet wird. Er verwahrt sich lediglich gegen eine übermäßige Einflussnahme auf die Angelegenheiten des Staates, ein Anliegen, das auch von internationalen Finanzkreisen geteilt wird, die in dem Geflecht von Korruption, Einflussnahme und Abhängigkeiten ein Investitionshindernis sehen.
Was Putins Beziehung zum IWF, zur Weltbank und zum internationalen Finanzkapital ganz allgemein betrifft, so hat er nie die geringsten Zweifel aufkommen lassen, dass er zur engsten Zusammenarbeit bereit ist und die kapitalistischen "Reformen" der Jelzin-Ära fortsetzen wird. Auch hier erweist sich die Darstellung von Junge Welt und konkret als reines Hirngespinst.
Interessanter als diese offensichtliche Fehlinterpretation der Wirklichkeit ist der unverblümt nationalistische Ton, der beide Artikel durchzieht. Seit wann verteidigen Linke oder Sozialisten das Eintreten für nationale Interessen als "Daseinsgrund des Staates", wie dies Ralf Schröder in konkret tut? Und das ausgerechnet in Russland?
Historisch betrachtet hat der Nationalismus in Russland stets eine reaktionäre Rolle gespielt. In Westeuropa war die nationale Idee in der Epoche der bürgerlichen Revolution entstanden. Sie war progressiv, solange sie sich gegen den feudalen Partikularismus wandte. Mit der Festigung der bürgerlichen Herrschaft wurde sie zunehmend reaktionär und nahm schließlich einen offen imperialistischen Charakter an. In Russland dagegen entwickelte sich die Bourgeoisie mit großer historischer Verspätung und spielte nie eine fortschrittliche Rolle.
Die Ereignisse des Jahres 1917 bewiesen ihre Unfähigkeit, die demokratischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu lösen. Durch die Februarrevolution an die Macht getragen, hatte sie keine Antwort auf die brennenden Fragen der Zeit: die Agrarfrage, die Kriegsfrage und die nationale Frage, die sich in Russland nicht in Form der Vereinigung von Kleinstaaten zu einem Nationalstaat, sondern der Gewährung demokratischer Rechte an die unterdrückten Nationalitäten im zaristischen Völkergefängnis stellte.
Der Erfolg der Bolschewiki im Oktober war letztlich darin begründet, dass nur sie eine Antwort auf diese Fragen hatten. Aber dazu mussten sie sich auf eine internationale, und nicht auf eine nationale Perspektive stützen. Die Oktoberrevolution konnte auf lange Sicht nur bestehen, wenn sie Unterstützung in der sozialistischen Weltrevolution fand. Erst unter Stalin wurde die Oktoberrevolution zunehmend als nationales Ereignis interpretiert. Aber damit begann auch ihr Niedergang, der 1990 in der Restauration des Kapitalismus durch Stalins Erben gipfelte.
Die nationalistischen Klischees, derer sich Putins Propagandaapparat heute bedient, stammen nicht aus der Tradition des bürgerlichen Freiheitskampfes, die es in Russland nie gab, sondern aus der Rumpelkammer des großrussischen Chauvinismus, der im Zarenreich die ideologische Atmosphäre verpestete und unter Stalin wieder belebt wurde. Er lässt sich leicht an seinem unappetitlichen Äußeren erkennen: der Wiedergeburt der orthodoxen Kirche, dem Aufleben von Antisemitismus und dem Aufflammen von rassistischen Vorurteilen gegen nationale Minderheiten, die während des Tschetschenienkriegs hysterische Ausmaße annahmen.
Putins Nationalismus dient dazu, die Herrschaft einer halbkriminellen, parasitären Clique zu sichern, die ihren Aufstieg zu Macht und Reichtum der Zerstörung der Errungenschaften der Oktoberrevolution verdankt. Seine Stoßrichtung ist nicht demokratisch, sondern zielt auf die Errichtung eines diktatorischen Regimes. Die heutigen Kremlherrscher sind die lebendige Verkörperung der Tatsache, dass es in Russland heute weniger als je zuvor eine stabile Grundlage für die bürgerliche Demokratie gibt. Im Vergleich zu ihnen nimmt sich das 1917 gestürzte Kerenski-Regime geradezu jugendlich frisch aus.
Putins gelegentliches Säbelrasseln gegen die NATO macht ihn nicht zum Antiimperialisten, wie konkret mit dem Hinweis auf den "halbkolonialen Status" Russlands impliziert. Es steht außer Zweifel, dass die Nato die einstige Supermacht systematisch in die Enge treibt. Der Krieg auf dem Balkan, das Vordringen der Westmächte in den kaukasischen und kaspischen Raum und die amerikanischen Pläne zum Aufbau eines Antiraketensystems (NMD) zielen in diese Richtung. Aber wer daraus den Schluss zieht, Putins Nationalismus verteidige die Interessen des russischen Volkes, übersieht den unüberbrückbaren Klassengegensatz zwischen der herrschenden Kremlclique und der Masse der Bevölkerung.
Ungeachtet seiner nationalistischen Rhetorik dient das Regime von Putin dem internationalen Kapital als Einfallstor in die ehemalige Sowjetunion. Wenn es gelegentlich mit den Westmächten aneinander gerät, so zeigt dies nur, dass es trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche auch eigene imperialistische Ambitionen verfolgt. Es kann aber nicht die Aufgabe von Sozialisten sein, eine schwächere imperialistische Mächte gegen die stärkere zu unterstützen. Der anhaltende wirtschaftliche Niedergang ändert nichts am reaktionären Charakter des russischen Imperialismus. Im Gegenteil, die Verbindung von gesellschaftlichem Zerfall und noch vorhandener atomarer Schlagkraft ergibt ein explosives Gemisch, dessen Detonation katastrophale Folgen für die gesamte Menschheit hätte. Unter Umständen, unter denen auch die USA und die europäischen Mächte bei der Durchsetzung ihrer globalen Interessen immer offener auf die militärische Karte setzen, kann eine solche tragische Entwicklung nicht mehr ausgeschlossen werden.
Die einzig mögliche Antwort auf diese Gefahr liegt im internationalen Zusammenschluss der Arbeiterklasse im Kampf gegen das global organisierte Kapital und seine nationalen Repräsentanten. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist die Zurückweisung jeder Form von Chauvinismus und Nationalismus, ganz gleich ob er sich ins Sternenbanner, schwarz-rot-goldene oder blau-rot-weiße Farben hüllt.
Die schamlose Verherrlichung des russischen Nationalismus durch konkret und junge Welt kennzeichnet einen scharfen Rechtsruck dieser Blätter.
Bei der jungen Welt verwundert dies nicht weiter. Das einstige Zentralorgan des DDR-Jugendverbands FDJ hat zwar nach der Wende eine gewisse politische Öffnung vollzogen, aber nie grundlegend mit den ideologischen Voraussetzungen des Stalinismus gebrochen. Wie wir gesehen haben, deutete dieser die Oktoberrevolution als nationales, russisches Ereignis. Unter der Verteidigung der Sowjetunion verstand er dementsprechend die Unterordnung unter die nationalen Interessen der herrschenden Bürokratie, und nicht das Eintreten für eine internationale sozialistische Perspektive.
Der Autor des zitierten Artikels, Rainer Rupp, hat selbst jahrelang für die Sowjetunion das Hauptquartier der NATO ausspioniert, bevor er nach Verbüßung einer längeren Haftstrafe in die Redaktion der jungen Welt eintrat. Der jungen Welt fällt es daher leicht, ihre Loyalität zur Sowjetunion ungeachtet der veränderten sozialen Grundlagen einfach auf das heutige Russland zu übertragen. Schließlich hat auch die Nachfolgerin der KPdSU unter Sjuganow Gefallen an Putins Nationalismus gefunden. Hier kommt einfach der antrainierte nationalistische Reflex zum tragen.
Etwas komplizierter verhält es sich bei konkret. Auch diese Zeitschrift ist im Dunstkreis des Stalinismus entstanden. Unter der Leitung von Klaus Rainer Röhl und Ulrike Meinhof, der späteren RAF-Gründerin, diente sie in den fünfziger Jahren als offiziöses Organ der verbotenen KPD. Mitte der sechziger Jahre löste sie sich aus der stalinistischen Vormundschaft und diente verschiedenen Strömungen der 68-er Bewegung als Sprachrohr.
Im Gegensatz zu anderen Presseorganen, die aus dieser Bewegung hervorgegangen sind, wie etwa der taz, behielt sie auch nach dem Aufstieg der Grünen zur Regierungspartei ihre kritische Distanz zur offiziellen deutschen Politik bei. So stellte sie sich vehement gegen das Eingreifen der Nato im Kosovo, und Herausgeber Hermann L. Gremliza bekennt sich bis heute mit Stolz dazu, dass er vor zehn Jahren das vereinigte Deutschland als "Viertes Reich" bezeichnet hatte.
Auffallend an konkret ist der zynische Unterton, der die meisten Artikel kennzeichnet. Sie sind auf den Ton des beleidigten intellektuellen Snobs gestimmt, der über die bestehenden Zustände grollt und schimpft, ohne einen Ausweg zu sehen.
Dem liegt eine subjektive Weltanschauung zugrunde, wie sie für viele Radikale typisch ist: Politik besteht aus einer Kette von Verschwörungen. Die Medien sind Mittel der Meinungsmanipulation und sonst nichts. Wenn die bürgerliche Presse Weiß sagt, müssen wir Schwarz sagen und umgekehrt. Wenn die deutsche Presse Putin angreift, müssen wir ihn verteidigen. Dieses simple Schema zieht sich wie ein roter Faden durch Ralf Schröders Artikel. Dass es daneben auch noch eine objektive Welt gibt, die auch die bürgerlichen Medien nicht völlig ignorieren können, übersehen die Autoren von konkret.
Vor allem wollen sie nicht wahrhaben, dass es neben der offiziellen Politik auch noch die Masse der Bevölkerung gibt, deren Bestrebungen und Bedürfnisse aufgrund der Degeneration der offiziellen Arbeiterbewegung zwar keinen politisch artikulierten Ausdruck finden, aber dennoch immens progressive Tendenzen beinhalten. Für konkret existiert die Bevölkerung nur als dumpfe Masse, die sich nach Belieben manipulieren lässt.
Besonders deutlich zeigt das ein weiterer Artikel zur "Kursk"-Havarie, der in derselben Ausgabe von konkret erschienen ist. Der Autor, Florian Sendtner, macht sich über die Anteilnahme lustig, mit der die U-Boot-Katastrophe in Deutschland verfolgt wurde. Er sieht darin lediglich eine Mischung von Kriegsnostalgie und Medienmanipulation. Das hinter dem Mitgefühl für die verzweifelte Lage der jungen, oft kaum zwanzigjährigen Matrosen auch ein Element tiefempfundener internationaler Solidarität stecken könnte, zieht er gar nicht in Erwägung.
Der Artikel gipfelt in einem Vergleich mit dem Concorde-Absturz in Paris und der rhetorischen Frage: "Wie kommt es, dass den deutschen Medien das Nordmeer näher ist als Paris? Dass ihnen 118 Iwans wichtiger sind als 114 unschuldige Flugzeuginsassen, von denen die allermeisten Deutsche waren? Wie kommt der deutsche Mensch ins russische U-Boot?" Das soll ironisch klingen, ist aber nur zynisch. Der rassistische Unterton lässt sich nicht überhören. Deutlicher kann man Arroganz und Feindschaft gegenüber den Massen nicht ausdrücken.
Diese Haltung treibt konkret und junge Welt ins Lager des Nationalismus, und zwar nicht nur des russischen. Wenn der "weithin akzeptierte Daseinsgrund" des russischen Staates darin besteht, nationale Interessen zu vertreten, wie Ralf Schröder in konkret schreibt, warum dann nicht auch der Daseinsgrund des deutschen Staates? Dieser Logik lässt sich kaum entrinnen. Insbesondere dann nicht, wenn sich die Spannungen zwischen Deutschland und den militärisch überlegenen USA weiter verschärfen.
Letztlich reagieren konkret und junge Welt mit ihrer Begeisterung für den Nationalismus auf Spannungen und Veränderungen im Unterbau der Gesellschaft. Es wäre nicht das erste Mal, dass linke Intellektuelle am Vorabend großer Klassenkämpfe ins gegnerische Lager überwechseln.
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Der Brand des Moskauer Fernsehturms
Von Patrick Richter 29. August 2000
Am Sonntag Nachmittag versammelten sich immer mehr Moskauer in der Nähe des Fernsehturms, um ungläubig das Ende eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt und eines der technischen Wunder der Nachkriegperiode zu verfolgen. Der Turm war in Brand geraten und die stabilisierenden Tragseile in seinem Inneren schmolzen eines nach dem anderen in der Hitze des Feuers dahin.
Nach dem Ausbruch des Brandes um 15.08 Uhr Moskauer Zeit fiel die Übertragung der wichtigsten nationalen Fernseh- und Radioprogramme und einiger kleinerer Sender im europäischen Teil Russlands vollständig aus. Als der Brand knapp 24 Stunden später endlich gelöscht war, sah die Bilanz verheerend aus: Mehr als die Hälfte der technischen Anlagen des Fernsehturms waren zerstört und im gesamten, vom Feuer erfassten Bereich war alles ausgebrannt, was brennbar war. Nur der Teil unterhalb der Höhenmarke von 60 Metern war infolge der Errichtung einer Schaumbarriere durch die Feuerwehr weitestgehend unbeschädigt geblieben. Alle Fahrstühle waren ausgefallen und nach Reißen der Stahlseile in die Tiefe gestürzt.
Jüngsten Angaben zufolge kamen bei dem Brand vier Menschen ums Leben: Drei Feuerwehrleute und eine Fahrstuhlführerin, die zunächst im Brandherd feststeckten und erstickten und danach in die Tiefe stürzten. Die Besucher des Fernsehturms wurden rechtzeitig evakuiert, so dass eine Tragödie größeren Ausmaßes verhindert werden konnte.
Als wahrscheinliche Ursache für den Brand wird ein Kurzschluss in einer Höhe von 460 Metern angenommen.
Ein hochrangiger Offizier der Feuerwehr erläuterte gegenüber der Presse, dass der Kurzschluss Folge einer ständigen Überlastung der elektronischen Anlagen gewesen sein könne. Die Kapazitäten des 33jährigen Fernsehturms seien schon Anfang der 90er Jahre erschöpft gewesen. Trotzdem wurden weitere Anlagen installiert, was zu einer Überlastung des Turms durch technische Installationen um 30 Prozent geführt habe. Insbesondere die Installation von Übertragungsanlagen für Pager-Systeme, so der Offizier weiter, hätte zu einer Überlastung und somit stillschweigend zur Verletzung der Brandschutzregeln geführt. Schon seit Jahren sei das von der Feuerwehr angemahnt worden. Der Fernsehturm übertrug außerdem elf Fernseh- und zwölf Radioprogramme.
Die russische Fernseh- und Kommunikationsindustrie, die von den sogenannten Oligarchen kontrolliert wird und die sich buchstäblich um den Fernsehturm herum etabliert hat, hat in den vergangenen Jahren fantastische Profite erzielt. Die bedenkenlose Installation der äußerst lukrativen Pagersysteme, die wahrscheinlich zu der Überlastung geführt hat, ist dabei charakteristisch für die Durchsetzung des Kapitalismus im ganzen Land. Ohne eine grundlegende Erneuerung der maroden Infrastruktur wurden in kürzester Zeit die Bedingungen zur rigorosen Bereicherung der neuen Oberschicht geschaffen - ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen.
Nun sollen allein durch den fast zweitägigen Ausfall des Fernsehturms schon Verluste von mehreren Millionen Dollar angefallen sein.
Die Neigung des Turms und seine Instabilität infolge des Reißens von mehr als der Hälfte der 149 Trageseile, die Bestandteil der besonderen Konstruktion des Turms sind, lösten am Montagabend heftige Debatten aus, ob der Turm stehen bleibt. Aus Sicherheitsgründen wurde das Gelände schon während der Löscharbeiten im Umkreis von 700 Metern geräumt. Bisher soll die Neigung an der Spitze des Turms zwei Meter vom Normalstand betragen.
Experten, der Firma "Spezialstahlbetonbau", die den Fernsehturm seinerzeit errichtet hatte, gehen davon aus, dass die 100 m lange Spitze demontiert werden muss, um den Turm als Ganzen zu retten. Das wäre allerdings nur mittels einer gefährlichen Hubschrauberaktion möglich. Andere Experten sprechen sogar von einem gänzlichen Abriss des Gebäudes. Für die kurzfristige Sicherung des Turms sei jetzt wichtig, dass in den nächsten, kritischen Tagen kein stürmisches Wetter aufkommt und die üblichen Herbststürme nicht zu stark ausfallen.
Experten fürchten auch, dass das Abkühlen des Turms zur Folge haben könnte, dass sich die Konstruktion ernsthaft verformt und Metallteile herausbrechen und abstürzen.
Panne über Panne
Der Brand im Moskauer Fernsehturm "Ostankino" ist ein weiteres Glied in einer Kette von Unglücksfällen, die deutlich machen, in welch katastrophale Lage Russland geraten ist, seit vor zehn Jahren die Politik "kapitalistischer Reformen" eingeleitet wurde. Die Bevölkerung Russlands muss zunehmend damit rechnen, Opfer einer technischen Katastrophe zu werden. Zu lange sind Investitionen ausgeblieben, um notwendige Instandhaltungen an fast allen wichtigen technischen Einrichtungen und Anlagen des Landes durchzuführen, die das tägliche Leben von Millionen berühren.
Welcher Russlandbesucher kennt nicht das übliche Straßenbild in den Städten des Landes, wo Busfahrer des öffentlichen Nahverkehrs unter ihren Fahrzeugen liegen, um sie für die Weiterfahrt zu reparieren, oder im kalten russischen Winter Dampf von den Straßen aufsteigt oder das Gras in vollem Saft steht, weil die darunter liegenden Wärmeversorgungsrohre undicht sind. Diese Situation notdürftiger, flickwerkartiger Reparaturen und Improvisationen prägt das Leben des gesamten Landes. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste, noch folgenreichere Katastrophe hereinbricht.
Was sich bei der gescheiterten Rettung der Besatzung der "Kursk" im Nichtvorhandensein von Tauchern, die in der Lage sind, 100 Meter tief zu tauchen, gezeigt hat, wurde nun wieder beim Löschen eines Feuers 300 Meter über den Dächern Moskaus deutlich.
Zuerst versagten die eingebauten Feuerlöschanlagen und dann stellte sich heraus, dass für diesen speziellen Fall weder Technik noch ausgebildete Feuerwehrleute zur Verfügung stehen. Der benötigte Löschschaum fehlte völlig. Handlöschgeräte mussten aus der ganzen Stadt zusammengetragen werden. Die Schläuche der städtischen Feuerwehr reichen nur 120 Meter in die Höhe, so dass das gewohnte Improvisieren begann, das letztendlich zum Ausbrennen des größten Teils des Fernsehturms führte.
Zunächst ging die Feuerwehr mit Sand und Kohlendioxid vor, ohne verhindern zu können, dass das Feuer weiter nach unten gelangte. Vom Ausbruch des Feuers bis zum Einbruch der Nacht beschäftigte sie sich Agenturmeldungen zufolge lediglich mit der Befreiung der im Fahrstuhl Festsitzenden. Erst in der Nacht sei sie dazu übergegangen, die Kabel zu kappen, an denen entlang sich das Feuer nach unten entwickelte, anstatt diese relativ einfache Maßnahme gleich zu Beginn zu treffen.
Diese Verzögerung soll dazu geführt haben, dass sich das Feuer in hoher Geschwindigkeit weiter nach unten vorfraß, und somit die Kabel erst in einer Höhe von 64 Metern gekappt und der Kabelschacht mit Sand, Beton und Asbest gefüllt werden konnte. In dem Kabelschacht befinden sich die Kabel für die Rundfunkübertragungen sowie für die Speisungen der übrigen technischen Anlagen des Fernsehturms.
Innenminister Wladimir Ruschailo, der Minister für Außergewöhnliche Angelegenheiten Sergej Schoigu und Medienminister Wladimir Lessin besichtigten um 3 Uhr nachts per Hubschrauber den Unglücksort und gingen wortlos an den Journalisten vorüber. Das Feuer fraß sich immer weiter vor, und gelbe Flammen zeigten sich für jeden sichtbar auf der Aussichtsplattform, unterhalb der sich das berühmte Drehrestaurant "Im Siebenten Himmel" befindet.
Um 5.50 Uhr ereignete sich in einer Höhe von 147 Metern eine Explosion, nach der schwarzer Rauch austrat. Der Brandherd hatte sich in den frühen Morgenstunden auf eine Höhe von 120 bis 130 Meter hinuntergefressen. Gegen 8.00 Uhr musste der Brand schon auf einer Höhe von 101 bis 105 Metern bekämpft werden. Um 10.00 Uhr reichte der Brand auf eine Höhe von 66 Metern hinab, wo er nicht weiter nach unten vordringen konnte, weil sich dort die von der Feuerwehr errichtete Schaumbarriere befand.
Bis dahin sahen Feuerwehrleute und die hinzugeströmte Menge völlig gelähmt und hilflos mit an, wie sich die Rauchwolken verstärkten und aus immer weiter unten liegenden Teilen des Turms hervordrangen. Überall ertönten Verzweiflungsrufe: "Das Feuer ist nicht aufzuhalten, das Feuer ist nicht aufzuhalten!"
Ein Symbol sowjetischer Ingenieurskunst
Mit seiner Höhe von 537 Metern ist der Moskauer Fernsehturm das größte Gebäude Europas und nach dem 553 Meter hohen CN-Tower im kanadischen Toronto, der neun Jahre später eingeweiht wurde, das zweithöchste Gebäude der Welt. Er wurde am 5. November 1967 zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fertiggestellt und gilt bis heute wegen seiner für damalige Verhältnisse einzigartigen und revolutionären Stahlbetonkonstruktion als eines der symbolträchtigsten Gebäude Russlands und der Welt. In der Reihe der Sehenswürdigkeiten Moskaus wird er nach dem Kreml von den meisten Touristen an zweiter Stelle genannt und zog bis jetzt jährlich mehr als 200.000 Besucher an.
Die Konstruktion des 55.000 Tonnen schweren Giganten stammt von dem genialen Architekten Nikolaj Wassiljewitsch Nikitin (1907-1973). Sie stellte damals eine wichtige bautechnische Neuerung dar und gab dem Ansehen der Sowjetunion im Nachkriegskräftemessen mit den USA einen wesentlichen Impuls. Es gelang Nikitin, mithilfe von gespannten Stahlseilen im Inneren der Turmummantelung einen äußerst dünnen und extrem hohen Turm zu errichten, der dabei nur ein vergleichsweise kleines Fundament benötigte. Mithilfe der Spannung der Stahlseile konnte beim Bau des Turms die Schwankung an der Spitze von 3 Metern auf die Hälfte reduziert werden.
Diese Technik rückte die Errichtung von Gebäuden von über einem Kilometer Höhe in den Bereich des technisch Machbaren. Es gab darüber sogar Verhandlungen mit Japan, die jedoch wegen der hohen Kosten für ein solches Gebäude scheiterten.
In den Arbeiten des Architekten Nikitin sind das Streben und die Träume einer ganzen Generation von Technikern, Ingeneuren und Konstrukteuren verkörpert. Nikitin ist nicht nur berühmt für den Bau des Fernsehturms, sondern auch für den Bau des 1953 fertiggestellten neuen Hauptgebäudes der Moskauer Lomonossow-Universität und des "Mutter-Heimat"-Denkmals in Wolgograd, das der Entscheidungsschlacht von Stalingrad gegen die faschistischen Truppen gedenkt.
Beim Bau des 242 Meter hohen Gebäudes der Universität löste Nikitin das Problem des Fundamentes ebenfalls auf revolutionäre Weise. Das die gesamte Stadt überragende, gigantische Gebäude wurde auf Wunsch von Stalin auf einem der Hügel im Südwesten Moskaus errichtet. Der Untergrund war weich und hätte demzufolge ein enorm tiefgehendes und teures Fundament notwendig gemacht. Nikitin entwickelte ein Fundament, das einem umgekehrten Schuhkarton ähnelt und somit verhindert, dass das Gebäude durch Verdrängung des Untergrundes in die Erde sinkt.
Sein Schulkamerad, der bekannte Konstrukteur Sergej Pawlowitsch Koroljow (1907-1966), nach dem eine der an den Fernsehturm angrenzenden Hauptstraßen benannt ist, steht für die Entwicklung der meisten sowjetischen Raumfahrzeuge - wie Wostok, Woschod, die den Flug Juri Gagarins und die folgenden Expeditionen ins All ermöglichten - sowie für die Weiterentwicklung der Raketentechnik. Er baute die Raketen, die die ersten Satelliten in den Kosmos schossen, sowie die bis heute in Anwendung befindlichen Interkontinentalraketen.
Angesichts der Symbolträchtigkeit des Feuers auf dem Fernsehturm fühlt man sich unwillkürlich an den Leuchtturm von Alexandria - eines der sieben Weltwunder - erinnert. Er wurde 279 v. u. Z. etwa 50 Jahre nach der größten Ausdehnung des Hellenismus unter Alexander dem Großen erbaut und erreichte die bis dahin nur von den ägyptischen Pyramiden übertroffene phantastische Höhe von 134 Metern. Er überstand die dunkelsten Perioden des Mittelalters und stürzte erst 1326, also fast 1.600 Jahre später, während eines Erdbebens ins Meer.
Die russische Version des heutigen Kapitalismus bedarf dagegen keiner solcher Naturkatastrophen, um die Symbole geschichtlicher Höhepunkte auszulöschen. Sie schafft das innerhalb kürzester Zeit aus eigener Kraft. Für den zweithöchsten Fernsehturm der Welt brauchte sie jedenfalls nur zehn Jahre.
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